Meerjungfrauen küssen besser
Dass wir ausgerechnet diesem norddeutschen Brauch an Bord der Polarstern begegnen würden, damit hatten wir nicht gerechnet. Sieht man bei uns zu Hause vor den Rathäusern immer wieder dreißigjährige Junggesellen dem Brauch des Fegens nachgehen, bis sie von einer Jungfrau freigeküsst werden, ist dieser Anblick an Bord eines wissenschaftlichen Forschungsschiffes gewöhnungsbedürftig und gleichzeitig ein Spektakel im Forschungsalltag.
Geburtstagskind mit den Auricher Schülern
Vor allem wenn der Unglückliche dabei auch noch einen Antarktis-Überlebensanzug, Gummistiefel und eine Schutzbrille tragen muss. Auch der Ort des Geschehens wich von der üblichen Rathaus- oder Kirchenkulisse ab: Ein streng nach Fisch riechendes Geolabor war von den Arbeitskollegen des Geburtstagskindes mutwillig mit Sägespänen ausgestreut worden.
Unter den Augen von Wissenschaftlern und Crew machte sich Junggeselle Michael aus dem Ruhrpott, der an Bord Asseln untersucht, an die schweißtreibende Arbeit. Die sieben Meter hohen Wellen, die das Schiff immer wieder hin- und herschwanken ließen – ein angemessenes Frühstück mit „Brechspargel" hatten wir schon zu uns genommen – erschwerten den Reinigungsprozess.
Die Jungfrau ließ auf sich warten und so fegte der Assel-Forscher munter weiter, bis sich schließlich Marie, eine amerikanische Biologin erbarmte und ihm einen Kuss auf die Wange drückte. Glaubte sie jedoch damit dem Fegen ein Ende zu setzen, so irrte sie.
Denn anscheinend gab es noch eine weitere Jungfrau, die auf ihren Auftritt wartete, der einige Minuten später folgte. Mit üppig gepolsterter Bluse und langem – wenn auch angeklebtem und künstlichem – blonden Haar, schwebte eine von Michaels Mitforscherinnen in das Geolabor.
Nach ausgiebigem Posieren war das Werk vollbracht und der fegende Wissenschaftler war erlöst – und um einem Lippenstiftabdruck reicher. Bleibt zu hoffen, dass unserem Wasserball-Mitspieler Michael in Zukunft ausreichend Zeit zur Verfügung steht, nicht nur die Welt der Tiefsee-Asseln genauer unter die Lupe zu nehmen.
Auftritt der Jungfrau
Scheinbar nahm Michael diesen Überfall zu relativ früher Stunde niemandem übel. Im Gegenteil: Er lud alle Anwesenden zu einer Geburtstagsfeier im „Zillertal" ein. Dann allerdings wird ein doppelter Geburtstag gefeiert: Denn für die kommenden Tage ist ein weiteres Geburtstagskind auf dem Bordkalender eingetragen. Brigitte Hilbig vom Zoologischen Institut Hamburg feiert ebenfalls an Bord der Polarstern ihren Jahrestag.
Wie zuvor die Feierlichkeiten anlässlich Lorenzos zukünftigen Vaterschaftsfreuden, die den Italiener via E-mail erreichten, sind auch die Geburtstage Beweis für die erleichternde Erkenntnis, dass Wissenschaftler auch ganz normale und teilweise besonders humorvolle Menschen sind und nicht ausschließlich in einer Welt aus Forschungsergebnissen und Daten leben.
Auch das ist eine Erfahrung, die wir in den vergangenen drei Wochen an Bord der Polarstern gemacht haben: Wissenschaftler leben und forschen ganz und gar nicht ihren lieben langen Tag im Elfenbeinturm, sondern sind Menschen wie du und ich.
Weiberfastnacht und wenig Schlaf
„Wer feiern kann, der kann auch arbeiten!“ Da dieser Ausspruch Teil der Lebensphilosophie von Frau Scherf ist, einer uns begleitenden Lehrkraft, zeigte sie auch heute morgen kein Erbarmen. Sie weckte Katharina um kurz nach sechs, damit die siebzehnjährige Schülerin rechtzeitig im Fischlabor erscheinen konnte, um ihrer Arbeit nachzugehen.
Bedauerlicherweise hatte sich Katharina erst um drei Uhr am Morgen ins Bett gelegt. An diesem Abend wurde nämlich im „Zillertal“, der bordeigenen Kneipe der Polarstern, der dreißigste Geburtstag von Michael Raupach, einem angehenden Doktoranten, ausgiebig gefeiert.
Katharina setzt zum Schnitt an
Außerdem war gestern Altweiberfastnacht. Alle männlichen Polarreisenden hatten daran gedacht, an diesem Tag keine Krawatte zu tragen. Doch Dr. Rüdiger Riehl, Fadis Projektleiter, hatte wohl als einziger nicht in den Kalender gesehen. Denn obwohl er aus Düsseldorf kommt und mit den Karnevalsbräuchen bestens vertraut sein sollte, hatte er diesen Tag vollkommen vergessen.
Die Krawatte von Dr. Riehl
Als er mit Krawatte abends im Pub auftauchte, witterten Mareike und Katharina ihre Chance und nutzen die Gelegenheit, auf welche sie bereits den ganzen Tag gewartet hatten. Nachdem sich die beiden Mädchen eine Schere organisiert hatten, musste der rotgepunktete Schlips dran glauben.
Die Zeit verging wie im Fluge, mit dem Resultat, dass Katharina jetzt lediglich drei Stunden schlafen konnte, bevor ihr Arbeitstag begann. Im Fischlabor auf dem F-Deck angekommen, blieben der Schülerin noch fünf Minuten, um ihre Arbeitshose und die Gummistiefel anzuziehen. Dies stellte sich jedoch im Halbschlaf und bei dem Schaukeln des Eisbrechers als etwas komplizierter heraus. Minuten später wurden die ersten Fische auch schon durch eine Luke geworfen, welche das sogenannte E-Deck und das Fischlabor verbindet. Die Tiere werden anschließend in Körben nach Arten sortiert und ihr Gesamtgewicht wird in einem Protokoll vermerkt.
Dann wird in der Fischereigruppe entschieden, was mit den Fischen passieren soll. Bei diesem Fang wurde die Länge, das Geschlecht und das Reifestadium in die dafür vorgesehen Formulare eingetragen. Anhand dieser Daten wird später eine Statistik erstellt, mit der man Rückschlüsse auf die Fischbestände rund um Elephant Island und die South Shetland Islands ziehen möchte.
Hintergrund ist, dass diese Region noch bis in die Achtzigerjahre von der kommerziellen Fischerei sehr intensiv befischt wurde. Die Populationen von Marmorbarsch und Bändereisfisch, auf die sich Herr Dr. Kock von der Bundesanstalt für Fischerei in Hamburg am stärksten konzentriert, sind deshalb erheblich zurückgegangen.
Seit einiger Zeit werden diese Populationsuntersuchungen alle drei bis fünf Jahre wiederholt, um festzustellen, ob eine Bestandserholung erkennbar ist. Da der erste Fang heute morgen sehr groß gewesen ist, herrschte wie immer reges Treiben auf dem F-Deck.
Da kann es unter anderem schon mal vorkommen, dass auch Leute mit anpacken müssen, die nicht zum Fischereiteam gehören. Denn Hilfsbereitschaft nimmt an Bord der Polarstern noch einen großen Stellenwert ein. So wurde Katharina, wenn auch mit einem verschmitzten Lächeln auf dem Gesicht, für diesen Tag von Herrn Dr. Kock entlassen, nachdem sie zwei Stunden fleißig protokolliert hatte. Nun konnte Katharina sich ins Bett legen, denn ausgeschlafen lässt es sich bis jetzt immer noch am besten arbeiten.