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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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Helmut Schmidt
im Gespräch mit Auricher Schülern (II)

Helmut Schmidt signiert das Gästebuch, 30 k

Foto: Scherb

Wie sehen Sie unsere Erde in 100 Jahren, insbesondere im Hinblick auf den Umweltschutz?

Das hängt nicht vom Umweltschutz, sondern von der Vermehrung der Weltbevölkerung ab. Zu Beginn dieses Jahrhunderts lebten auf der Welt 1600 Millionen Menschen, 1,6 Milliarden. Zur Zeit des Rabbis Jesus von Nazareth lebten auf der Welt 200, maximal 250 Millionen Menschen. Man weiß das nicht so genau. Nehmen wir mal an 200 Millionen, läßt sich leichter rechnen. Dann haben wir 19 Jahrhunderte gebraucht, um uns zu verachtfachen von 200 Millionen auf 1600 Millionen zu Beginn unseres Jahrhunderts. In diesem einzigen 20. Jahrhundert hat sich die Menschheit noch mal vervierfacht. Wir sind gegenwärtig über 6 Milliarden Menschen. Und diese Vervielfachung geht weiter. Im Jahre 2020 werden wir bei 8 Milliarden Menschen stehen. Die wollen alle ihr Essen kochen. Hunderte von Millionen von denen wollen im Auto fahren. Zig Millionen von denen wollen mit Flugzeugen fliegen. Alle produzieren Abgase, Abwässer etc. Die ungewöhnliche Vermehrung der Spezies Homo sapiens ist dasjenige, was die Welt gefährdet. Sie können nicht verlangen, daß die Neugeborenen im Jahre 2020 darauf verzichten, ihr Essen zu kochen. Sie können nicht verlangen, daß die darauf verzichten, Auto zu fahren, und sie fahren hier munter Auto. Das heißt, das eigentliche Problem ist, die weitere Explosion der Erdbevölkerung zu dämpfen.

Es gibt zwei riesenhafte Entwicklungsländer, die das begriffen haben. Das eine ist China, heute ein Land von 1200 Millionen Menschen, das andere ist Indien, auch ein Entwicklungsland, beinahe 900 Millionen Menschen, heute beide weiterhin zunehmend in der Bevölkerungszahl. Die versuchen, die Geburtenhäufigkeit zu dämpfen, leider mit ziemlich brutalen und in meinen Augen zum Teil sogar ekelhaften Mitteln. Aber sie haben das Prinzip begriffen.

Wenn wir so weiter machen wie im Laufe der letzten 50 Jahre, brauchen wir uns über den Zustand der Welt im Jahre 2100 keine großen Sorgen mehr zu machen. Dann haben wir einen Krieg nach dem anderen in Asien, in Afrika, und möglicherweise auch in Lateinamerika. Nicht so sehr in Europa, denn hier wächst die Bevölkerung fast überhaupt nicht, sie schrumpft eher. Stattdessen strömen aber die Leute, die zuhause in Abessinien oder in Dahomé oder in Ghana oder sonstwo kein ausreichend Lohn und Brot für sich finden können, nach Mitteleuropa. Auf alle mögliche Weise. Sie behaupten, zu Hause verfolgt zu sein, was auch in Einzelfällen durchaus stimmen kann, und wollen hier Asyl haben. Das geht auf die Dauer nicht gut. Die Deutschen sind genauso wie die ganzen europäischen Völker nicht in der Lage, mit riesenhaften Minoritäten aus ganz anderen Kulturen so umzugehen, daß das friedlich abläuft. Wir haben heute 82 Millionen Menschen in Deutschland, davon 7 Millionen Ausländer, und es fängt an, sehr schwierig zu werden. Das ging alles ganz prima, solange es dreieinhalb Millionen Menschen waren. Jetzt sind es sieben. Zu erwarten ist, daß die Übervölkerung der Erde zu einem Wanderungsdruck in Richtung auf Nordamerika und auf Europa führen wird. Die Nordamerikaner versuchen sich dagegen abzuschirmen, die Europäer werden auch versuchen, sich dagegen abzuschirmen. Sie können sich aber nicht dagegen abschirmen, daß die Meere der Welt oder die Atmosphäre um den Erdball anderswo versaut werden. Davor können sich die Europäer nicht schützen. Da muß man ein Grüner sein, um zu glauben, daß die Welt genesen wird, wenn wir darauf verzichten, Auto zu fahren. Wird sie nicht!

Wo Sie gerade auf die Grünen zu sprechen kommen: Was halten Sie von deren Entwicklung in den letzten Jahren, und von den Forderungen in letzter Zeit?

Die Grünen sind im Laufe der letzten Jahre vernünftig geworden. Was mir bei ihnen mißfällt, ist, daß viel zuviel Leute aus dem öffentlichen Dienst, die keine Angst um ihren Arbeitsplatz haben müssen, alle möglichen idealistischen Forderungen aufstellen, zuwenig Leute, die in gewerblichen Berufen tätig sind, zuviel Professoren, viel zuwenig Facharbeiter … Was ich positiv sagen möchte: Sie haben inzwischen kapiert, daß der schönste Umweltschutz dem deutschen Volk nicht nützt und nicht frommt, wenn wir auf die Dauer bei 15 oder 16% Arbeitslosen stehenbleiben würden. Sie müssen sich vorstellen, Ostfriesland ist zwar, was Arbeitslosigkeit angeht, etwas schlechter dran als der Durchschnitt, aber nicht entfernt so schlecht wie Sachsen-Anhalt oder Mecklenburg-Vorpommern. Da gibt es Städte und Orte mit 40%, einige sogar mit 50% Arbeitslosen. Das sind nun allerdings Arbeitslosigkeitsziffern, die liegen höher, als wir sie in Deutschland 1932 erlebt haben, und die hohe Arbeitslosigkeit der Jahre 31/32 hat Adolf Nazi ans Ruder gebracht. Deswegen dürfen Sie sich nicht wundern, wenn in einigen Orten in Ostdeutschland Menschen politisch aus dem Ruder laufen vor Verzweiflung, vor Hoffnungslosigkeit. Und bei allem Respekt für jugendlichen Idealismus in Sachen Umweltschutz ist es daher wünschenswert, daß sie sehen, der Umweltschutz ist nicht das dickste Problem in Deutschland. Das dickste Problem liegt in der Arbeitslosigkeit und in den dafür verantwortlichen Feldern. Als ich mal Regierungschef war – Sie haben vorhin davon gesprochen, daß ich mich mal im Spaß als leitenden Angestellten des Staates bezeichnet habe –, da hatten wir sehr, sehr viel weniger Arbeitslose als heute. Das hängt zusammen mit dem gesetzgeberischen Schlendrian, den wir uns in den letzten 20 Jahren geleistet haben.

Ich will nochmal was zum Umweltschutz sagen und Sie auf eins aufmerksam machen: Es hat im Jahr 1997 in Kyoto, in Japan, und im Jahr 1992 in Rio de Janeiro, in Brasilien, zwei weltweite Konferenzen von Staatsregierungen gegeben, die darüber beraten haben, was man tun, oder genauer gesagt, was man lassen muß, um zu verhindern, daß die Atmosphäre und daß das Wasser weiterhin versaut wird. Und es hat es sich gezeigt, daß große Staaten, Amerika und China, gesagt haben: „Jawohl, es muß weniger Kohlendioxid, weniger Schwefeldioxid und was weiß ich alles in die Atmosphäre gelassen werden und dazu sollen gefälligst die Japaner und die Europäer beitragen, wir natürlich nicht.“ Insbesondere diese jüngste Konferenz in Kyoto im letzten Jahr hat deutlich gezeigt, daß eine Tendenz sich entwickelt, wonach die Großmächte den kleineren Staaten diktieren möchten, wer auf's Auto zu verzichten hat oder wer 5 Mark für den Liter Benzin zahlen soll und wer nicht. Das heißt, das Feld des Umweltschutzes wird zwangsläufig auch eines der vielen Felder, auf denen sich Machtpolitik tummeln wird. Das ist heute schon deutlich zu sehen.

Viele Artikel oder Berichte erwecken den Anschein, daß Sie während Ihrer Amtszeit ein Befürworter der Kernenergie waren. Wie beurteilen Sie die Entwicklung heute?

Ich war und bin immer noch ein Befürworter der Kernenergie, aber mit Maßen. Die Kernenergie bringt zwei, wenn Sie so wollen sogar drei Risiken mit sich. Das eine Risiko ist das des Unfalls, wie wir ihn zuerst auf Three Mile Island in Amerika und später in Tschernobyl in Rußland erlebt haben. Das zweite Risiko ist, daß bisher niemand wirklich weiß, was er auf die Dauer mit den abgebrannten Brennstäben tun soll. Und das dritte Risiko, wenn Sie so wollen, liegt in der Beschaffung von Uran. Das gibt es hier in Deutschland fast überhaupt nicht, das muß man importieren. Es gibt aber auch für denjenigen, der Öl verbrennt, drei Risiken.

Erstens, sie können nicht sicher sein, daß sie immer Öl kriegen. Ich erinnere zwei Welterdölkrisen, herbeigeführt durch die OPEC 1973/74 und noch einmal 1979. Insgesamt wurde dort durch politisches Diktat einer kleinen Gruppe von Ländern, die ein Oligopol bildeten, der Ölpreis auf die zwanzigfache Höhe getrieben. Das ist der erste Anlaß für Massenarbeitslosigkeit in Europa in den siebziger Jahren. Also, die Verfügbarkeit von Öl ist nicht selbstverständlich. Öl muß importiert werden. Das eigene Öl, das wir in Deutschland haben, reicht gerade zum Zähneputzen.

Das zweite Risiko ist das Umweltschutzrisiko. Wenn es keinen Unfall gibt bei Atomkraftwerken, dann sind die sehr viel sauberer für die Umwelt als das Verbrennen von Öl oder Erdgas. Jeder Kohlenwasserstoff, den sie verbrennen, ob das Öl ist oder Erdgas oder Braunkohle oder Holz oder Teer oder was immer, jeder Verbrennungsprozeß führt zu Kohlendioxid, Kohlenmonoxid und wie sie alle heißen. Nun kann man das alles zum Teil durch Filter und Katalysatoren dämpfen, aber nichts führt von der Tatsache weg, daß aus der Verbrennung von Kohlenstoff Kohlendioxid entsteht. Die Umweltgefährdung durch die Kohlenwasserstoffe ist unendlich viel größer als die durch die Kernkraft. Und dann gibt es noch ein paar andere Energiearten. Erstens: Wasserkraft. Leider haben wir keine großen Wasserfälle hier und auch keine großen Gebirge, wo man das Wasser von oben Turbinen antreiben lassen kann. Kommt für uns kaum in Frage. Für die Norweger schon oder für irgendwelche Leute, die an den Victoria-Fällen oder Niagara-Fällen sitzen. Die müssen dann zwar die Landschaft verschandeln, aber sie können daraus schöne Kraftwerke machen.

Solare Energie. Das ist das große Feld der Zukunft. Die Gewinnung und Verwendung solarer Energie für den Antrieb von Maschinen, Flugzeugen oder Automobilen oder zur Heizung der Wohnung oder zum Essenkochen, das ist die große Hoffnung für die Zukunft. Einstweilen jedoch viel zu teuer, überhaupt nicht konkurrenzfähig. Da liegt das Risiko nicht in der Schädigung der Umwelt, nicht in irgendwelchen Verbrennungsprodukten, sondern in den ungeheuren Kosten. Gegenwärtig reicht die Solarenergie aus, um das Zifferblatt Ihrer Armbanduhr zu beleuchten, und nicht zu viel mehr. Bis sie damit ein Auto antreiben können, das dauert noch seine Zeit. Und dann muß die Sonne außerdem noch scheinen. Und in Deutschland scheint nicht so viel Sonne. Die Sonne scheint in der Sahara. Wenn ich die ganze Sahara mit Spiegeln vollbaue und fange mit großen Spiegeln die Sonnenenergie auf und kann sie umwandeln in verflüssigten Wasserstoff, was schwierig ist, weil sie dann ganz niedrige Temperaturen brauchen von minus 200 und noch mehr Grad, und können diesen verflüssigten Wasserstoff nach Deutschland transportieren in großen Rohrleitungen, und wir verbrennen ihn hier – wenn sie Wasserstoff verbrennen, kommt nichts weiter raus als Dampf, wie Sie aus dem Chemieunterricht wissen. Also, mit der Sonnenenergie ließe sich was machen, wenn wir sie denn wirklich fruchtbar machen können.

Summenstrich unter das alles: Alle Energiearten haben ihre Risiken. Es gibt nichts auf der Welt ohne Risiko. Nicht einmal die Liebe zwischen Jungs und Mädchen ist ohne Risiko. Und ich war und bin für die Fortsetzung eines Teils unseres Energiekonsums in Gestalt von Kernenergie, weil ich noch nicht weiß, bei welcher Energieart die Risiken am größten sind. Jemand, der sagt, er weiß das aber, der hat eine vorgefaßte Meinung und keine Ahnung. Das kann man gegenwärtig noch nicht abschätzen. Deswegen bin ich immer noch der Meinung, daß wir gleichzeitig Energie verbrauchen sollten aus Kohlenwasserstoffen, sprich Öl und Gas, Kernenergie und erneuerbaren Energien. Vielleicht wird man dann in zwanzig oder dreißig oder vierzig Jahren deutlicher sehen, welche Risiken bei welcher Energieart schwerer wiegen als bei der anderen. Vielleicht ist dann auch in Sachen Solarenergie und Wasserstoffverflüssigung ein technologischer Fortschritt erzielt, der diese Art von Energie wirtschafflich werden läßt.

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