Der Eisberg ruft
Dass unser Schiffsdoc Dr. Eberhard Kohlberg viel von der Welt gesehen hat, hatten wir uns schon gedacht. Wie viel er allerdings tatsächlich erlebt hat, wurde uns erst klar, als wir uns seinen Vortrag über seine zweimalige Überwinterung auf der Neumayer-Station in der Atka-Bucht auf dem Ekström-Schelfeis anhörten.
So erlebte er den Fall der Mauer 1989 in der unterirdischen Röhrenkonstruktion der Station des Alfred-Wegener Institutes für Polar- und Meeresforschung. Und auch die Olympischen Spiele von Sydney im Jahr 2000 verfolgte Kohlberg aus dem ewigen Eis. „Die zehn Jahre dazwischen, habe ich allerdings zu Hause verbracht“, fügt er hinzu.
Eine sogenannte Überwinterung in der Neumayer-Station dauert jeweils 15 Monate und jedes Team besteht aus neun Personen, die in zwei Untergruppen zu teilen ist. Vier Personen sind für die wissenschaftlichen Tätigkeiten zuständig und weitere vier kümmern sich um den betriebswirtschaftlichen Teil der Instandhaltung der Station. Der Arzt, der gleichzeitig die Position des Stationsleiters einnimmt, vervollständigt das Überwinterungsteam.
Ingesamt bewohnen also ein Elektriker, ein Funker, ein Ingenieur, ein Koch, zwei Geophysiker, ein Meteorologe und ein Luftchemiker die zwei Röhren von Neumayer.
Neumayer ist bereits die zweite Polarstation des AWI: Die 1980 errichtete Station „Georg von Neumayer" musste nach zehn Jahren aufgegeben werde, da die Gefahr des Zerquetschens durch die Eismassen bestand.
Die Station hatte ihren Dienst jedoch getan, als 1992 die Nachfolgestation Georg von Neumayer in acht Kilometer Entfernung ihre Türen öffnete. Der Standort bei der Eröffnung betrug 70°40' Süd, 8°15' West und lag somit acht Kilometer von der Eiskante entfernt.
Weit unter der Neumayer-Station ist der Antarktische Ozean, denn das Schelfeis, in dem die Neumayer-Station liegt, schwimmt auf dem Wasser auf. Bis zum Jahre 2000, als Dr. Eberhard Kohlberg sich erneut zur Überwinterung in der Antarktis entschlossen hatte, war die Station bereits 1,5 Kilometer nach Norden gedriftet. Die Überlebensdauer der Station schätzen Experten auf bis zu 15 Jahre.
Die Hauptbasis der deutschen Polarforschung besteht wie gesagt aus zwei Stahlröhren, die parallel zueinander liegen und einen Durchmesser von jeweils 8,38 Metern haben. Die Länge variiert zwischen 94 und 86 Metern. Eine 15 Meter lange Querröhre dient als Verbindungsgang und Lagerraum für die Vorratscontainer.
Während sich in der Oströhre hauptsächlich die Schlaf- und Wohnräume, aber auch einige Labore befinden, bietet die Weströhre Platz für Funktionsräume, Büros und natürlich das Hospital.
„Das Hospital ist so ausgerüstet, dass fast jeder operative Eingriff vorgenommen werden kann“, erzählt uns Dr. Kohlberg, während wir auf der Dia-Leinwand den Operationstisch von Neumayer sehen. „Das Gleiche gilt übrigens auch für das Hospital auf der Polarstern“, fügt er hinzu.
„Was ihn denn dazu bewogen hätte, 15 Monate in dieser Eiswüste zu verbringen – und das gleich zwei Mal“, wollen wir wissen. Der Schiffsarzt denkt einen Augenblick nach und gibt dann zu, dass es schon ein bisschen die Lust auf Abenteuer gewesen sei, die ihn in die Antarktis brachte. Aber vor allem sei es das Verlangen gewesen, diesen Kontinent kennen zu lernen.
„Und dann habe ich halt Blut geleckt und kam zehn Jahre später zurück“, erklärt der Wiederholungstäter, der ohne Zweifel fasziniert sein muss von der antarktischen Region. Weshalb sonst stünde er in diesem Augenblick als Schiffsarzt der Polarstern vor uns?
Wale und Tipiaufgaben
Nach dem Briefing um neun Uhr morgens hatten Herr Stracke und Frau Scherf vor, unsere Mathematik-Klausur weiter vorzubereiten. Markus, Mareike, Fadi und ich seufzten einmal laut und wehleidig auf, doch unsere Lehrer zeigten kein Erbarmen.
Bis zu siebzehn Meter lang: Buckelwale
Mit gebückter Haltung liefen wir zu unseren Kabinen, um das Mathebuch und die vor zwei Tagen gestellten „Tipiaufgaben" abzuholen. Über diesen Begriff mag man sich im ersten Moment wundern, doch es wurde einstimmig beschlossen, dass der Begriff Hausaufgaben an Bord der Polarstern völlig Fehl am Platze ist.
Da unsere Köpfe lediglich in unseren Kabinen rauchten, welche von der Mannschaft auch Tipis genannt wurden, kreierte Herr Stracke das von uns am meisten gehasste Wort „Tipiaufgabe“.
Doch heute hatten wir Glück. Ausnahmsweise schienen unsere Gebete erhört worden zu sein. Denn plötzlich rannten einige Wissenschaftler, gefolgt von unseren beiden Lehrkörpern, nach draußen auf das Helikopterdeck.
Individuelles Muster auf der Rückenfinne
Uns Schülern rief man lediglich hinterher, dass wir schnell unsere Fotoapparate und Videokameras mitnehmen sollten, denn draußen seien Wale gesichtet worden. Das ließen wir uns nicht zwei mal sagen und im Nu standen wir an der Reling und hielten Ausschau nach den riesigen Meeressäugern.
Diese ließen auch nicht lange auf sich warten und boten uns ein einzigartiges Schauspiel, welches wir wohl nie vergessen werden.
Zwei ausgewachsene Buckelwale schwammen etwa in zwei bis drei Metern Entfernung neben der Polarstern her. Von all den schaulustigen Passagieren, die ihnen mit ihren Kameras von der einen auf die andere Seite des Eisbrechers folgten, ließen sich die Meeresgiganten nicht aus der Ruhe bringen.
Der Fischereibiologe Dr. Karl-Hermann Kock berichtete uns, dass diese Buckelwale höchstwahrscheinlich von der südamerikanischen Westküste stammen. Im Ecuador würden die Buckelwale ihr Junges, nachdem sie ein knappes Jahr trächtig gewesen sind, zur Welt bringen.
Die Vier seufzten einmal laut: Matheaufgaben
Bei ihrer Geburt sind die Meeressäuger etwa viereinhalb bis fünf Meter groß. Mit zehn Jahren sind die Buckelwale ausgewachsen und können bis zu siebzehn Meter lang und bis zu fünfundvierzig Tonnen schwer werden. In den antarktischen Gewässern ernähren sich die Meeresgiganten fast ausschließlich von Krill, vor Südamerika fressen diese meist Schwarmfische wie Heringe.
Es ist jedoch bis heute schwierig, Aussagen über deren Population zu machen. Die einzige Möglichkeit, die bestünde, wäre die Buckelwale anhand ihres individuellen Musters auf der Rückenfinne zu erkennen. Dieses Muster ist mit dem Fingerabdruck eines Menschen zu vergleichen.
Untersuchungen dieser Art werden bereits vor Australien durchgeführt, bei denen die hiesigen Buckelwale jedes Jahr gezählt werden.
Unser Gespräch mit Katharinas Projektleiter wurde jedoch unterbrochen, als sich einer der Buckelwale auf den Rücken drehte, sodass man lediglich seine weiße Brust erkennen konnte.
Dann hob er eine seiner Flossen aus dem Wasser in die Höhe. Dies machte auf uns den Eindruck, als ob er sich mit einem Winken von uns verabschieden wollte, denn anschließend schwammen die beiden Meeressäuger davon.