Sport ist Mord!
Dieses Sprichwort bekam Katharina heute Morgen am eigenen Leibe zu spüren. Der erste Versuch, sich aus ihrem Bett zu hieven, schlug fehl. Jede einzelne Sehne ihres Körpers machte Katharina darauf aufmerksam, dass sie sich gestern Abend eindeutig zu lange im Fitnessraum der Polarstern aufgehalten hatte. Trotz des starken Muskelkaters schaffte sie es beim zweiten Anlauf aufzustehen und ihre grell orange farbene Polarjacke überzuziehen. Anschließend versuchte sie die ihr noch verbleibende Kraft sinnvoll zu nutzen und klopfte bei Markus und Fadi an. Die beiden Schlafmützen aus ihrer Traumwelt zu locken, forderte in der Regel eine Menge Durchhaltevermögen. Diesen Morgen musste Katharina jedoch nur fünf Minuten warten, bis die Jungen völlig verpennt aus ihrer Kammer stolperten.
Katharina mit dem Kastengreifer
Aber das Bevorstehende hatte ihnen den nötigen Motivationsschub gegeben: Fasziniert von dem Wetterballon wollten die Drei keine Gelegenheit verpassen, die Messsonde in die Atmosphäre zu befördern, und das geschah auf dem Schiff leider schon um 6.30 Uhr morgens. Mittlerweile fand eine Art Wettbewerb zwischen den Schülern statt, welcher ihrer Ballons am höchsten steigen würde. Katharina lag mit 34.195 Metern auf Platz eins, gefolgt von Markus mit etwa 32.000 Metern und Fadi mit 30.712 Metern. Und auch Mareike hatte sich fest vorgenommen, in der folgenden Woche mit von der Partie zu sein. Doch im Moment hatte Katharina lediglich die zwei Treppen im Kopf, die sich als letzte Hürde zwischen ihr und der bordeigenen Wetterwarte des Eisbrechers befanden.
Nach verrichteter Arbeit liefen Markus, Mareike, Fadi und Katharina auf das Arbeitsdeck. Dort konnten die Schüler zusehen, wie einige Wissenschafter des „ANDEEP"-Projektes das Material, welches letzte Nacht mit dem Kastengreifer an Deck geholt wurde, sichteten. Die Sedimente, die zuerst mit der Tiefseekamera fotografiert worden waren, wurden nun aus ihren Gefäßen entnommen und auf ein Sieb gelegt. Anschließend spülte Katharina den tonartigen, grauen Sand mit einem Wasserschlauch durch das Sieb, so dass zum Schluss lediglich kleine Steine und Organismen in dem Behälter zurück blieben. Das größte Aufsehen erregte jedoch ein kleiner Seestern von einem Zentimeter Durchmesser, der auf dem Meeresgrund in 3.000 Metern Tiefe von dem Kastengreifer erfasst worden war.
Mareike schenkte diesem kleinen Lebewesen jedoch keine große Aufmerksamkeit mehr. Sie war mittlerweile völlig übermüdet, da sie die letzte Nacht erneut auf dem Arbeitsdeck verbracht hatte. Zusammen mit Herrn Stracke sah sie dabei zu, wie das Agassiz Schleppnetz, welches nach einem Meeresbiologen benannt ist, aus dem Wasser geholt wurde.
Höhepunkt dieser Nacht war der zweite in dieser Woche gefangene Fisch gewesen, welcher den netten Namen „Seeratte" trägt und zu den Eisfischen gezählt wird. Er war mit seinen vierzig Zentimetern wesentlich größer, als der gestrige. Auffällig war nur, dass durch den schnell abnehmenden Druck beim Netzeinholen, die Augen des Eisfisches sehr weit herausgequollen waren. Die Zunge lag auf der Schwimmblase und beide Organe kamen aus dem Maul zum Vorschein. Bei diesem Anblick verzichtete Herr Stracke später freiwillig auf sein Frühstück.
Eisberg straight ahead, Sir!
Eisberg straight ahead, Sir!, hieß es am heutigen Morgen, als wir gegen sechs Uhr Elephant Island erreichten. Im Gegensatz zu dem Offizier der Titianic Mr. Murdoch, waren wir jedoch regelrecht aus dem Häuschen über das noch recht bescheidene Exemplar. Viel Zeit hatten wir jedoch nicht, uns über diesen Anblick zu freuen, denn die Arbeit rief. Vor allem Katharina, Fadi und Markus waren schon seit 5.50h auf den Beinen.
Elephant Island – die Insel der Seeelefanten
Da heute der Fischerei-Zweig seine Arbeit beginnt, herrscht seit den frühen Morgenstunden Hochbetrieb an Deck. Die Zahl derer, die beim Frühstück und allmorgendlichen Treffen auffallend spät und mit dunklen Ringen unter den Augen erscheint, nimmt stetig zu. Zu dieser bedauernswerten Spezies gehören vor allem die Wissenschaftler des Andeep-Projektes, an dem auch Mareike mitarbeitet. Von heute an wird die Arbeit an diesem Projekt ausschließlich in der Nacht stattfinden, da das Arbeitsdeck tagsüber der Fischerei gehört.
Sobald die sogenannten „Hols“, also die Fänge, abgeschlossen sein werden, wird die Polarstern sich für die Nacht von ihrem Liegeplatz unmittelbar vor Elephant Island verabschieden und sich ihren Weg zurück in nördliche Gebiete bahnen. Hierbei spielt zum einen die Wassertiefe eine Rolle, aber auch die magische Zahl 60 Grad Süd, die wir nun überchritten haben. Ab diesem Breitengrad nämlich tritt der Internationale Antarktis-Vertrag in Kraft. Vor allem für deutsche Wissenschaftler bedeutet dies eine starke Einschränkung: Das sogenannte Hydro-Sweep, das Fächersonarsystem, mit dessen Hilfe man die Struktur des Meeresbodens, also seine unterschiedlichen Sedimentmuster und seine Rauhigkeit bestimmen kann, muss abgeschaltet werden.
Da dieses Fächerlot aber für das Projekt Andeep eine große Erleichterung darstellt, wird man der aus Sicht vieler Wissenschaftler übertriebenen Einschränkung des Abkommens von deutscher Seite durch einen nächtlichen Standortwechsel entgehen und einen „Sample-Spot" nördlich von 60 Grad Süd suchen. Während andere Länder wie zum Beispiel Russland auch nach Passieren der genannten Gradzahl weiterhin das Hydro-Sweep benutzen können, äußern deutsche Offizielle Bedenken, dass dies die Kommunikation der Wale beeinträchtigen könnte.
Markus mit Beute
Viele Wissenschaftler selbst halten das ihnen auferlegte Verbot wegen dieser übrigens nicht erwiesenen These für nicht gerechtfertigt. So weit also zu den Gründen unserer nächtlichen Standortwechsel. Kommen wir zu unserem momentanen Aufenthaltsort, Elephant Island, der alle an Deck Arbeitenden immer wieder dazu verführt, den Blick zu heben. Die vergletscherte Insel ist neben ihres tatsächlich majestätischen Anblicks, aber auch ihrer wissenschaftlich-historischen Bedeutung wegen ein Anziehungspunkt.
Die tragische Expedition des Iren Sir Ernest Shackleton erreichte hier im Jahre 1915 einen traurigen Höhepunkt als sein Schiff Endurance vom Packeis zermalmt wurde. Unter welch eisigen Temperaturen die Besatzung damals gelitten haben muss, davon erhielt man einen ersten nachhaltigen Eindruck, als man in der Absicht nur schnell ein paar Fotos zu machen an Deck ging und dabei leichtsinnigerweise Handschuhe und Mütze im Kabinenschrank ließ.
So geben sowohl in der Ferne grün schimmernde Eisberge als auch eisige Temperaturen einen nicht zu ignorierenden Hinweis darauf, dass wir nach einer Woche an Bord der Polarstern der Antarktis sehr, sehr nahe gekommen sind.