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Auricher Wissenschaftstage –
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Berichte von der „Polarstern“ (Tag 11 und 12)

TAG 11

Was wäre wenn?

„Wie lange würde ich eigentlich überleben, wenn ich jetzt über Bord gehen würde?“, fragte einer von uns vieren während einem der nicht enden wollenden Gruppenfoto-Shootings in der Kälte an Deck. Herr Stracke reichte diese nicht unerhebliche Frage weiter an den Schiffsarzt Dr. Eberhard Kohlberg, den der Fahrtleiter vorab als den Bestbezahltesten an Bord bezeichnete.

Foto vor der Karte, 20 k

Beim Studieren der Karte

Dieser bot sich sofort an, für uns einen kleinen Vortrag über die verschiedenen Stadien der Unterkühlung, die medizinischen Hintergründe und über die Sofortmaßnahmen zu halten für den Fall der Fälle. Und dies, obwohl er auf Grund einer sich an Bord rasch verbreitenden Grippe im Moment ganz schön viel zu tun hat. Gesagt, getan. Was wir dann nach dem Mittagessen vom Schiffsarzt zu hören bekamen, jagte uns allen einen eiskalten Schauer über den Rücken. Bei einer Wassertemperatur von ungefähr einem Grad Celsius, wie wir sie im Moment überall um uns herum haben, habe ein Mensch eine reale Überlebensdauer von nur 10 Minuten, schätzte Dr. Eberhard Kohlberg.

Wie bei Verbrennungen gebe es verschiedene Unterkühlungs-Stadien. Im ersten Stadium sinkt die Körperkerntemperatur von normalerweise 37°C auf 34°C. Beim „Verunfallten“, wie der Arzt den armen Unglücklichen bezeichnete, seien Blässe, Muskelzittern, ein schneller Puls, ein Blutdruckanstieg und Schmerzen am ganzen Körper festzustellen. Trotzdem habe man Glück im Unglück, wenn es noch gelänge den Überbordgegangenen in diesem Zustand wieder heraus zu ziehen. „Und immer in einer waagerechten Position, wenn irgendwie möglich“, appellierte der Doktor und fragte sich wohl ebenso wie wir, ob das denn in der Realität wirklich so umzusetzen sei.

Das zweite Stadium sei schon wesentlich kritischer, da die Körpertemperatur dann bereits auf 27°C absinke und Muskelstarre und unregelmäßige Atmung einsetzen würden. Darüber hinaus seien vor allem die Halluzinationen und Wahnvorstellungen des Unterkühlten gefährlich, da der die akute Gefahr, in der er sich befände, nicht mehr wahrnehmen könne. „Ist die Temperatur erst einmal unter 27°C gefallen, dann besteht kaum noch Hoffnung auf Rettung“, fuhr Dr. Kohlberg fort. Es trete eine Art Scheintod ein. Wie bei einem Toten seien die Pupillen erweitert und Atem- und Herztätigkeit seien ebenfalls nicht länger wahrnehmbar.

Foto vom Vortrag, 21 k

Dr. Kohlberg klärt auf, was bei Mann über Bord zu tun ist

Besonderen Eindruck hinterließ bei uns die Rettungsmaßnahme, zu der neben einer Wolldecke und einer Rettungsdecke auch drei dieser großen blauen Müllsäcke, die hier an Bord für die Müllpresse benutzt werden, nötig sind. Wie eine Mumie muss der Unterkühlte zunächst in die Rettungsdecke und dann auf spezielle Weise in die drei Müllsäcke gewickelt werden, bevor Wolldecke und Tape die Erste Hilfe-Maßnahme vervollständigen.

„Wenn ihr – was wir nicht hoffen wollen – mal in die Rettungsboote müsst, dann zieht euch auf jeden Fall warm an und lasst sowas wie das hier in der Kabine“, erklärte der Schiffsarzt lachend, mit einem Blick auf die Badelatschen, die manche von uns trugen. Und wenn wir dann auch noch ins Wasser springen müssten, sollten wir uns bloß nicht unnötig bewegen, um nicht noch mehr Wärme an das Wasser mit seiner hohen Wärmeleitfähigkeit abzugeben.

Stattdessen solle man in einer Art Embryostellung verharren und auf Hilfe warten. „Und hoffen, dass die innerhalb von 10 Minuten da ist“, wird wohl so mancher der Anwesenden in Gedanken hinzugefügt und sich dabei fest vorgenommen haben, sich bei wirklich starkem Seegang das nächste Mal noch einen Meter weiter entfernt von der Reling aufzuhalten. „Und noch etwas“, fügte der Arzt am Ende des Gesprächs mit einem Augenzwinkern hinzu, „gebt einem Unterkühltem nie Alkohol zu trinken, da dann noch schneller Wärme abgegeben wird“. Deshalb sei unter Seeleuten auch folgender Ausspruch geläufig: „Alkohol gegen Kälte ist wie in die Hose pinkeln“; beides hilft nur im ersten Augenblick. Mit diesen Worten verabschiedete sich der Doc, um weiter gegen die an Bord grassierende Grippe zu kämpfen. Denn Grippefälle gibt es an Bord der „Polarstern“ zum Glück häufiger als das Schrecksignal „Mann über Bord“.

Geht Frau über Bord, hat sie übrigens auf Grund ihrer besseren Fettverteilung im Unterhautfettgewebe ein längeres Durchhaltevermögen im eiskalten Nass. Ein Wettkampf, um dies auszuprobieren, werden wir allerdings kaum starten – höchstens im bordeigenen Schwimmbad.

TAG 12

Der Stein der Weisen

Es muss so gegen Mitternacht gewesen sein, als die Nachricht von dem riesigen Stein im Agassiz-Netz diejenigen erreichte, die vor der Schichtübernahme noch einen Kaffee in der Messe tranken. Anstatt vieler kleiner Tiefseeorganismen befand sich nur dieser Brocken im Netz, der auf ein Gewicht von ca. einer Tonne geschätzt wurde.

Foto mit Stein, 20 k

Eine Tonne wiegt der Brocken

Zum Glück war dem stabilen Rahmen des Agassiz-Schleppnetzes, das den Stein ohne geringste Schwierigkeiten ans Tages- beziehungsweise Nachtlicht befördert hat, nichts geschehen. Trotzdem war man offensichtlich ein bisschen enttäuscht über den unerwarteten Fang, war man doch extra wach geblieben, um bei der Sichtung des Schleppnetzinhaltes dabei zu sein um geeignete Exemplare für die eigene Forschung zu ergattern.

Alle, die von dem ins Netz gegangen Brocken gehört hatten, machten sich auf den Weg hinunter zum E-Deck. Und tatsächlich: Ein riesiger Brocken füllte den gesamten Rahmen des Agassiz-Netzes aus. Doch als man den Stein mit dem Kran heraushob, stellte sich heraus, dass es sich keinesfalls um einen – abgesehen von dem Gesteinsbrocken – erfolglosen Fang handelte. Hinter dem massiven Brocken war das ganze Schleppnetz voller Schlamm, der wiederum rappelvoll mit allerlei wertvollem Arbeitsmaterial aus der Tiefsee war: Da gab es Asseln, Schwämme, Würmer, Tintenfische, Seesterne, Seegurken und verschiedene Arten von Parasiten.

Die Augen der Wissenschaftler glänzten bei diesem Anblick: das Material, das jeder einzelne von ihnen ergattern würde, war genug für ein ganzes Jahr Arbeit im Heimatlabor und lieferte den Stoff für unzählige Doktorarbeiten. Eine kleine Schattenseite jedoch hatte die enorme Ausbeute: Noch bis vier Uhr war man an Deck damit beschäftigt den Fang zu sortieren und zu katalogisieren.

Dennoch war es vor allem der Stein, der am kommenden Morgen für Gesprächsstoff sorgte. Und vor allem die Geologen an Bord, darunter auch der Fahrtleiter Professor Dr. Fütterer und Frau Dr. Christine Siegert, nahmen sich vor, der Sache weiter auf den Grund zu gehen, denn für sie ist Stein nicht gleich Stein. So wurde ein Stück des „Eintonners" abgeschlagen, ein frischer Bruch vorgenommen und intensiv unter dem Mikroskop auf Mineralien, Farbe und Härte untersucht, um genaue Daten über Alter und Herkunft des Steinbrockens zu erhalten.

Bei diesen Untersuchungen stellte sich schließlich heraus, dass es sich um einen von einem Eisberg hierher transportierten Gesteinsbrocken aus der Antarktis und keineswegs um normales Meeresbodengestein handelt.

„Felsbrocken auf dem Meeresboden sind wie ein Archiv, aus dem man etwas über die Vergangenheit von Meeresströmungen lernen kann“, erklärte uns Dr. Christine Siegert später. Auf die gleiche Art und Weise, nämlich durch Analyse von Gesteinsbrocken, kann man auch Strömungen wie den Zirkumpolarstrom lokalisieren, der sich rund um die Antarktis dreht.

Dieser Zirkumpolarstrom ist es auch, der für das Treiben der Eisberge rund um den Kontinent Antarktis verantwortlich ist. Gleichzeitig verhindert er zu einem weiten Teil ein Ausbrechen der Eisberge aus diesem Kreislauf. „Nur gelegentlich ermöglichen es Wirbel, dass ein Eisberg über die Zirkumpolarströmung hinausgelangen kann“, so die Geologin weiter.

So lernten auch wir, dass Stein nicht gleich Stein ist und nahmen ebenfalls ein Stück des Brockens aus der Antarktis an uns, um es zurück nach Aurich mitzunehmen. Schließlich sollen die Biologen, für die wir bereits unzählige Präparate wie zum Beispiel Tintenfischaugen im Gepäck haben, nicht die einzigen sein, die von unseren Erlebnissen hier profitieren. „Eure Erdkundelehrer werden ihre Freude an diesem Ding haben“, stimmte einer der Wissenschaftler zu.

In den nächsten Tag wird der Riesenbrocken wohl wieder dem Atlantik übergeben werden, da ein Transport auf Grund des Gewichts unmöglich scheint. Denn auch Geologen haben eine Gepäckbeschränkung von nur 30 Kilogramm, wenn es an Bord eines Flugzeuges geht.

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