„Sag niemals nie!“
Im Hinblick auf die erste Woche in den antarktischen Gewässern, sind sich alle vier Polarreisenden aus Aurich einig, dass sie sich gut eingelebt haben. Die Mahlzeiten sind ausgezeichnet, die Wissenschaftler sehr hilfsbereit und offen und die Besatzung tut alles, damit man sich auf der 120 Meter langen Polarstern wie zu Hause fühlt.
Elephant Island in Sicht
Lediglich die Tatsache, dass auch schon früh morgens über Lautsprecher Ansagen ertönen, scheint noch gewöhnungsbedürftig zu sein. Denn auch an diesen Morgen sind Markus, Mareike , Fadi und Katharina fast aus den Betten gefallen. Das „Announcement" des ersten Offiziers verkündigte, dass auf der Brücke ein Mingwal gesichtet worden sei, und man die Möglichkeit hätte, diesen an Steuerbord näher zu beobachten.
Diese Gelegenheit wollte sich natürlich keiner entgehen lassen, so dass sich jeder nicht beschäftigte Wissenschaftler mit einem Fotoapparat bewaffnete und an Deck stürmte. Pech nur für die vier Schüler, dass der kürzeste Weg zum Helikopterdeck an ihren Kabinen vorbei führte. Doch da Herr Stracke sie in den vergangen Tagen immer wieder dazu aufgefordert hatte, alles positiv zu sehen, sahen die Schüler das Getrampel vor ihren Türen als Chance, noch schneller aufstehen zu können, um nach dem Wal Ausschau zu halten.
Posieren vor eindrucksvollem Panorama
Es war sowieso ein erstaunliches Phänomen, dass es den potenziellen Langschläfern Markus, Mareike, Fadi und Katharina um einiges leichter fiel, auf der Polarstern aufzustehen, als zu Hause. Dies war wohl darauf zurückzuführen, dass die vier an Bord des Eisbrechers einen interessanten, wenn auch oft sehr langen und stressigen Arbeitstag vor sich hatten und nicht, wie in Aurich, die Schulbank drücken mussten.
Doch zurück zu dem Mingwal. Dieser hatte offensichtlich kein großes Interesse daran, die Neugier der Mitfahrenden zu stillen. Als wir nach sensationellen fünf Minuten und dreizehn Sekunden, die Markus mit seiner Stoppuhr genommen hatte, das Helikopterdeck mit Schlafanzug unter den Polarjacken erreichten, sah man lediglich noch die Heckflosse des Meeressäugers.
Unsere Enttäuschung nahm jedoch schnell ein jähes Ende, als der Fahrtleiter dieses Abschnittes, Prof. Dr. Fütterer, uns von einem gigantischen Eisberg erzählte, der sich nur etwa 180 Kilometer von unser jetzigen Position befindet. Mit einer Länge von 75 Kilometern und mehreren Hundert Metern Höhe, hatte einer der Bordmeteorologen, Herr Strüfing, dieses „Monster" auf einem Satellitenbild erkannt und dieses umgehend für das bevorstehende Briefing ausgedruckt. Auf die Frage hin, ob wir unseren Kurs geringfügig ändern könnten, um in die Nähe dieses Eisklotzes zu kommen, gab Prof. Fütterer mit einem verschmitzen Lächeln auf seinen Lippen wieder einer seiner nicht ganz eindeutigen Antworten zum Besten: „Sag niemals nie!“. Auf Grund seiner langjährigen Berufserfahrungen hatte er es anscheinend gelernt, sich verschiedene Optionen offen zu halten, um seinen Kollegen einerseits nicht jede Hoffnung zu nehmen , jedoch andererseits, im Falle einer Enttäuschung, nicht der Übeltäter zu sein.
Von Asseln, Würmern und uralten Schwämmen
Nach Beginn der Fischerei-Tätigkeiten ist auf den Gängen des E-Decks, wo sich die Nass- und Trockenlabore der verschiedenen wissenschaftlichen Gruppen befinden, ein auffallend strenger Geruch wahrzunehmen. „Ich habe nur noch Fisch in der Nase“, hörte man heute beim Frühstück eine Wissenschaftlerin sagen, nachdem sie acht Stunden im Fischlabor verbracht hatte. „Findest du nicht, dass es hier komisch riecht“, soll sie außerdem ihre Kabinengenossin gefragt haben, als sie abends im Bett lag.
Begutachtung des tausendjährigen Riesenschwammes
Anscheinend werden solche Geruchsunannehmlichkeiten aber in Erwartung der erhofften Forschungsergebnisse gerne in Kauf genommen. Eine erste überraschende Erkenntnis brachte gleich einer der ersten Fänge, als man eine Fischart an Land zog, die bisher nur im Weddelmeer ins Netz gegangen war. Die einzige und einleuchtende Erklärung dafür, wie diese Art ihren Weg bis in die Fischgründe vor Elephant Island gemacht haben kann, ist für die Wissenschaftler das Vorhandensein einer Strömung, die das Weddelmeer und die Gewässer um die Insel der Seeelefanten auf bisher unbekannte Art und Weise miteinander verbinden muss.
Eine weitere wissenschaftliche Sensation, die sofort eine in rot und orange gekleidete Menschentraube mit Fotoapparaten um sich scharte, war ein fast ein Meter hoher und 40 cm breiter Schwamm, der nach Einschätzung von Experten mehrere hundert Jahre alt sein muss und nach Rückkehr der Polarstern seinen Weg ins Museum machen wird.
Vergletscherte antarktische Insel
Das ist übrigens das Faszinierende auf der Polarstern: Für fast jedes erdenkliche Feld der antarktischen Tier- und Pflanzenwelt gibt es hier an Bord einen Spezialisten. Und weiß man in der eigenen Arbeitsgruppe nicht weiter, wenn es um die genaue Bestimmung eines Lebewesens und dessen Überreste geht, ruft man sich jemanden vom Labor nebenan zur Hilfe. Der kommt bestimmt, denn die Begeisterung, die die Wissenschaftler für ihre Arbeit aufbringen, scheint manchmal grenzenlos. So sitzt der Laie von Zeit zu Zeit sprachlos inmitten von Tiefsee-Biologen, deren Spezialgebiet Würmer sind und die bei einem Glas Wein mit glänzenden Augen über ihre Schützlinge fachsimpeln.
Auch scheint es zunächst schwierig, Asseln als „wunderschön" zu bezeichnen, wie eine Wissenschaftlerin versicherte, als sie von ihrem Lieblingsexemplar schwärmte. Wagt man dann jedoch einen Blick durch eines der Mikroskope und sieht den fein gegliederten Körperaufbau der Tierchen, so beginnt man zu verstehen, woher manche Wissenschaftler ihren nie enden wollendenTatendrang nehmen. Während es uns von Beginn an einleuchete, weshalb Tintenfische in ihrer vielfältigen Erscheinungsform reizvolle Forschungsobjekte darstellen, so wussten wir bei der Meio-Fauna, jenen Organismen, die kaum mit dem bloßen Auge zu erkennen sind, zunächst einmal weniger Rat.
Das änderte sich allerdings im Verlauf eines jener morgendlichen Treffen, bei dem nacheinander jedes Forschungsteam einen Vortrag über das jeweilige Spezialgebiet hält. Die vom Mikroskop aufgenommenen Bilder der klitzekleinen Lebewesen waren wirklich erstaunlich.
Von Tag zu Tag wird uns immer klarer, dass es sich hier keineswegs um eine Lust- und Entdeckungsfahrt auf einem zugegeben sehr komfortablen Eisbrecher in ein unbekanntes Gebiet handelt. Vielmehr haben wir in der vergangenen Woche einen tiefen Einblick in die Wissenschaft bekommen, wie es allein durch das Anschauen von Illustrationen in Schulbüchern und Lexika niemals möglich gewesen wäre. Und auch unsere Englischlehrer im guten alten Aurich werden zukünftig ihre Freude an uns haben, wo wir jetzt mit biologischen Fachbegriffen auf Englisch nur so um uns schmeißen können.
[Zu Tag 10 liegt kein Bericht vor.]