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Helmut Schmidt
im Gespräch mit Auricher Schülern (III)

Helmut Schmidt während des Interviews mit Auricher Schülern, 30 k

Foto: Scherb

Ich würde gerne noch das Thema Bildung, Schule, vor allem in Bezug auf die Globalisierung ansprechen. Sie haben ja zum Problem der Globalisierung ein Buch geschrieben und haben darin zu den kulturellen Herausforderungen ausführlich Stellung bezogen. Ich bedauere aber, daß Sie nur auf die Beziehung der Universitäten zur Globalisierung eingegangen sind und nur wenig zur Stellung des übrigen Schulwesens gesagt haben. Wie, glauben Sie, müßte das Schulwesen umgestaltet werden, um der Globalisierung gerecht zu werden?

Ich bin ein Gegner von dauernden Schulreformen, muß ich Ihnen ganz offen sagen. Ich weiß nicht, wie viele Schulreformen ich miterlebt habe von weitem, in vielen Fällen aus Idealismus geschehen, in anderen Fällen, um die Gehaltstabelle der Lehrer anzuheben.

Meine eigene Erfahrung mit Schule – ich bin 1925 zur Schule gekommen und habe 1937 Abitur gemacht – meine eigene Erfahrung mit Schule war, daß ich meiner Schule ewig dankbar sein werde, weil sie mich gezwungen hat, selbständig zu arbeiten. Völlig verschiedene Themen, und dem Jungen wurde gesagt, also nun mach das mal. „Ich hab‘ doch keine Ahnung davon.“ „Ja, streng dich gefälligst an!“ Und dann hat man ihm ein bißchen geholfen und er hat sich Mühe gegeben. Die jungen Menschen dazu zu bringen, selbständig zu arbeiten, das ist das Wichtigste. Die Form der Schule ist nicht so wichtig. Das, was Sie in der Schule lernen, insbesondere in den Naturwissenschaften, ist sowieso mit Ausnahmen in 12 Jahren veraltet. Was Sie lernen müssen, ist, wie man lernt. Das ist das Entscheidende. Bei Sprachen ist das was anderes. Was Sie in Sprachen lernen, ist nicht in 12 Jahren veraltet. Da kommen vielleicht ein paar Ausdrücke hinzu, aber Fremdsprachenkenntnisse veralten nicht. Musik veraltet auch nicht. Und Goethe und Lessing veralten auch nicht. Das Entscheidende ist nicht, daß Sie alles mögliche auswendig hersagen können, sondern das Entscheidende ist, wie man Wissen erwirbt.

Sie sagen, Sie sind kein großer Freund von Schulreformen. Aber denken Sie nicht, daß im Moment doch einige Reformen notwendig sind?

Das kann ich nicht beurteilen. Ich bin lange nicht zur Schule gegangen, ich weiß es nicht. Ich sehe nur, wenn ich in ein Schulgebäude komme, daß es aussieht wie ein Schweinestall. Und daß die Lehrer und Direktoren sich das gefallen lassen, macht sie in meinen Augen auch zu Schweinestallinhabern. Eine Schule, die es zuläßt, daß nicht nur die Korridore, sondern auch die Lokusse mit allen möglichen Parolen und pornographischen Zeichnungen verziert sind, und die die Schüler nicht zwingt, die Schule selber wieder sauber zu machen, ist in meinen Augen eine schlechte Schule. Und wenn sie das täte, dann wäre das besser als eine Reform ihres Unterrichts in Mathematik oder Physik.

Ich möchte gerne wissen, ob man nicht einfach die Lehrpläne korrigieren soll?

Da weiß ich nicht, in welcher Richtung. Ich muß Ihnen sagen, ich weiß nicht, was in der Schule geschieht. Aber der Lehrplan ist nicht so wichtig wie der Lehrer oder die Lehrerin. Die sind viel wichtiger. Wenn sie junge Menschen begeistern können, etwas zu lernen oder etwas zu machen, dann sind sie gute Lehrer. Der Stoff, das ist alles nicht so wichtig. Wichtig ist zu lernen, wie man lernt, und wie man selbständig arbeitet. Arbeitsplätze von jemand anders zu verlangen ist eine legitime Sache. Aber jemand, der selber Arbeitsplätze für andere schafft, das ist einer, der meinen Respekt hat. Und jemand, der Arbeitsplätze schafft, das ist einer, der selbständig arbeiten kann, der was zustande bringt. Und das kann man durchaus auch in den späteren Klassen, so von Beginn der Pubertät an, an der Schule lernen, wie man was zustande bringt, wie man was macht.

Ich möchte jetzt über ein anderes Thema sprechen, und zwar über Europa. Sie sind ja, wenn ich so sagen darf, Mitbegründer des Europäischen Währungssystems. Demnach dürfte es Sie ja eigentlich freuen, daß nun nach 28 Jahren der Euro endlich Realität wird. Nur fällt die Geburt des Euros und die frühen Jahre, die für die Stabilität der Währung von immenser Bedeutung sind, in eine Zeit des wirtschaftlichen Umbruchs in Europa. Ich denke da zum einen an den Zerfall des Ostblocks, jetzt ganz aktuell die Rußlandkrise, oder auch gerade wegen der Änderungen in der Weltwirtschaft im allgemeinen. Sie haben vorhin schon gesagt, daß viele Unternehmen mit dem Gedanken spielen, ihre Kapazitäten in Länder der dritten Welt umzusiedeln. Welche Risiken entstehen Ihrer Meinung nach dadurch, daß der Euro in dieser Zeit eingeführt wird? Mit welchen Problemen haben wir zu rechnen?

Mit gar keinen. Wir können von Glück sagen, daß der Euro jetzt eingeführt wird, am 1. Januar. Er verbreitet bereits jetzt an den Börsen der Welt so viel Stabilität, daß kein Großspekulant sich zutraut, die italienische Lira, den französischen Franc oder die deutsche Mark anzufassen, während sie sich durchaus zutrauen, den Yen ins Rutschen zu bringen, den Rubel sowieso. Schon heute, obwohl es ihn offiziell noch nicht gibt, ist der Euro so stark, daß die europäischen Währungen fast untangiert sind durch die wilden Verrücktheiten auf den Währungsmärkten. Ich sehe für den Euro überhaupt keine Risiken. Habe ich nie gesehen! Es hat in Deutschland zuviele Quatschköpfe gegeben, mit Professorentitel und Doktortitel ausgestattet. Präsidenten von allen möglichen Instituten und Banken, die alle möglichen Warnungen ausgesprochen und dem deutschen Volk vorgemacht haben, das sei aber alles sehr riskant.

Diese Leute hatten sehr eigensüchtige Gründe. Die waren nämlich bisher Chef einer Zentralbank. Von niemandem kontrolliert. Herr ihrer selbst. Kein Bundestag konnte ihnen was sagen, kein Kanzler, niemand. Und nun sollen sie Filialdirektoren werden in Zukunft. Das hat ihnen sehr mißfallen. Kann ich verstehen, aber darüber mußte man sich hinwegsetzen. Hat der Kohl gemacht, hat er Recht gehabt.

Wenn es den Euro heute nicht gäbe, wäre die italienische Währung im Lauf der letzten vier Wochen ins Rutschen gebracht worden. Mit absoluter Sicherheit! Ich komme gerade aus Italien, die Leute sind alle ganz glücklich, die italienische Industrie, daß es den Euro gibt.

Welches Prinzip sehen sie denn für den Euro als effektiver an, die Forderung der BRD nach einer unabhängigen Zentralbank oder die Frankreichs, daß ihr ein Wirtschaftsrat gegenüber gestellt wird, der Einfluß hat?

Die europäische Zentralbank, die den Euro zu managen haben wird, ist genauso unabhängig wie die Bundesbank bisher war. Sie ist sogar noch unabhängiger, denn ein Bundesbankpräsident hat eine gewisse Amtsperiode – sechs Jahre – und dann wollte er gerne wieder ernannt werden. Und infolgedessen benimmt er sich so, daß der Kanzler ihn wieder ernennt. Bei der europäischen Zentralbank ist es ausgeschlossen, daß nach Ablauf einer Amtsperiode jemand ein zweites Mal ernannt wird. Das ist eine institutionelle Sicherung seiner Unabhängigkeit. Ich bin für eine unabhängige Zentralbank, aber ich bin dagegen, daß eine unabhängige Zentralbank sich über Dinge äußert, die sie nichts angehen. Die deutsche Bundesbank äußert sich über alles und jedes. Sie äußert sich zu Mieten, äußert sich zur Agrarpolitik, meistens sehr klug, aber was geht es sie an? Nichts. Dazu ist der Bundestag da und die Regierung. Die nützen ihre Unabhängigkeit über Gebühr aus.

Sie haben ja des öfteren schon gesagt, daß Sie sich Poppers Prinzip des piecemeal engineering zu eigen gemacht haben. In einem ihrer Zeitartikel stand, ich zitiere: „Die törichten westlichen Ratschläge, eine 80 Jahre alte Kommando- und Rüstungsindustrie in einem Aufwasch auf eine zivile Marktwirtschaft umzustellen, haben mehr Schaden angerichtet als Nutzen gestiftet.“ Sehen Sie darin Poppers Prinzip bestätigt, daß eine solche Änderung step by step durchgeführt werden muß?

Der Umbau der sowjetischen Wirtschaft auf eine erstens an zivilen Interessen orientierte Wirtschaft, zweitens am Ausgleich von Marktpreisen und Mengen am Markt orientierte Wirtschaft, drittens außerdem zu einem gewissen Maß an sozialer Gerechtigkeit orientierte Wirtschaft kann nicht im Handumdrehen erfolgen. Und diese Professoren da aus Harvard oder wo sie sonst hergekommen sind, die wußten davon nicht genug. Die kannten auch weder russische Geschichte noch die russische Seele. Ich habe einem von ihnen empfohlen, er soll erstmal Dostojewski lesen, und dann soll er Tolstoi, Lermontov, Levkov und Puschkin lesen, um zu wissen, was Rußland ist. Und dann kann er anfangen, sich über russische Wirtschaft Gedanken zu machen. Im Vergleich dazu hat Deng Xiaoping ganz schrittweise angefangen. Er hat entlang der chinesischen Küste drei oder vier Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, so als ob sie das Emsland zu einer Sonderwirtschaftszone machen und sagen, bei euch fangen wir mal an mit Marktwirtschaft. Mal sehen, wie es läuft. Und es lief ganz gut, und dann hat er aus ein paar Sonderwirtschaftszonen viele gemacht. Und das lief auch sehr gut und dann hat er noch mehr daraus gemacht und das langsam ins Hinterland ausgeweitet mit bisher jedenfalls glänzenden Ergebnissen, mit jährlichen Wachstumsraten seit 1990/91 von 8, 9 und 10 Prozent real, während die Russen umgekehrt jährliche Schrumpfungsraten in der gleichen Größenordnung zustande gebracht haben dank aller möglichen dusseligen westlichen Ratschläge und dank ihrer eigenen Dummheiten. Da gab es Leute, auch in Rußland, die gemeint haben, wir machen über Nacht Marktwirtschaft und übermorgen haben wir alle ein Auto. Ja, haben die sich so vorgestellt. Das Prinzip des schrittweisen Umbaus – der Popper hat das zu einem philosophischen Prinzip überhöht, das ist auch in Ordnung – ist jedenfalls im Bereich der Wirtschaft, aber wohl auch im Bereich der Politik, immer besser als das Prinzip der Revolution. Revolution schafft Tote, das ist alles, was man mit Sicherheit vorher sagen kann.

Medien und Politik stehen sich ja eigentlich diametral gegenüber. Da würde es mich interessieren, wie es Ihrerseits zum Frontenwechsel kam?

Ich halte das für ein bißchen zu einseitig zugespitzt mit diesem sogenannten diametralen Gegensatz. Viele der Leute, die in den Medien agieren, agieren in Wirklichkeit politisch. Wenn Sie in den letzten vier, fünf Wochen einige Zeitungen verfolgt haben, dann ist ganz deutlich, einige Zeitungen machen Politik für Herrn Kohl. Andere machen Politik für Herrn Schröder. Das ist kein diametraler Gegensatz zwischen den Medien und der Politik, das ist ein diametraler Gegensatz zwischen Herrn Kohl und Herrn Schröder. Also, der Gegensatz zwischen Medien und Politik ist theoretisch.

Mein Wechsel in die ZEIT, das war etwas sehr Normales. Ich kannte die ZEIT seit 1946 oder 1947 und habe sie abonniert zig Jahre lang, habe sie immer gerne gelesen und dann habe ich für sie gearbeitet. Da war kein Gegensatz zu überwinden.

Eine allerletzte Frage. Sie können ja nun auf viele überaus interessante Jahre zurückblicken. Und da würde es mich ganz einfach interessieren, was der rote Faden ist, der sich durch Ihr Leben zieht. Kurz, einfach Ihr Lebensmotto.

Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.

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