Wochenende ist für uns ein Fremdwort
Pünktlich um sieben Uhr saßen Markus, Mareike, Fadi und Katharina vor ihren Laptops, um nachzusehen, ob sie neue E-Mails aus dem fernen Ostfriesland bekommen haben. Heute vor zwei Wochen begann die Reise in die Antarktis. Damit die vier Schüler aus Aurich immer auf dem Laufenden sind, schreiben ihre Freunde regelmäßig, was zu Hause passiert.
Wie schon erwartet, beklagen sie sich – wie jeden Montag –, dass das Wochenende eindeutig zu kurz war, um sich von dem Schulstress zu erholen. Da mussten die vier Polarreisenden mit ihren immer deutlicher werdenden Augenringen doch ein wenig schmunzeln.
Beim Sortieren von Seegurken, Seewürmern und Krebsen
Auf der „Polarstern“ existiert das Wort „Wochenende" nicht. Auf den Sonntag wird man lediglich durch gefaltete Servietten aufmerksam gemacht. Ein Wissenschaftler trug gestern eine Krawatte. Den erstaunten Gesichtern erwiderte er stets, dass doch Sonntag sei.
An jedem Tag in der Woche werden mindestens vier sogenannte „Hols" gemacht beziehungsweise wird die Tiefseekamera „SPI" ins Wasser gelassen. Und neben der wissenschaftlichen Arbeit, die Markus, Mareike, Fadi und Katharina nahezu den ganzen Tag in Anspruch nimmt, müssen die vier Schüler ihre Facharbeit schreiben.
Markus untersucht den Mageninhalt von Tintenfischen
Da der Ersatz für zwei Klausuren in einem ihrer Leistungskurse auf keinen Fall zu kurz kommen darf, treffen sie sich meist noch nach 20.00 Uhr in der Bibliothek der „Polarstern“. Dort können sie in Ruhe arbeiten und den ständigen Trubel auf dem Eisbrecher für ein paar Stunden vergessen.
Doch vor Mitternacht legt sich keiner der Schüler schlafen. Da ziehen Markus, Mareike, Fadi und Katharina schon eher in Erwägung, das Frühstück am nächsten Tag auszulassen und mit leerem Magen zur Arbeit zu gehen. So haben die vier zumindest die Möglichkeit noch eine weitere halbe Stunde im Bett zu liegen.
Auch Markus setzte heute morgen Prioritäten und ließ das Müsli auf dem Buffettisch stehen. Er machte sich sofort auf den Weg ins Tintenfischlabor, um mit seinem Projektleiter Uwe Piatkowski erneut den Mageninhalt der Cephalopoden zu untersuchen. Mit leuchtenden Augen erzählt Markus jeden Tag, was er mit Hilfe des Binokulars gesehen hat.
Heute waren zum Beispiel kleine, nahezu unverdaute Flohkrebse oder ein winziges Schneckenhaus zu erkennen. Die leuchtenden roten Punkte, die Markus unter dem Mikroskop erkannte, identifizierte Herr Piatkowski als Krebsaugen. Anschließend wurde der Mageninhalt der Tintenfische an ein belgisches Forschungsteam weitergereicht. Diese Wissenschaftler sind auf der „Polarstern“ mit den Krebsen am besten vertraut und können diese Lebewesen in kürzester Zeit bestimmen.
Diese Analyse ist existenziell für die Statistiken der Tintenfischgruppe, da die Grundlagenforschung zum Beutespektrum der Cephalopoden bis jetzt noch ein relativ unbeschriebenes Blatt ist. Daher kann man Markus auch verstehen, wenn er stolz auf seine eigenständig angefertigten Protokolle und Grafiken mit seinen eigenen Versuchsergebnissen ist, da auf diese in Zukunft auch von anderen Wissenschaftlern zugegriffen werden wird.
Die anstrengenden Arbeitstage gehen den Schülern einerseits an die Substanz und erinnern sie an ihre Leistungsgrenzen, andererseits bereiten ihnen die wissenschaftlichen Tätigkeiten jedoch eine Menge Spaß.
[Zu Tag 14 liegt kein Bericht vor.]
Stürmische Feten und Vaterfreuden
Durch ein lautes Krachen und Klirren wurden wir heute morgen unsanft aus unseren Träumen gerissen. Der Seegang ist während der letzten Nacht zunehmend stärker geworden, so dass der Eisbrecher Polarstern von vier Meter hohen Wellen bei Windstärke acht und Orkanböen bis Stärke 10 durchgeschaukelt wurde.
Vier Meter hohe Wellen bei Windstärke acht
Mit dem Resultat, dass Mareike und Katharina alle bis jetzt noch nicht befestigten Gegenstände auf dem Fußboden wieder fanden. Sie hatten bedauerlicher Weise die gutgemeinten Ratschläge von Herrn Stracke, ihr Chaos zu beseitigen und Bücher beziehungsweise CDs in dem dafür vorgesehenen Regal zu verstauen, nicht beherzigt. Mit dem Resultat, dass die beiden nun früher aufstehen mussten als geplant, um auf dem Boden rumzukriechen und Gummibärchen, Stifte, Kassetten oder Fotofilme ordnungsgemäß zu verstauen.
Und wie sie beim gemeinsamen Frühstück, zu dem übrigens verhältnismäßig wenige erschienen, bemerkten, war die Messe ebenfalls auf den starken Wellengang vorbereitet worden. Die Tischplatten wurden nach unten versetzt, so dass die Tischkanten hervorstanden.
Falls das Forschungsschiff also erneut Schlagseite bekommen sollte, rutscht das Geschirr zwar auf den Tischen umher, kann jedoch nicht mehr auf dem Boden zerschlagen. Außerdem sind die Ketchupflaschen in einem Schrank verstaut worden und die Marmeladengläser waren eng aneinander gestellt auf einem Tablett wiederzufinden.
Fotos von Deck, bei Windstärke 9
In dem alltäglichen Briefing um neun Uhr erfuhren wir von unserem Fahrtleiter Prof. Dr. Fütterer, dass das 140 Fuß Netz frühzeitig an Deck geholt werden würde und sowohl die Fischerei, als auch das Einsetzen von sämtlichen wissenschaftlichen Geräten bis auf weiteres eingestellt werden würde. Außerdem solle darauf geachtet werden, dass alle Geräten in den entsprechenden Labors ordnungsgemäß zu fixieren sind. Des weiteren wies Prof. Fütterer darauf hin, dass es allen Wissenschaftlern untersagt sei, bei diesen Wetterbedingungen das Arbeitsdeck achtern zu betreten. Die Sicherheit aller Polarreisenden habeVorrang.
Lediglich ein Moment der Unachtsamkeit, gerade wenn die Heckklappe geöffnet sei, reiche aus, um über Bord zu gehen. Und was das bedeutet haben wir ja unlängst von dem Schiffsarzt Dr. Kohlberg erfahren.
Doch heute wurde uns noch etwas völlig anderes bewusst. Wenn wie in unseren Fall mehrere Tiefs die Wetterbedingungen nachhaltig im negativen Sinne beeinflussen, dann existiert für die Wissenschaftler auf der Polarstern für kurze Zeit ein wochenendähnlicher Zustand. Im Moment muss sich keiner mehr Gedanken machen, wo die verloren gegangene Falle zu finden ist bzw. an welchem Ort diese wieder auftaucht oder ob ausreichend Würmer für eine bevorstehende Doktorarbeit gefangen werden.
Ganz zwanglos konnte heute Abend im „Zillertal" auf den Vaterschaft in spe angestoßen werden. Einer der italienischen Wissenschaftler erfuhr nämlich heute via Email, dass er in acht Monaten Nachwuchs bekommen würde. Und da in dieser Nacht bzw. früh am Morgen auf Grund der eingestellten Aktivitäten an Bord keiner aufstehen musste, wurde bis drei Uhr morgens ausgelassen gefeiert.