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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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Interview mit
Friedrich Schorlemmer
am 21. September 2012 in Wittenberg [1]

Im Rahmen der Auricher Wissenschaftstage besuchten Schüler des Ulricianums den DDR-Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer in seiner Heimatstadt Lutherstadt-Wittenberg (Sachsen-Anhalt). Der ehemalige Pastor war Mitglied der oppositionellen Friedens- und Menschenrechtsbewegung in der DDR. Besonderes Aufsehen erregte Schorlemmer, als auf dem Kirchentag 1983 unter seiner Verantwortung Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet wurden, obwohl DDR-Behörden den öffentlichen Gebrauch des Slogans „Schwerter zu Pflugscharen“ für illegal erklärt hatten.

Am 21. September empfing der Theologe die Schülerinnen Dana Oltmanns, Julia Reiners sowie die Abiturienten Kilian Tuschling und Volko Krull in Begleitung der Geschichtslehrer Ulrich Glorius und Ralf Jansing im Wohnzimmer seiner Wittenberger Altbauwohnung. [2]

Dana: Ich würde gerne wissen, was Sie dazu veranlasst hat, vom Theologen zum Bürgerrechtler zu werden.

Foto vom Gespräch mit Friedrich Schorlemmer, 13 k

Schorlemmer: Das Wort „Bürgerrechtler“ ist eine Erfindung westlicher Journalisten. Es ist bis heute nicht klar, wer als Erster ‘drauf kam. Es ist ein Versuch, eine Bezeichnung für Menschen zu finden, die in einer Diktatur, wo die Bürgerechte vorenthalten wurden, kämpften […]. Also sagen wir, dass Bürgerrechtler Menschen sind, die, von niemandem beauftragt, eine Aufgabe in sich fühlen, für andere Menschen und Bürger zu handeln […], und nicht nur sagen „Wie komme ich so für mich durch?“ […]. Es ist jemand, der keine Angst davor hat, alleine dazustehen.

Ein für mich prägender Bürgerrechtler war der französische Philosoph und Schriftsteller Albert Camus. Mit seinen Schriften „Verteidigung der Freiheit“ oder seiner Nobelpreisrede hat er mich sehr fasziniert. Als junger Mann habe ich mit Begeisterung Don Carlos gelesen, und aus der biblischen Tradition ist es für mich besonders der Prophet Jeremia, der den Mächtigen ins Gewissen redet. Mit dem, was sie schrieben, wollten sie eben auch frei machen von Unrecht, von Not und von Bevormundung.

Für mich persönlich stellt sich nicht nur die Frage, wovon ich frei bin, sondern auch wofür. Außerdem hat für mich immer das Evangelische-Pfarrer-Sein und der Bürgerrechtler eine Einheit dargestellt. Deswegen habe ich auch in meinem ganzen Werdegang immer Theologie betrieben, habe immer gelesen und wollte Politologie studieren; doch dann kam die Mauer dazwischen.

Julia: Wussten Sie eigentlich damals, dass Sie von der Stasi überwacht wurden?

Schorlemmer: Ja, aber da ist auch nichts Heldenhaftes bei, sodass man damit hausieren kann. Es war nicht schön. […] Dass wirklich jemand von der Stasi für mich da ist, um mich zu überwachen, merkte ich, als ich 14 Jahre alt war. Da hat mir ein 17-jähriger aus der 11. Klasse gesagt: „Schorlemmer, hier keine religiöse Propaganda!“ Der wurde also beauftragt, mich zu bespitzeln. Und der war wütend, weil er von einem 2er-Zimmer zurück in ein 4er-Zimmer ziehen musste. Sein Auftrag von der FDJ war, mich zu neutralisieren – da war ich 14!

Als ich dann anfing 1958 zu studieren, habe ich es auf dem Theologenball auf dem Pissoir gemerkt. Da kam einer auf mich zu und sagte: „Du bist doch der Schorlemmer?" Daraufhin habe ich gesagt: „Ja, was wollen sie?“ „Ich rate dir nur, sieh dich ein bisschen vor, du und der Winkelmann!“ Später jedoch war die Güte Gottes größer, denn ich kam mit Winkelmann und noch einem auf‘s Zimmer. Wir verstanden uns herrlich – hatten alle den Wehrdienst verweigert. Seitdem ging es los.

Ihr müsst euch das mal vorstellen: Insgesamt waren da 25 Theologie-Studenten – 5 davon haben für die Stasi gearbeitet, 2 haben wir schon während des Studiums ‘rausbekommen. Mit einem davon habe ich am meisten über die Stasi geredet, der hat mich immer beruhigt. 1977 habe ich dann die höchste Stufe der Überwachung erreicht. Diese hieß OV – Operativer Vorgang. Und diese Leute haben dann auch eine OPK bekommen, eine Operative Personenkontrolle. Ich hieß damals OV Johannes, weil die Stasi wusste, dass mir Johannes in der Bibel sehr wichtig war.

Später habe ich einen Aufsatz gefunden, warum ich ein OV war. Der Major, der für mich zuständig war, hat über 600 Adressen aufgeschrieben, wo ich überall war und wen ich besucht habe. Ich hatte guten – sehr guten – Kontakt zu den amerikanischen Diplomaten, und die haben ihre Berichte im Durchschlag ja auch immer an die CIA weitergegeben. Dadurch galt ich dann als CIA-Agent. Reden, die ich gehalten habe, sollten nicht von mir gewesen sein. Mir wurde vorgeworfen, dass ich mich in der Mittagspause, bevor ich meine Rede gehalten habe, mit der CIA getroffen habe und die mir meine Reden gegeben haben. Ich will nur sagen: In der Telefonzentrale wurde alles abgehört, in der Briefzentrale alles kontrolliert. Das alles hat mir der Major erzählt, mit dem ich 1992 ein Gespräch hatte, der mir erzählte, wie es war mich zu überwachen. Das war hart für mich, als da jemand saß, der sagte: „Herr Pfarrer, ich habe meine Arbeit gerne gemacht. Und ihre Briefe – die waren alle sehr interessant für mich zu lesen und ich habe richtig Entzugserscheinungen.“ Der wollte also auch noch, dass ich ihn bedauere. Da habe ich gedacht, was machst du jetzt? Schmeißt du ihn ‘raus?

Glorius: Also wussten Sie, dass Ihre Briefe gelesen wurden?

Schorlemmer: Ich habe damit gerechnet, es mir jedoch nicht genau vor Augen geführt, weil man dann nämlich nicht mehr leben kann. Man muss sich selbst immer sagen, dass Freiheit kein Geschenk, sondern eine Aufgabe ist.

Dana: Es gibt ja ab und zu die Filme über die DDR, wo die Stasi in Häuser einbricht und alles verwanzt. Hatten Sie davor auch Angst, dass egal, was Sie sagen, immer noch jemand „dabei“ ist?

Schorlemmer: Nein, ich habe nicht so damit gerechnet, dass sie das so perfekt machen. Das alles habe ich erst ‘92 erfahren, dass sie durch die Steckdosen, wo die Wanzen unter anderem drinsaßen, und durch die Wohnaufzeichnungen genauestens ermitteln konnten, wo jemand saß und was gesprochen wurde […].

Doch muss ich sagen, dass ich mir nicht jeden Tag darüber Gedanken gemacht habe, und darüber bin ich so glücklich, denn wenn ich es gemacht hätte, dann hätte ich auch nicht mehr leben können. Ich habe auch früh entdeckt, dass keiner mehr Angst hat als die Angstmacher selber. Auch die IMs, die eingesetzt wurden, hatten wahnsinnige Angst vor Entdeckung. Stalin z. B., der Angst machte, selber aber am meisten Angst hatte. Er war ein von Ängsten geplagter, im Tiefen von Misstrauen zerfressener, einsamer Mensch – das sag ich jetzt mal als Pfarrer. Stalin war neben Hitler der größte Verbrecher.

Ich kann sagen, dass mein Leben nicht von der Stasi geprägt wurde, sondern vom lieben Gott. Mit Gott meine ich auch, von einem Grundvertrauen, dass es Recht ist, was ich tue, dass ich Freunde habe, denen ich vertrauen kann, dass ich aufgenommen bin in einer Kirche, die mich nicht fallen lässt, wenn ich von der Stasi eingebuchtet werde. Mein Grundvertrauen spricht sich in Psalm 28 aus:„Der Herr ist mein Hirte, mir wird es an nichts mangeln, und ob ich schon wandere im finstern Tal.“ Man muss sich selber auch gut zureden und so was wie eine Zuversicht gewinnen, damit man nicht in die aufgestellten Fallen tappt oder aus lauter Angst, dass irgendwo Fallen sein könnten, keinen Schritt mehr geht.

Trotz alledem will ich nicht nur erzählen, was schrecklich war, sondern auch das, was schön war oder was trotzdem ging, oder das, was wir uns an Lebensraum genommen und erkämpft hatten. Es wurde gesagt, dass die DDR eine Nischengesellschaft war. Das will ich auch gar nicht abstreiten, es gab viele von solchen Nischen. Doch ich habe mich nie in eine Nische zurückgezogen, sondern eher in einer Kontrastgesellschaft gelebt. Wir haben ein anderes Leben in einem anderen Leben geführt. Ich finde die Redewendung, dass es kein wahres Leben im falschen gäbe, falsch, denn auch im falschen Leben gibt es ein wahres.

Julia: Also, Sie sollen ja damals eher gegen die Wiedervereinigung gewesen sein oder vielleicht haben Sie‘s auch einfach nicht so wahrgenommen, dass das vielleicht mal passieren könnte – Sie können jetzt mal sagen, ob das so stimmt.

Schorlemmer: Ja, was sich da wiederholt, ist lediglich … das sind so die Chimären, auf die sich die freie Gesellschaft einigt – für oder gegen die Vereinigung.

Kilian: Und, 22 Jahre später, sehen Sie das genauso?

Schorlemmer: Ja, ich seh‘ das ganz genauso, ja. Das ist falsch: Man kann diese Alternative so überhaupt nicht aufmachen. Es gibt nicht die Alternativen für die Vereinigung oder gegen die Vereinigung.

Drei Dinge sind dazu zu sagen: Erstens: Es ist keine Wiedervereinigung, sondern es ist eine Vereinigung. Dieses Deutschland hat es so noch nie gegeben. Wiedervereinigung wäre, als wenn wir schon mal zusammen gewesen wären. Nein. Dieses Deutschland, was an der Oder endet, ist ein Produkt von Jalta und der Nachkriegsordnung und wir sind dann vereinigt worden. Also deswegen hat mein hero – sagt man wohl, ‘ne? – Willy Brandt eben auch immer von Vereinigung gesprochen – Neuvereinigung. Eine Vereinigung. Das ist das erste: Keine Wiedervereinigung ist das.

Zweitens: Ich war mir mit Genscher und anderen Außenpolitikern aller Parteien sehr einig, dass wir alles tun müssen, damit nicht der sowjetische Sicherheits- und militärische Komplex zuschlägt, Gorbatschow wegfegt und Ligatschow an die Spitze setzt. Wenn die diesen Aufstand von 1991 <sic> zwölf Monate vorher gemacht hätten, hätten die noch ganz andere Machtmittel in der Hand gehabt. […] Und wenn die Russen den Eindruck haben, die Deutschen wollen sich vereinigen, dann werden die sagen: Jetzt schlagen wir zu, das kommt nicht in Frage. Wir haben noch immer den 22. Juni 1941 in den Knochen. […] Ich dachte, wenn die zuschlagen, dann schlägt sich alles kaputt, deswegen war mir das „D“ der Demokratie zunächst so wichtig, und nicht das „D“ Deutschlands. Das war/ist der zweite Grund […].

Und der dritte Grund, der ist nach wie vor für mich wichtig: Ich wollte, dass wir als ein eigenständiges Subjekt in die Bundesrepublik kommen und nicht als Konkursmasse. […] Ich wollte gern, dass wir als ein eigenständiges Subjekt mit unseren Erfahrungen … <wahrgenommen werden>.

Volko: Denken Sie, dass es heutzutage an bestimmten Stellen noch an Bürgerrechten fehlt oder an Menschenrechten?

Schorlemmer: Ja, das denke ich. Ich denke in zwei Richtungen. Generell ist es so, dass die Integration der Menschen aus anderen kulturellen Hintergründen, die bei uns leben, dass die innerlich noch nicht genügend vollzogen ist. Da muss natürlich eine Bringleistung von uns sein und eine Bringleistung von denen. Man kann nicht einfach wie Wulff sagen, dass der Islam jetzt zu Deutschland gehört. Der Islam gehört nicht zu Deutschland, aber die Muslime, die bei uns wohnen. Das hat Gauck richtig dargestellt. Das finde ich richtig, aber ich möchte nicht, dass der Islam zu Deutschland gehört. Das ist eine andere Kultur und ich möchte dies nicht! Ich möchte dieses Verhältnis zwischen Frauen und Männern nicht wieder haben, auch nicht nur wegen der Frauen, sondern weil ich es gut finde, wenn Frauen gleichberechtigt sind. Das ist jetzt nicht nur die Gönnerhaltung des Mannes. Nein, ich finde es einfach schön, wenn das so ist. Und dass sie das nicht kopieren, also nicht dass die Frau ihren Mann steht, das mein ich nicht, sondern dass die Frau mit ihren besonderen Begabungen, von ihrer anderen Konstitution her, wirksamer wird.

Zweitens: Bürgerrechte werden auch nur in dem Maße wirksam, wie Leute sie einfordern. Das heißt, dass unsere Demokratie ein Mitmachtdefizit <sic> hat. Und da kann man nicht dem Staat den Vorwurf machen. Ich bin Sozialdemokrat, von meiner ganzen Überzeugung her, und bin auch in dieser Partei, was auch nicht so leicht ist, aber ich bin da noch drin. Ich bleib da auch drin. Wo soll ich den hintreten? Austreten kann man ja, aber wo soll man dann hintreten?

Julia: Piratenpartei?

Schorlemmer: Ja, zum Beispiel. Ich finde, die sollten ein großes Zirkuszelt aufbauen und da dann mal miteinander auskommen.

Julia: Ja, da haben die bloß leider nicht genug Steckdosen für die ganzen Computer.

Schorlemmer: Ja, die haben ja eine Politikerin, die ich mehrfach kennengelernt habe, Frau Weisband, die war völlig in Ordnung, aber die hat zu wenig von sich selber gewusst und auch von Menschen, also wie Menschen so sind. Sie meinte, man muss mit völliger Transparenz durchs Leben gehen. Einige Dinge sind nicht transparent, die gehören nur einem Einzelnen.

Glorius: Obwohl, das müsste doch gerade für Sie als DDR-Bürgerrechtler, auch wenn sie das Wort nicht mögen, eine schöne Vorstellung sein.

Schorlemmer: Nein, nein. Das ist eine schreckliche Vorstellung. Ein Bürgerrechtler zu sein bedeutet auch, ich möchte die Bürgerrechte wahrnehmen, aber auch den privaten Raum geschützt haben.

Anmerkungen

[1]

Der Text folgt im Wortlaut der im Jahrbuch 2013 des Ulricianums auf den Seiten 60 bis 62 abgedruckten Fassung.

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[2]

Ein Bericht von diesem Besuch ist ebenfalls verfügbar.

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