Professor Steinberger im Gespräch
Können Sie uns einen Ihrer typischen Arbeitstage als Wissenschaftler beschreiben?
Mein Gott, alles ändert sich und jeder ist verschieden. Ich glaube, dass es richtig war, sich in die Arbeit zu vertiefen. Ich habe es zwar nie Arbeit genannt, aber die Forschung war das, was mich am meisten interessiert hat. Ich habe Vorlesungen gehalten, die mir auch Spaß gemacht haben, aber die Forschung hatte immer höchste Priorität, vielleicht sogar mehr als die Erziehung meiner Kinder. Ich habe meinen Kindern wahrscheinlich nicht soviel Zeit geschenkt, wie ich es eigentlich hätte tun sollen. Ich glaube, es ist wichtig, dass man Glück hat, damit man es in der Forschung zu etwas bringt. Eine andere wichtige Sache ist es, sich zu interessieren, zu fokussieren und zu arbeiten. Oft habe ich bis in den Abend und auch am Wochenende gearbeitet. Manchmal bin ich klettern gegangen, habe Tennis oder Flöte gespielt, letzteres eher schlecht. Im Sommer habe ich mir dann auch mal Zeit genommen, um zu segeln und um mich der Wissenschaft zu entziehen.
Wie sind Sie eigentlich an das CERN gekommen?
Alles ist Glückssache. Ich kam in den 50er Jahren nach Genf, als das CERN gerade im Aufbau war. Da gab es nur Baracken, die am Flugplatz aufgestellt waren. Ich kam zu Besuch und habe dort einen Techniker getroffen, der mich in die Alpen mitgenommen hat; und die Berge haben mir sehr gefallen. Dann bin ich im Sommer öfter zurückgekommen und nahm danach ein Sabbatjahr. Die Professoren in Amerika haben alle sieben Jahre die Möglichkeit, ein Jahr weg zu gehen. Sie werden währenddessen trotzdem bezahlt. Nach einigem Hin und Her bin ich dann erst 1968 endgültig ans CERN zurückgegangen.
Welchen Einfluss hatte der Kalte Krieg auf die Forschung, insbesondere auf Ihre?
Ich habe nie für das Militär gearbeitet, außer während des Krieges. Aber die Forschung in der Physik wurde zum großen Teil in Amerika auch schon vor dem Krieg vom Militär unterstützt. Das ist soziologisch eine interessante Sache. Zum Beispiel wurde das Laboratorium an der Columbia Universität (N. Y.), wo ich von 1950 bis 1968 gearbeitet habe, von der US Navy finanziell unterstützt, machte aber überhaupt keine Forschung für die Navy. Wir machten einfach das, was wir wollten; es war der Navy vollständig gleichgültig. Sie hat uns unterstützt, so wie sie konnte, zum Beispiel mit Materialien, die wir benötigt haben. In diesem Neutrino-Experiment brauchten wir Eisen als Schirm gegen die Myonen, und so einen 10 bis 20 m dicken Eisenschirm hat uns die Navy einfach gegeben; es war ein alter Panzer von einem Schiff. Und der hat uns wirklich geholfen. Das war eben so in Amerika. Meiner Meinung nach ist es nicht sehr gut, dass die Wissenschaft vom Militär abhängt. An diesem Laboratorium hatten wir auch einen Beschleuniger, der in den frühen 50ern sehr nützlich war, aber 1955 war dessen Energie schon zu klein. In der Nähe war dann das Brookhaven National Laboratory, das vorher ein Army Camp gewesen und von der Atomic Energy Commission in ein Forschungszentrum umgewandelt worden war, und zwar nicht nur für Teilchenphysik, sondern auch für Kernphysik.
Vor meiner Tätigkeit in Kalifornien an der Columbia Universität 1950 habe ich ein Jahr am Berkeley Lawrence Laboratory gearbeitet. Das Laboratorium wurde auch von der Atomic Energy Commission unterstützt. Es war das bestausgestattete Laboratorium zu der Zeit. Alle diese Laboratorien waren vom Militär unterstützt. Die Atomic Energy Commission gehörte damals zum Militär. Jetzt heißt es Department of Energy. Aber das sind immer noch die Leute, die Atomwaffen machen, trotzdem sie Department of Energy heißen. Noch heute leiten die Brookhaven und beinahe alle entsprechenden Laboratorien in den USA. Wenn zum Beispiel jemand von Amerika am CERN arbeiten will, kriegt er höchstwahrscheinlich sein Geld von diesem Department of Energy.
Um nun in dem Laboratorium zu arbeiten, brauchte man eine kleine Karte, um reinzukommen. Und das war eine Art Clearance (Unbedenklichkeitsbescheinigung), obwohl mich das nicht berechtigte, irgendwelche geheimen Dokumente zu lesen. Das war einfach nötig, um in das Laboratorium reinzukommen, obwohl unsere wissenschaftliche Arbeit nichts mit Sicherheit zu tun hatte. Und eines Tages wurde mir erklärt, dass ich nicht mehr reinkommen kann. Das war vielleicht 1953/54, während des Kalten Kriegs zu McCarthys Zeit. Es ist gut, wenn Sie eine kleine Ahnung davon haben, wie das in Amerika war. Dieser Kalte Krieg, der wurde benutzt von den Rechten, um sozialistische Ideen zu unterdrücken, auch schon vor McCarthy. Der McCarthy war dabei eine groteske Figur. Auch vorher gab es das House Un-American Activities Committee im Kongress, wo zum Beispiel der Oppenheimer sehr angegriffen wurde. Schon als ich in Berkeley war, das war 1949/50, wurde von dem Bundesstaat Kalifornien der Beschluss gefasst, dass es nötig ist zu schwören, dass man nie Kommunist gewesen ist; das hatte gar nichts mit der Regierung in Washington zu tun. Ich hätte das leicht schwören können; ich war nie Kommunist gewesen – aber ich hatte sozialistische Ideen und es war ein Angriff auf die politische Freiheit in Amerika. Es gab Leute, die das einfach nicht unterzeichneten und ich war einer von denen. Aber die Wissenschaftler, die das nicht unterzeichnet haben, die haben dann ihre Stellung verloren, zum Beispiel der Professor, der mich nach Kalifornien eingeladen hatte, Gian Carlo Wick (1909-1992). Er war Italiener – ein sehr anständiger Mann. Er wurde vor ein paar Wochen in Rom geehrt. Er war einer der wenigen, die nicht unterzeichneten und dann ihre Stellung verloren haben. Auch er hätte es leicht unterzeichnen können.
1953 war ich Professor in Columbia und da wurde mir gesagt, dass ich nicht mehr zum Brookhaven Laboratory kommen könne. Ich habe die Leute von der Atomic Energy Commission nach Gründen gefragt. Schon damals war ich ein einigermaßen bekannter Physiker, nicht irgendjemand. Die haben mich dann nach Washington kommen lassen, wo ich einen der Commissioner getroffen habe, der mir in einem kurzen Gespräch gesagt hat: „Ja, ich hab in Ihren Akten nachgesehen, ich kann nichts machen.“ Ich hab nicht erfahren können, was sie in ihren Akten gegen mich hatten. Es schien ihnen nicht nötig, mir überhaupt irgendwas zu sagen, einfach nur: „Ja, sie können nicht mehr dort arbeiten.“ Ein Kollege war eher konservativ, aber der hatte einen ganz anderen Vertrag mit der Navy. Er machte Unterwasserforschungen für U-Boote. Das war wirklich für die Navy nützlich. Und der hat gesagt: „Ja, wenn die Atomic Energy Commission nichts sagt, dann schlage ich Sie der Navy als Berater für meine Forschung vor und die Navy hat andere Methoden. Die sagen Ihnen schon, was die Probleme sind.“ Es kam dann raus, dass die Sachen, die in den FBI-Akten waren, natürlich nicht immer mit der Wahrheit zu tun hatten. Die Aufgabe des Geheimdienstes ist es, Schwierigkeiten zu finden – und die finden die. In dem Gespräch habe ich herausgefunden, dass alte Freunde von mir bereit gewesen sind, dem FBI zu sagen, dass es vielleicht mit mir nicht so gut ginge. Aber die mussten dann zugeben, dass sie eigentlich nicht wirklich etwas wussten. Die Navy hat mich danach angenommen und ohne dass ich was machen musste, hat mir auch die Atomic Energy Commission zugesagt. Das hat vielleicht 1-2 Jahre gedauert.
Wie bewerten Sie Atomenergie und Atomwaffen im Allgemeinen und wie denken Sie über die atomare Abrüstung?
1950/51 wurde ich von einem Freund gebeten, einem Physiker, bei der Forschung für eine Wasserstoffbombe mitzumachen, und da habe ich kurzweg einfach abgesagt. Es wurde mir auch angeboten, bei der Atomwaffenforschung mitzumachen, und das ist mir schon damals unmöglich gewesen.
Ich glaube, dass die Atomwaffen ein wichtiges Problem sind – nicht das einzig wichtige, aber dass sie eines von den wichtigen Problemen für unsere Gesellschaft darstellen. Man kann mit Atomwaffen viel Unglück für die ganze Welt anrichten. Ich glaube, es besteht eine richtige Möglichkeit, dass diese Atomwaffen benutzt werden. Die Macht ist in den Händen von wenigen Leuten, die zu allem fähig sind. Wir sind alle, was wir sind. Und es gab zum Beispiel einen Moment, das ist jetzt gerade 40 Jahre her, als wir am Rande eines Atomkriegs standen; da war die Kuba Krise. Ich habe gerade einen Artikel darüber gelesen. Es ist wirklich sehr interessant, wie es dazu hätte kommen können. Am Ende war der Chruschtschow meiner Meinung nach der Klügere von den Leuten. Er hat dann nachgegeben und es war kein spezieller Grund, warum er das tun sollte. Warum soll Russland keine Waffen in Kuba haben, wenn Amerika Waffen in der Türkei hat? Übrigens ist der Chruschtschow für mich ein gewisser Held, nicht nur deswegen, sondern auch wegen seiner Taten in Russland. Er war der Erste, der Stalin kritisierte, und er war wirklich eine interessante Figur, ein sehr einfacher Mensch. Man sollte sich an den Chruschtschow erinnern.
Die zweite Sache ist: Ich glaube, dass es der Welt möglich wäre, auf diese Waffen zu verzichten, und dies für die Länder der Welt – insbesondere für Amerika – viel besser wäre. Denn Amerika kann ohne diese Kernwaffen alles machen, was es will, und niemand kann an Amerika ran. Aber jeder kann Amerika mit einer Kernwaffe bedrohen. Also, warum? Ich glaube, das ist nur, weil das Militär es will. Für die Bevölkerung ist es einfach Wahnsinn diese Waffen zu wollen. Es nützt Amerika überhaupt nichts. Wenn die Atomwaffenländer sich zu der Ansicht durchringen könnten, dass sie besser ohne diese Waffen dran wären, was für mich einfach die Wahrheit ist, dann könnten sie sich einigen und auf diese Waffen verzichten. Sie könnten dann wohl auch einigermaßen sicher sein, dass der andere diese Waffen nicht behält. Es ist im Interesse von jedem, diese Waffen abzurüsten. Auch wenn die Menschen weiterhin Kernenergie nutzen, wäre es wohl möglich zu sichern, dass neue Waffen nicht gebaut werden, denn ein einziger Mann oder eine Terroristengruppe kann keine Atomwaffe bauen. Und ich glaube, dass auch der Irak dieses nicht versuchen würde, wenn jetzt die Atomwaffenländer abrüsten und zu einem atomwaffenfreien Zustand kommen würden.
Ich glaube, dass dieses die einzig richtige, die einzig mögliche Lösung für dieses Problem wäre. Amerika muss sich davon überzeugen, dass es in seinem Interesse ist, wirklich diese Waffen abzurüsten, und da sind wir noch nicht dabei. Amerika glaubt, dass diese Waffen notwendig sind. Die Politiker in Amerika meinen, dass Amerika sich gegen die Atomwaffen anderer Länder mit einer Raketenabwehr schützen und dabei alle anderen Länder mit Atomwaffen bedrohen kann. Amerika kann andere Länder bedrohen, das ist wahr, aber dass es sich nicht wirklich schützen kann, ist auch wahr. Ich glaube, diese Abwehr kann nie gut genug funktionieren.
Wie bewerten Sie das Vorgehen der USA gegen den Irak?
Ich bin sehr, sehr dagegen. Erst müssen wir verstehen, warum der Bush das macht. Und ich glaube, ich kann verstehen, warum er das macht, und es hat nichts mit dem Irak zu tun. Der Bush macht das, weil er gesehen hat, dass das, was er nach dem 11. September gemacht hat, ihm enorm geholfen hat in der amerikanischen Politik. Er hat gesagt, wir sind im Krieg, wir sind im Krieg mit den Terroristen. Und dieser Krieg hat ihm Popularität verschafft. Zehn Tage nach dem 11 . September hatte er in den Umfragen 90 Prozent. Und das war aufgrund des Krieges gegen den Terrorismus. Interessanterweise war den Amerikanern der Krieg recht, und das hat der Bush gesehen. Jetzt braucht er den Krieg und er lässt nun auch nicht mehr von ihm los.
Er hat diese Achse [des Bösen] mit Nord-Korea, Iran und Irak benannt. Er braucht jemanden zum Krieg, und das ist der Irak. Außerdem kommt noch dazu, dass es für Amerika sehr angenehm ist, dass sie das Öl dort kontrollieren können. Sie kontrollieren schon einen guten Teil des Öls aus der Region, aber nicht alles. Zum Beispiel drohen die Amerikaner Nord-Korea jetzt, dass sie die Zufuhr von Öl sperren wollen. Dies ist eine Drohung gegen die Atomwaffenentwicklung von Nord-Korea. Sie sollen garantieren, dass sie nicht weiter daran arbeiten, sonst bekommen sie kein Öl mehr. Die Amerikaner glauben, dass sie das Öl der Welt kontrollieren können.
Ich würde es begrüßen, wenn die deutsche Regierung sich unabhängiger macht von Amerika, solange Amerika so eigenmächtig vorgeht. Es ist für mich sehr wichtig, dass Europa Amerika nicht einfach so folgt, wie es in den letzten Jahrzehnten der Fall war. Und speziell hat mich sehr gefreut, dass der Fischer sich vor ungefähr fünf Jahren gegen die Raketenabwehrpläne Amerikas geäußert hat. Er war der erste in Europa, der sich dagegen ausgesprochen hat, obwohl sich vorher keine deutsche Regierung getraut hat, Amerika zu kritisieren. Sie hatten den Krieg verloren und haben sich zurückgehalten. Die waren Amerika dankbar für den Marshall-Plan nach dem Krieg und so weiter, das kann ich alles gut verstehen. Aber Fischers Kritik war die erste wirkliche Kritik an Amerika, und da war ich ihm wirklich sehr dankbar. Ich habe ihm damals einen Brief geschrieben, den ein Assistent beantwortet hat. Und ich hoffe, dass auch die deutsche Bevölkerung die Regierung dabei unterstützt, dass sie sich unabhängiger von Amerika macht.
Die gegenwärtige deutsche Regierung plant alle Atomkraftwerke in Deutschland abzuschalten. Wie denken Sie über dieses Vorhaben?
Ich bin der Meinung, dass unser jetziges Verhalten, nicht nur in Deutschland, sondern in der ganzen Welt, speziell in Amerika, die Umwelt durch unseren Verbrauch von Öl und Gas enorm schädigt. Diese Ressourcen sind sehr wichtig, aber in ein paar Generationen werden sie vollständig aufgebraucht sein. So werden eure Kinder ca. das Zehnfache des heutigen Preises für diese Rohstoffe zahlen. Dazu kommt noch das CO2. Das hat auf alle Fälle eine Auswirkung auf das Wetter. Wir hatten in Genf mehr Regen in diesem Herbst als je zuvor. Ich glaube, dass wir dieses Öl nicht so verbrennen sollten. Eine Möglichkeit ist, dass wir weniger Energie verbrauchen, viel weniger, und ich wäre dazu bereit. Ich fahre mit meinem Fahrrad zum CERN, ich brauche keinen Wagen mehr. Ich glaube, wir könnten es schaffen, weniger von dem Zeug zu verbrauchen. Unsere Eltern haben das fertiggebracht, und ich glaube, wir können das auch. Ich denke allerdings nicht, dass wir mit regenerativen Energien so weiterleben können wie bisher. Dazu sind einfach die Möglichkeiten zu gering. Ich könnte mir 10%, vielleicht 15%, vielleicht sogar 20% Energieversorgung mit regenerativen Energien vorstellen, mehr aber auch nicht. Wenn die Leute darauf bestehen, so viel Energie zu verbrauchen wie bisher, dann bin ich für Atomenergie. Lieber wäre es mir noch, wenn wir uns ohne die Atomenergie helfen könnten, insbesondere aber ohne das Öl. Die Risiken der Atomenergie fürchte ich nicht so wie die Gefahren, die mit der Verbrennung von Öl und Gas verbunden sind.
Was gibt es für Unterschiede zwischen der Forschung in Europa und den USA?
Also, alles hat seine Geschichte. Übrigens ist die Forschung überall auf der Welt wesentlich stärker geworden. In der Forschung sind heute im Verhältnis vielleicht zehn Mal so viele Menschen tätig wie vor 100 Jahren.
Wegen des Krieges und wegen der Nazizeit hatte die Forschung in Deutschland und Europa sehr gelitten und Amerika hat sehr große Fortschritte gemacht. Zu meiner Zeit, d. h. in den Jahren nach dem zweiten Weltkrieg, war Amerika absolut führend. Das war ein Grund für den Bau des Laboratoriums, an dem ich jetzt schon so lange arbeite. Aber solche Laboratorien kosten sehr viel Geld, so dass Europa sich zusammen getan hat, um das verwirklichen zu können. In den ersten Jahren war das CERN technisch sehr gut, aber die Forschung hatte noch kein allzu hohes Niveau. Aber jetzt hat sich das geändert. In den 70er/80er Jahren war das CERN das großartigste Laboratorium, das es auf der Welt gab. In Deutschland, in Europa werden in meinem Fach und in anderen Bereichen auch wieder große Fortschritte gemacht. Aber Amerika ist doch wahrscheinlich in der Wissenschaft noch immer das stärkste Land. Man muss jedoch eines wissen: Die Wissenschaft, jedenfalls die, die mich interessiert, die ist einfach international. Sie ist jedem zugänglich. Jeder kann alles über die Fortschritte in den Wissenschaften lesen. Und es macht nichts aus, ob sie in Deutschland oder in Japan gemacht werden.
An welchen Instituten findet Forschung überwiegend statt?
Es gibt natürlich viele verschiedene Branchen der Wissenschaft und ich kenne mich nicht überall gut genug aus. Deswegen ist es schwierig für mich, die Frage zu beantworten. In meiner Branche, in der Teilchenphysik, kann man an den Universitäten wirklich nicht mehr viel machen. Früher war dies einmal möglich. Es kann zwar eine Gruppe an einer Universität arbeiten, aber das Laboratorium selber, also die Teilchenbeschleuniger und Detektoren, kann man dort nicht haben. Man kann an den Universitäten Theorie betreiben und Daten mit dem Computer auswerten, was übrigens die meisten meiner Kollegen tun. Aber die Daten müssen in großen Centern gesammelt werden, wie bei uns in Genf.
In Genf sind wir vielleicht ein paar hundert Physiker, die von dem Laboratorium angestellt sind. Aber es sind vielleicht 10.000 Physiker auf der ganzen Welt, die die Daten benutzen. Und die kommen typischerweise ein paar Wochen ans CERN zu einer Konferenz oder um bei der Datenaufnahme oder dem Aufbau zu helfen, und dann gehen sie heim. Zu Hause haben sie ihren Computer und die Daten sind ihnen zur Auswertung zugänglich. So funktioniert die Forschung in meiner Branche. Und es gibt nur etwa ein halbes Dutzend vergleichbare Laboratorien auf der Welt.
Ich weiß von meiner Frau auch, wie die Leute in der Biologie in Genf arbeiten, und jene kann man noch ganz gut an der Universität betreiben.
Wir würden gerne wissen, wie wichtig für Sie der Kontakt zu Kollegen ist.
Oh, der ist für mich enorm wichtig. Es gibt Kollegen, die einfach alleine arbeiten können, aber ich muss mit anderen Leuten reden können, um etwas zu verstehen. Es ist für mich undenkbar alleine zu arbeiten. Ich glaube, das ist für die meisten Leute so. Und in der heutigen Physik geht das noch viel weiter. Alleine kann da niemand mehr etwas machen. An den Detektoren für das neue Experiment, das jetzt am CERN vorbereitet wird und in einigen Jahren fertig sein soll, arbeiten mehrere tausend Menschen. Das war früher ganz undenkbar. Ich habe meine Doktorarbeit ganz alleine gemacht. In der Biologie ist das immer noch viel einfacher. Da kann man vielleicht auch manchmal alleine forschen. Da kenne ich mich weniger aus.
Ich will einfach klarmachen, dass die heutige Wissenschaft nicht von einigen großartigen Leuten vorangetrieben wird. Vielleicht gab es das einmal, bei Einstein etwa, aber die Zeiten sind vorbei. Die Wissenschaft ist heute eine sehr soziale Sache, an der sehr viele Leute beteiligt sind. Einer erzielt einen Fortschritt hier, ein anderer dort, und die Gesellschaft trägt durch finanzielle Förderung dazu bei [schmunzelt]. Ich bezweifle, dass eine Sache wie der Nobelpreis für einen einzelnen Forscher gerechtfertigt werden kann, denn es ist nicht so, dass einige von uns mehr gemacht haben als andere. Alle tragen mit kleinen Schritten zu neuen Forschungsergebnissen bei.
Herr Professor Steinberger, wir bedanken uns ganz herzlich dafür, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben.