Die südlichste Mathe-Klausur Europas
Als Herr Prof. Dr. Fütterer, der Fahrtleiter unseres Fahrtabschnittes auf der „Polarstern“, uns heute Morgen im Briefing darauf aufmerksam machte, dass wir in genau einer Woche wieder in Punta Arenas an Land gehen werden, wären wir beinahe vom Stuhl gefallen. Es war für jeden von uns klar gewesen, dass der Moment kommen würde, in dem wir uns damit abfinden müssen, die „Polarstern“ wieder zu verlassen. Doch dass diese Situation derart schnell eintreten würde, überraschte uns sehr. Uns kommt es noch immer so vor, als wären wir erst letzte Woche schwer bepackt die Gangway hinaufgestolpert und hätten aufgeregt unsere Kabinen aufgesucht. Doch Prof. Dr. Fütterer belehrte uns eines Besseren. Seit Beginn der Expedition am 23. Januar, wurden eine Menge Fische gefangen, der Kastengreifer etliche Male ins Wasser gelassen und diverse andere wissenschaftliche Geräte eingesetzt. Man bemerkt, dass die Stimmung an Bord der „Polarstern“ langsam entspannter wird, da eigentlich alle Forscher mit ihrer Ausbeute zufrieden sind.
Da hilft nichts: die Mathe-Klausur muss geschrieben werden
Einige Forschergruppen arbeiten noch einen Vortrag für das morgendliche Briefing aus, in dem sie vorläufige Ergebnisse ihrer Untersuchungen präsentieren. Des weiteren weist Prof. Dr.
Fütterer darauf hin, dass alle Geräte und Proben, die von Bord gehen, ordnungsgemäß eingepackt und die Daten in die entsprechenden Formulare eingetragen werden müssen. Sollte sich jedoch unbeschriftetes Material zum Beispiel im Gefriercontainer befinden, wird dieses nach Ende des Fahrtabschnittes entsorgt.
Außerdem lässt der Wäschemax darauf hinweisen, dass er lediglich noch bis zum 24. Februar um zwölf Uhr mittags dreckige Wäsche annehmen kann, wenn diese zwei Tage später frisch gewaschen und gebügelt im Reisegepäck verstaut werden soll.
Nach dem Briefing haben wir uns mit Frau Scherf und Herrn Stacke getroffen, um diese letzte Woche an Bord des Eisbrechers zu besprechen. Für die Schule müssen noch weitere Tintenfischschnäbel präpariert und Gelbbarsche gesammelt und eingelegt werden. Anschließend kam eine für uns vier weniger erfreuliche Nachricht. Zunächst hieß es, dass wir heute Abend den südlichsten Punkt unserer Fahrt erreichen würden. Was sich zunächst als nette Tatsache anhört, bedeutet für uns Auricher Schüler jedoch, dass wir dort eine Matheklausur schreiben werden. Das wird die südlichste Mathearbeit Europas werden. Während wir dann – so dachten wir – aus den Bullaugen „Deception Island" sehen werden, müssen wir uns neunzig Minuten lang mit Kurvendiskussionen und analytischer Geometrie beschäftigen.
Doch es sollte nicht nur die südlichste Mathearbeit, sondern von der Zeit her auch die außergewöhnlichste ihrer Art werden. Denn wegen der „Fischköpfe" an Bord verzögerte sich die Planung etwas, sodass der für uns so wichtige südlichste Punkt sich in den frühen Morgen (ein Uhr nachts) verschob. Aber da wir ja am südlichsten Punkt unserer Reise die Arbeit schreiben wollten, mussten wir wohl oder übel in den sauren Apfel beißen. Wir gingen früh ins Bett, um eine Ladung Schlaf abzubekommen, und saßen dann pünktlich um ein Uhr nachts im Blauen Salon der „Polarstern“, und unsere Köpfe rauchten bei dem Anblick der Funktionsgleichungen und Zahlen. Wir werden für unseren ungewöhnlichen Einsatz nun eine Urkunde bekommen, die uns bestätigt, dass wir an einem Ort – südlich des 63. Breitengrades eine Mathematikklausur geschrieben haben.
Den Tag über hat man uns übrigens lediglich mit unseren Mathebüchern angetroffen. Denn die letzte Woche möchte sich keiner von uns über eine schlechte Zensur ärgern müssen, sondern die Rückfahrt von den antarktischen Gewässern nach Punta Arenas in vollen Zügen genießen.
So bleibt zu hoffen, dass die Klausur für uns alle besser ausfallen wird, als es der Ort, an dem wir sie schreiben – „Deception Island“ – es verspricht.
Die südlichste Mathe-Klausur Europas II
Es ist halb drei am Morgen und aus irgendeinem unerfindlichen Grund sitze ich an dem runden Versammlungstisch im Blauen Salon auf dem B-Deck der Polarsstern. Mir gegenüber sitzen Fadi, Katharina und Markus und ich frage mich, ob ihnen diese Szene auch so surreal vorkommt. Schließlich haben wir den voraussichtlich südlichsten Punkt unserer Reise erreicht: 63°08' Süd – nur knapp 3 Grad weiter südlich war Erich Dagobert von Drygalski, der Leiter der deutschen Gauss-Expedition im Eis festgefroren. Ich hoffe inständig, dass uns nicht ähnliches wiederfahren wird in den kommenden Stunden: ein Steckenbleiben und Einfrieren auf dem mir manchmal rätselhaften Feld der Mathematik.
Uns wird ein Papier in die Hand gedrückt. „Südlichste Mathematikklausur Europas" ist darauf zu lesen. Darunter die Aufgaben: Die erste Aufgabe sieht noch ziemlich ungefährlich aus, normale Vektorgleichungen wie man sie auch auf einem der grünen Tische am Gymnasium in Aurich vor sich liegen haben könnte. Die folgende Textaufgabe geht schon eher auf unseren Aufenthaltsort ein: Es soll mit dem Agassiz-Netz gefischt werden und zwar in einer Tiefe von 4500 Metern. Die Länge des Netzes, so sagt mir die Handschrift meines Mathematiklehrers, betrüge das Dreifache der Wassertiefe. Und nun will man also wissen, in was für einem Winkel sich das Netz zum Meeresboden befindet. So, so, denke ich und wende mich der dritten Aufgabe zu. Auf einmal wird mir schmerzlich bewusst, welchen Nutzen der Zollstock, den man Markus und mir neben das Aufgabenblatt gelegt hat, erfüllen soll. Nicht etwa als ein – zugegeben auch meiner Meinung nach etwas zu groß geratener Linealersatz soll er dienen – vielmehr erwartet man von uns, dass wir den Weg in die dunkle Kälte antreten, um die Stahlträger auf dem C-Deck auszumessen.
Markus und ich tauschen einen verzweifelten Blick aus und ich beneide aufs Neue Katharina und Fadi um die Asymptotengleichungen und Wendepunkte, mit denen sie sich um diese ungewöhliche Uhrzeit auseinandersetzen dürfen.
In der Zwischenzeit hat Frau Scherf die Videokamera ausgepackt und auch Herr Stracke macht eifrig Gebrauch von jener Digi-Cam, die er sehr lieb gewonnen zu haben scheint in den vergangenen Wochen.
Beide sind mit Elan bei der Sache, legen möglicherweise mehr Ehrgeiz an den Tag (oder eben an die frühen Morgenstunden) als ihre vier Schüler. Schließlich gilt es ja, ein Ereignis von größter Wichtigkeit für die Nachwelt festzuhalten. Zugegeben, es ist ein merkwürdiges Gefühl gefilmt zu werden, während man Vektoren in Koordinatensysteme einzeichnet und Gleichungssysteme aufstellt. Aber nun werde ich endlich erfahren, wie komisch mein von Zeit zu Zeit verzweifelter Gesichtsausdruck, der sich dann wieder entspannt, wenn ich merke, dass ich wieder einmal lediglich die Zahlen falsch abgeschrieben habe, auf Außenstehende wirken muss. Ob ich das wirklich will, nun ja, das steht auf einem anderen Blatt.
Irgendwann ist es dann so weit: Aufgabe eins und zwei liegen hinter mir und es hilft nichts: Ich muss hinaus aufs C-Deck. Markus sieht aber auch nicht viel glücklicher aus, tröste ich mich, während ich mich frage, wie ich mit diesem Zollstock in der Lage sein soll, herauszukriegen, wo die Rettungsbote von der imaginären Verlängerung der Stahlträger auf die Wasseroberfläche auftreffen. Zugegeben, rückblickend haben Markus und ich, glaube ich, ziemlich planlos ausgesehen, wie wir da auf den Deck herumwuselten und nicht einen blassen Schimmer hatten, was wir tun mussten.
Herr Stracke, der durch die Linse der Kamera alles beobachtete und wahrscheinlich nicht wusste, ob er bei so viel Planlosigkeit auf einmal lachen oder weinen sollte, sah wohl schon seine Polarstern-Klausur davonschwimmen, denke ich.
Irgendwie, fragt mich nicht wie, gelang es uns schließlich, die Aufgabe zu verstehen. Dennoch scheinen mir die 20 Meter, die das Boot laut meiner Rechnung zurücklegen müsste, bevor es das dankbare Wasser erreichen würde, etwas lang. Ich werde es ja sehen, wenn Herr Stracke mir heute im Laufe des Tages diese außergewöhnliche und denkwürdige Klausur, mit Stempel der Polarstern und Unterschrift des Kapitäns, wiedergeben wird. Wenn er denn zeit zum Korrigieren findet, neben all der Fotografiererei.
Denn heute türmen sich die beeindruckenden Gletscherberge der der Admirality Bay von King George Island vor uns auf. Später wird sogar ein Rettungsmanöver stattfinden; ich hoffe jedoch, dass ich nicht im einem der Boote sitze, wenn es seinen – angeblich – 20 Meter langen Weg durch die Luft antritt, oder dass ich mich verrechnet habe.
Mareike Aden