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Wenn nicht nur Zahlen und Figuren …

Romantische Elemente in der modernen Wissenschaft

Von Ernst Peter Fischer

Wenn ein Naturwissenschaftler unserer Zeit etwas als romantisch bezeichnet, ist dies negativ gemeint. Die romantische Medizin etwa gilt vielen heutigen Biowissenschaftlern als Inbegriff einer Zeit, die nichts anderes als therapeutischen Nihilismus anbieten konnte und in der man keine Ahnung davon hatte, wie Medikamente gesucht oder gar gefunden werden sollten, die verhindern konnten, daß so viele Menschen so früh und so jung ihr Leben verlieren. Man verklärte lieber den Tod, statt nach den Ursachen des Kindersterbens zu fragen, und man verbrachte zuviel Zeit mit dem Entwurf philosophischer Systeme und widmete sich zu wenig der empirischen Forschung und ihrer Systematik.

Viele der Abneigungen lassen sich nachvollziehen, und zwar vor allem dann, wenn aus der entgegengesetzten – sich verklärt romantischen gebenden – Ecke der Vorwurf zu hören ist, das Aufblühen der Wissenschaften im 19. Jahrhunderts und ihre Verwandlung in eine Produktivkraft könnten nur als Unglück verstanden werden, da diese Entwicklung letzten Endes am Menschen vorbeigehen und seine eigentlichen Bedürfnisse übersehen würde. Bei solchen Worten vermißt man einen Hinweis auf die vielen humanen Beiträge der Wissenschaft, die an dieser Stelle allein deswegen nicht aufgezählt werden, weil der traditionelle Fehler vermieden werden soll, den zum Beispiel viele Menschen im Dritten Reich gemacht haben, als sie sich fleißig darum bemühten, die jüdischen Beiträge zur deutschen Kultur hervorzuheben. Wer das Selbstverständliche erläutert – und sei es noch so überzeugend und raffiniert –, hat schon eingeräumt, daß es gar nicht so selbstverständlich ist.

Das moderne wissenschaftliche und das überlieferte romantische Denken scheinen gegenläufige Tätigkeiten zu sein, die auf den ersten Blick nicht zusammenfinden können. In diesem Beitrag soll ein zweiter Blick versucht werden, der sich auf gemeinsame Denkfiguren und Einsichten richtet, die sich aufspüren lassen. Vielleicht können vertraute romantische Überlegungen das heutige wissenschaftliche Bemühen in ein neues Licht setzen und die ihm fehlende Dimension des Erlebens zurückgeben. Vielleicht sind rational-wissenschaftliches und poetisch-romantisches Vorgehen nicht konträre, sondern komplementäre Wege zur Wahrheit, die sich oberflächlich widersprechen, während sie zugleich in der Tiefe zusammen gehören.

Einsichten der Physik

Am deutlichsten ausgedrückt findet sich diese Ahnung einer Einheit bei dem österreichischen Physiker Wolfgang Pauli (1900-1958), der 1945 mit dem Nobelpreis für sein Fach ausgezeichnet worden ist und in dem Albert Einstein (1879-1955) seinen geistigen Sohn sah.1) In den fünfziger Jahren hat Pauli in einem Vortrag über „Die Wissenschaft und das abendländische Denken“ folgendes Bekenntnis abgegeben:

„Ich glaube, daß es das Schicksal des Abendlandes ist, diese beiden Grundhaltungen, die kritisch rationale, verstehen wollende auf der einen Seite und die mystisch irrationale, das erlösende Einheitserlebnis suchende auf der anderen Seite immer wieder in Verbindung miteinander zu bringen. In der Seele des Menschen werden immer beiden Haltungen wohnen, und die eine wird stets die andere als Keim ihres Gegenteils schon in sich tragen. Dadurch entsteht eine Art dialektischer Prozeß, von dem wir nicht wissen, wohin er führt. Ich glaube, als Abendländer müssen wir uns diesem Prozeß anvertrauen und das Gegensatzpaar als komplementär anerkennen. ... Indem wir die Spannung der Gegensätze bestehen lassen, müssen wir auch anerkennen, daß wir auf jedem Erkenntnis- oder Erlösungsweg von Faktoren abhängen, die außerhalb unserer Kontrolle sind und die die religiöse Sprache stets als Gnade bezeichnet hat.“

Nach Paulis Ansicht „ist es nur ein schmaler Weg der Wahrheit (sei es eine wissenschaftliche oder eine sonstige Wahrheit), der zwischen der Scylla eines blauen Dunstes von Mystik und der Charybdis eines sterilen Rationalismus hindurchführt. Dieser Weg wird immer voller Fallen sein, und man kann nach beiden Seiten abstürzen.“

Das Problem steckt natürlich darin, daß einer sich als aufgeklärt verstehende Gesellschaft, die sich an den Erfolgen der scheinbar rein logisch betriebenen Wissenschaft orientiert, der zweite Fall – der Absturz in die sterile Rationalität – nicht in den Sinn kommt und die Gefahr nur von der Gegenseite erwartet. Natürlich wollte Pauli nicht weg von seiner erfolgreichen Wissenschaft mit ihrem mathematisch-analytischen Hintergrund, die doch so viel erreicht hatte. Ihm ging es um eine Ergänzung, „um die ganzheitlichen Beziehungen zwischen ´Innen´ und ´Außen´“, nach denen Menschen stets verlangen. Und genau dieser Aspekt schien ihm den Naturwissenschaften seiner Zeit erst nach und nach zuzukommen.

Gemeint ist die Wissenschaft, die in Paulis Geburtsjahr begonnen hatte. Im Oktober 1900 bemerkte Max Planck in Berlin – übrigens weniger zu seiner Freude und mehr zu seinem Leidwesen –, daß sich die Wechselwirkung von Licht und Materie nur korrekt beschreiben ließ, wenn man annahm, daß es bei dem Austausch von Energie zwischen den beiden physikalischen Realitäten diskret (unstetig) zuging. Die Farben, die ein immer stärker erhitztes und zuletzt schmelzendes Stück Metall zeigt, konnte Planck erst dann erklären, als er das Quantum der Wirkung ins Spiel brachte, aus dem die heute überall zitierten Quantensprünge geworden sind. Es dauerte lange, bis die Physiker verstanden, was das so erfolgreiche Plancksche Quantum bedeutete, und es war junge Pauli, der als Teenager am deutlichsten formulierte, welche philosophische Konsequenz hier zu ziehen war. Mit dem Quantum der Wirkung, so Pauli, ist „das physikalisch Einmalige vom Beobachter nicht mehr abtrennbar“, wie es in der klassischen Physik noch möglich war. Es kam dann sogar noch schlimmer, wenn man dies vom Standpunkt der Vertreter des 19. Jahrhunderts so ausdrücken darf. Bald erkannte Pauli nämlich, daß es zum Beispiel die Bahn eines Elektrons in einem Atom gar nicht in der physikalischen Wirklichkeit („da draußen“), sondern nur im Kopf der Physiker („da drinnen“) gab. Pauli erkannte, daß die Bahn eines Elektrons erst entsteht, wenn jemand sie beobachtet, und diese Idee hat sich bis heute als allgemein gültig erwiesen. Pauli hat diesen Gedanken zuerst in einem Brief an seinen etwas gleichaltrigen Freund Werner Heisenberg (1901-1976) formuliert; es war dann Heisenberg, der den philosophischen Vorschlag ernst nahm und dem es gelang, ihm eine mathematische Fassung zu geben. Dabei ist das entstanden, was heute Quantenmechanik heißt.2)

Seitdem bekommen die Gegebenheiten auf der atomaren Bühne – man darf nicht mehr von „Gegenständen“ sprechen, und man scheut sich, „Mitspieler“ zu sagen – ihre Qualitäten erst durch einen Beobachter bzw. durch den Vorgang seiner Beobachtung. Das agierende Subjekt findet natürlich nur, wonach es gefragt hat, auf diese Weise steckt in der Quantenphysik genau das, was bereits ahnungsvoll in dem Distichon vom Mai 1798 zu lesen ist, das Novalis im Rahmen der Vorarbeiten zu den „Lehrlingen zu Sais“ geschrieben hat und in dem er die der Hebung des bekannten Schleiers nicht im Tod enden läßt:

„Einem gelang es – er hob den Schleyer der Göttin zu Sais –
Aber was sah er? er sah – Wunder des Wunders – Sich selbst.“

Es muß für Physiker, die am Anfang des 20. Jahrhunderts die Quantentheorie entworfen haben, ein wundersames Erlebnis gewesen sein, als sie merkten, daß sie zwar immer tiefer in die Atome – und damit in das Innere der Welt – eindringen konnten, daß dabei zuletzt aber zwei Dinge passierten. Zum einen – so der Dänische Physiker Niels Bohr (1886-1962), der 1912 das erste Atommodell ersonnen und später mit seiner Hilfe das ganze Periodensystem der Elemente entworfen hat – stellte die neue Physik mit ihren diskreten Quanten und subjektiven Elementen ein wunderbares Beispiel dafür dar, daß man einen Sachverhalt zwar völlig verstanden haben kann – alle experimentellen Ergebnisse wurden schließlich von den mathematischen Theorien präzise vorhergesagt – und doch nur in der Lage ist, über ihn in Bildern und Gleichnissen zu reden. Und zum zweiten war man bei dieser Reise in das Innerste der Welt nicht auf objektive Gegebenheiten oder mathematische Strukturen getroffen, sondern eben auf sich selbst, auf seine eigene Geschichte.

Es fällt schwer, dabei nicht an „Heinrich von Ofterdingen“ zu denken, und zwar an die Stelle des Romans, an der sich Heinrich einem Bergmann anvertraut und ihm in eine Höhle folgt. Im Inneren dieser konkreten Welt treffen die Suchenden und Erkundenden – wie die Quantenmechaniker – auf keine abstrakte Leere, sondern auf eine persönliche Fülle. Konkret treffen sie einen Einsiedler, der ein Buch bei sich hat, „das in einer fremden Sprache geschrieben war“. Als Heinrich sich das Buch und seine Bilder näher anschaut, „entdeckte er seine eigene Gestalt ziemlich kenntlich unter den Figuren. Er erschrack und glaubte zu träumen, aber beym wiederhohlten Ansehn konnte er nicht mehr an der vollkommenen Ähnlichkeit zweifeln.“

Es scheint, daß an dieser Stelle die Quantenmechanik ihre poetische Form gefunden – mehr als zweihundert Jahre, bevor sie eine mathematische Fassung erhielt, von der im übrigen festzuhalten ist, daß sie ohne imaginäre Dimensionen (im mathematischen Sinne) nicht auskommt. Die Realität läßt sich nur unter einem imaginären Blickwinkel erfassen – eine Einsicht, die außerhalb der Physik zu wenig bedacht und genutzt wird.

Verstehen der Physik

Das oben zitierte Wort der „Figuren“ taucht auch in dem berühmten Gedicht auf, das Novalis in den unvollendeten Roman „Heinrich von Ofterdingen“ einbauen wollte und in dem „das Wesen der Romantik ausgesprochen zu sein“ scheint, wie es oft heißt:3)

Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen
Mehr als die Tiefgelehrten wissen,

Und man in Märchen und Gedichten
Erkennt die wahren Weltgeschichten,
Dann fliegt von einem geheimen Wort
Das ganze verkehrte Wesen fort.

Allerdings ist in diesem Gedicht von anderen völlig Figuren die Rede. Es geht um die Gebilde der Geometrie, also um Dreiecke und Kreise, und was Novalis bei diesen Zeilen vermutlich im Sinn hatte, ist der seit den Zeiten von Galileo Galilei keck formulierte Anspruch der Naturwissenschaften, alles durch Zahlen und Figuren beweisen und verstehen zu können, denn das Buch der Natur soll ist in der Sprache der Mathematik geschrieben sein.

Als sich Novalis gegen diese Einstellung wandte, hatte er es schwer, denn am Ende des 18. Jahrhunderts träumten viele Zeitgenossen den Traum der Rationalität und verkündeten Manifeste des systematischen Fortschritts, der den Menschen immer mehr Macht über die Welt sichern würde. Tatsächlich lieferte der Sachverstand in den kommenden Jahrhunderten, was man von ihm erwartete, und einen Höhepunkt stellt die schon erwähnte Zeit den beginnenden 20. Jahrhunderts dar, als es Albert Einstein mit Zahlen und Figuren sogar gelang, die ganze Welt im Rahmen seiner physikalischen Theorien zu erfassen.

Allerdings: Als Einstein den Kosmos verstand, verstand Alfred Döblin die Welt nicht mehr. Der Autor von „Berlin Alexanderplatz“ protestierte in den Jahren der Weimarer Republik lautstark und öffentlich, als er erfuhr, daß Einsteins Allgemeine Relativitätstheorie bzw. die damit verbundenen Gleichungen der Gravitation den Kosmos und seine raumzeitliche Wirklichkeit offenbar besser beschreiben konnte als alle physikalischen Ansätze zuvor, die mit Isaac Newton begonnen hatten und gewöhnlich mit seinem Namen verbunden geblieben sind. Das Newtonsche Universum präsentierte den Raum als einen riesengroßen Schuhkarton mit geraden Linien und rechten Winkeln, den eine gleichmäßig träge fließende Zeit durchströmte, ohne irgendeine Wechselwirkung mit ihm eingehen zu können. So etwas konnte man sich leicht vorstellen und anschaulich vor Augen führen. Doch mit Einsteins Universum ging dies nicht mehr. Mit ihm tauchten seltsame Verzerrungen und Krümmungen in diesem Karton auf, den es zum einen gar nicht mehr ohne Schuhe geben konnte, der zum zweiten gerade durch seinen Inhalt aus der vertrauten Rechtwinkligkeit gerissen wurde und der zum dritten auch mit dem Strom der Zeit ins Gehege kam und ihn umleitete und verzögerte.

Döblins Problem steckte nicht in dieser Akrobatik der vertrackten Anschauung, der zufolge Raum und Zeit nicht bloß entleert werden, sondern selbst verschwinden, wenn man versucht, die Dinge aus ihnen zu entfernen. Seine Klage richtete sich vielmehr gegen die Tatsache, daß Einstein sein Wissen und seine Kenntnisse über den Kosmos mit Hilfe komplizierter mathematischer Verfahren gewonnen hatte, in denen es unter anderem um Kovarianz, Tensoranalysis und Differentialgleichungen ging, also um Hervorbringungen der analytischen Verstandes, die für Döblin und die meisten Menschen unverständlich blieben und unzugänglich bleiben. Für sie gab und gibt es in dieser so abstrakt wirkenden Formelwelt nichts zu verstehen, und der Skandal steckt darin, daß sie damit verurteilt zu sein scheinen, in einem Kosmos zu leben, der nur noch den wenigen Eingeweihten zugänglich ist, die genügend mit der Sprache der höheren Mathematik vertraut sind. Döblin protestierte dagegen, daß der Erfolg des Forschers den Dichter vom Verständnis der Welt ausschloß, in der doch beide gemeinsam lebten. Wieso konnte es einem großen Teil der Menschen verwehrt sein, etwas über die Strukturen ihrer Welt – über die Geometrie ihres Universum – zu wissen?

Gewöhnlich bedauert man an dieser Stelle die Schwierigkeiten der mathematischen Sprache und weist auf die vielen populären Darstellungen hin, die sich mutig an die Allgemeine Relativitätstheorie wagen und dabei versuchen, mit ihren gebogenen Räumen und gedehnten Zeiten fertig zu werden. Doch können die Leserinnen und Leser mit ihrer Hilfe erfahren wissen, was Einstein gewußt hat?

Wer versucht, diese Frage zu beantworten, wird feststellen, daß das Hauptproblem im Nachsatz steckt. Wissen wir überhaupt, was Einstein gewußt hat? Wir wissen, wie seine Formel in Lehrbüchern aussieht, und wir wissen aus Experimenten, daß damit bessere Vorhersagen über den Ausgang von Messungen in den kosmischen Weiten des Weltraums zu machen sind, als alle konkurrierenden Theorien dies können. Aber wissen wir deshalb, was Einstein verstanden hat?

Einsteins Ziel bestand primär sicher nicht darin, eine Formel zu finden. Er wollte vielmehr etwas über die Raumzeitstruktur der Welt wissen, und er hat dies mit Hilfe seiner Formel bewerkstelligt. Aber wenn wir nun so einfach sagen, daß Einstein etwas über das Universum durch seine Gleichung weiß, dann sollten wir uns darüber im Klaren sein, daß dies nicht oberflächlich gemeint sein kann, weil das „durch“ sehr tief reicht. Wie tief es tatsächlich gehen kann, hat Werner Heisenberg in seiner Autobiographie „Der Teil und das Ganze“ beschrieben.4) Er stellt dort den Augenblick (!) dar, in dem einige (andere) mathematische Zeichen auf einem Blatt Papier ihm plötzlich ihre Bedeutung offenbaren und er in ihnen die Grundgesetze der Atome erkennt, und zwar auf die folgende Art und Weise:

„Ich hatte das Gefühl, durch die Oberfläche der atomaren Erscheinungen hindurch auf einen tief darunter liegenden Grund von merkwürdiger innerer Schönheit zu schauen, und es wurde mir fast schwindlig bei dem Gedanken, daß ich nun dieser Fülle von mathematischen Strukturen nachgehen sollte, die die Natur da vor mir ausgebreitet hatte.“

Es ist wichtig, sich klarzumachen, was Heisenberg bei diesem Einheitserlebnis eigentlich erblickt. Vor ihm auf dem Papier befinden sich doch nur einige mathematische Formeln und Strichgebilde, und aus diesen Zahlen und Figuren kann nur dann das viele Wissen werden, das Heisenberg erregt, wenn die Zeichen den Charakter von Symbolen annehmen.

Dies gilt natürlich auch für Einstein, denn auch ihm sagen die mathematischen Gebilde nur etwas über die Welt – den Kosmos –, wenn er sie als Symbole wahrnimmt und deutet, die nicht nur seine rational ausgerichteten Fähigkeiten ansprechen, sondern ihm auch durch Gefühle Wissen über die Welt verschaffen, wie Heisenberg er beschrieben hat. Und kennen wir nicht alle auch Wissen, das nur durch Gefühle möglich wird?

Mathematische Formeln sind eben nicht das Wissen selbst, um das es geht, sondern sie liefern nur der symbolischen Schlüssel dazu, und es ist nicht nur anzunehmen, sondern wird hier sogar behauptet, daß es noch andere Schlüssel zu demselben Wissen gibt. Worauf es dann bei der Weitergaben von wissenschaftlichem Wissen ankommt, läßt sich mit einfachen Worten nun so ausdrücken, daß man dafür sorgen muß, den entsprechenden Schlüssel für Menschen wie den Dichter Döblin zu finden, die in mathematischen Formeln keine Symbole entdecken können. Da ihnen diese Begabung fehlt, man muß Bilder oder andere Symbole finden, die ihnen das Wissen über die Wirklichkeit verschaffen, das Einstein und Heisenberg dadurch bekommen, daß sich für sie die mathematischen Zahlen und Figuren in Symbole verwandeln. In beiden Fällen können schließlich die inneren Bilder entstehen, die zum Verstehen führen und die Erinnerung werden, die wir zuletzt als Wissen kennen. Wir können alle dasselbe wissen, müssen aber nicht versuchen, dies mit denselben Symbolen zu erreichen.

Mit anderen Worten, wenn Döblin sich beklagt, daß er den Kosmos nicht verstehen kann, weil er mit den mathematischen Begriffen nicht zurecht kommt, dann versucht er ein grundlegendes Bedürfnis durch ein unpassendes Argument zu rechtfertigen. Man muß ihm keinen Nachhilfeunterricht in Tensoranalysis geben. Man muß ihm ein Symbol oder ein Bild (ein Kunstwerk) vorlegen, das seine Wahrnehmung anspricht, und zwar so, daß dabei das Bild des Kosmos entsteht, das Einstein versteht.

Solch ein Bild oder Symbol zu finden, ist keine Aufgabe, die sich nebenbei erledigen läßt. Man könnte sie Wissenschaftsgestaltung nennen, und für diese Formung des Wissens braucht man mindestens so viel Geschick wie für die Wissenschaft selbst. Bedarf an Wissenschaftsgestaltung besteht in unserer Gesellschaft genug, denn schließlich wollen wir alle die Welt so verstehen wie Einstein den Kosmos.

Zum Wissen brauchen die Menschen alle beide, die Zahlen und Figuren ebenso wie das wahrnehmende Erleben. Die zitierten Zeilen von Novalis sind also ebenso einseitig wie die Überzeugung, die Natur teile sich uns allein in der Sprache der Mathematik mit. Vielleicht darf man die alten Verse modern variieren und schreiben:

Wenn nicht nur Zahlen und Figuren
Sind Schlüssel aller Kreaturen,
Wenn die, so singen oder küssen
So viel wie Tiefgelehrte wissen,
Und auch in Bildern und Gedichten
Sich zeigen wahre Weltgeschichten,
Dann fliegt das Wissen ohne Wort
Dem Menschen zu an seinem Ort.

Die Revolution der Romantik und der Wissenschaft

Wer allgemeiner verstehen will, wie Romantik und Wissenschaft zusammenhängen, ist gut beraten, auf die Darstellung zurückzugreifen, die Isaiah Berlin dieser Epoche der Kultur gegeben hat. Was der 1909 in Riga geborene und den größten Teil seines bis 1997 dauernden Lebens in Oxford ansässige Ideenhistoriker über „Die Revolution der Romantik“ denkt, wie er sie ausdrücklich nennt, findet sich an zwei Stellen in der Literatur.5) Berlin geht es in seinen Essays allerdings weniger um naturwissenschaftliche, und mehr um ethische Fragen. Entscheidend ist für ihn, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts die traditionelle Überzeugung aufgegeben wurde, der zufolge man – etwa mit den Mitteln der Ethik – herausfinden kann, was die menschliche Natur ist, um ihr anschließend – mit den Mitteln der Politik – Rechnung zu tragen. Es war genau die Zeit der Romantik, in der einige Intellektuelle die entscheidende Umkehrung im Denken vollzogen, die zu der korrekten Ausgangsposition führt, daß Fragen nach dem rechten Handeln ohne eindeutige Antwort bleiben können und es weder objektive noch subjektive Gründe für entsprechende Entscheidungen gibt. Die Romantiker erkannten, daß sich sittliche Werte widersprechen können, ohne daß dabei Alternativen zu erkennen wären, und genau diesen Schritt haben die Physiker zweihundert Jahre später vollzogen, als sie erkannten, daß Fragen nach dem Natur der Dinge ohne eindeutige Antwort bleiben können und es weder objektive noch subjektive Gründe für entsprechende Entscheidungen gibt.

Zu den Geburtshelfern der von Berlin skizzierten romantischen Wende gehört Immanuel Kant, der in seinen Schriften fragte, was der Mensch tun soll und ihm die Freiheit der Wahl gibt. Kant machte den Menschen auf diese Weise zum Urheber seiner Wertvorstellungen. Bei ihm ist ein Wert etwas, das sich ein Mensch gezielt vorgibt, und nicht etwas, über das er zufällig stolpert. Wertvorstellungen sind keine Naturprodukte, die eine Wissenschaft – etwa die Ethik oder die Soziologie – studieren könnte, sondern Ausdruck freien Handelns und damit des menschlichen Schöpfertums.

Diesen letzten Schluß hat aber nicht Kant gezogen, sondern erst die Denker der Romantik. Ihre philosophischen Vertreter erhoben die Sittlichkeit zum schöpferischen Vorgang, und sie orientierten sich bei diesen Vorgehen am Modell der Kunst. Kreatives Tun – Schöpfung – ist in den Augen der Romantik die einzig ganz und gar selbstbestimmte Aktivität des Menschen. Nur auf diese Weise gelingt ihm die Selbstbefreiung von den kausalen Gesetzen der Physik und den Mechanismen der äußeren Welt. Indem die Romantiker den Blick auf die Kunst richteten und das Wesen des Menschen in seiner selbstbestimmten Tätigkeit sahen, zerstörten sie die alten Werte der europäischen Sittlichkeit. Ich bin nicht dadurch ich selber, daß ich logisch agiere oder mich der Natur füge. Ich bin erst dann ich selber, wenn ich etwas kreiere. Die Natur ist – in diesem Modell – nicht mehr Mutter oder Gebieterin, sondern das Gegenstück zu meinem Tun und Denken. Natur ist das, dem ich meinen Willen aufzwingen kann. Sie ist der Gegenstand, den ich formen, dem ich Form verleihen kann.

Genau diesen Schritt konnten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Quantenphysiker tun, wie am Beispiel von Pauli und Heisenberg geschildert worden ist. Die Beobachter geben einem Elektron die Bahn, auf der es sich bewegen kann. Sie berechnen (formen) seinen Weg und entwerfen auf diese Weise die Gestalt eines Atoms und dann die aller Elemente, die das Periodische System ausmachen. Die Wissenschaftler bestimmen sogar deren Bindung und damit den Zusammenhang der Welt, und zwar mit Hilfe einer besonderen (zweiwertigen) Quantenzahl, die Pauli vorgeschlagen hatte, der dabei auf das gestoßen wurde, was die Romantikern schon früher erkannt hatten: Ein Wissenschaftler entwirft die Natur, die er selbst ist. Er ist natura naturata (geschaffene Natur) und natura naturans (schaffende Natur) in einem, ganz so, wie es den Denker der Romantik vertraut war.

Alles in Bewegung

In dieser doppelten Natur steckt eine immerwährende Bewegung. Nichts ist, da alles wird. Diese Idee bildet das Herz des romantischen Denkens, wie auch Berlin betont, der das Leben entsprechend als eine unendliche Aktivität deutet, die man auf immer neue Weise mit den Mitteln der Kunst symbolisch auszudrücken und anzusprechen versucht.

Doch wer in unseren Breiten die Bewegung – das Werden – höher als das Sein einstuft, muß mit Schwierigkeiten rechnen, denn bekanntlich ist das „Sein“ das liebste Kind der europäischen Philosophie, die viele Formen der Ontologie kennt. „Sein oder Nichtsein“ scheint die tiefsinnigste Frage des westlichen Denkens zu lauten, und man wundert sich als Wissenschaftler, wie das gehen kann. Was vorhanden ist, muß doch zunächst entstanden sein, aber eine philosophische Lehre des Werdens gibt es im Abendland nicht. Das Sein scheint ohne Zeit zu sein. Unsere kulturelle Tradition ist mit dem Erfassen von Stillstand und Festigkeit beschäftigt. Selbst am Anfang aller Bewegungen stellt man ein festes Bewegungsgesetz – etwa bei Newton – oder eine unverrückbare Instanz, die alles verändern und umwandeln kann – etwa den „unbewegten Beweger“, den Aristoteles bemüht, um der Welt den Schwung zu geben, den sie braucht. Und am Anfang aller bewegten Dinge steht heute ein Atom (als festgefügter Baustein) oder ein Gen (als festumrissene Struktur).

Die westliche Welt denkt statisch seit der Antike, in der Platon Wert auf unveränderliche (ewige) Ideen legte und Euklid unbewegliche geometrische Figuren berechnete. Das heißt, wir beweisen unsere ungebrochene Vorliebe für das Unbewegliche, indem wir ganz selbstverständlich das Attribut „platonisch“ – etwa für die Liebe – oder „euklidisch“ – etwa für den Raum – verwenden, während wir der entsprechenden Wendung „heraklitisch“ eher verständnislos gegenüber stehen. Dabei hat der Philosoph Heraklit die Aufmerksamkeit schon früh auf das Werden lenken wollen. „Niemand steigt zweimal in denselben Fluß“ und „Alles fließt“ lauten Einsichten, die von ihm überliefert sind. Wir wandeln uns zwar selbst als ruhende Betrachter – etwa in der Zeit, die es gedauert hat, den Text bis zu dieser Stelle zu lesen –, aber wir meinen trotzdem, unser Leben verläuft in geordneten Bahnen.

Es ist leicht zu verstehen, warum eine an platonischen Texten und euklidischen Figuren ausgerichtete Geisteshaltung Schwierigkeiten mit der heraklitischen Idee der Evolution hat, die als wissenschaftliche Erfassung des Werdens verstanden werden kann. Und es fällt erst recht schwer, sie an den Anfang zu stellen. Genau dies soll aber hier vorgeschlagen werden, und vermutlich können romantisch orientierte Denker damit etwas anfangen.

Im Anfang war dann die Bewegung, die wir Evolution nennen und im Sinne der modernen Naturwissenschaften dadurch charakterisieren können, daß sie ohne einen Plan verlaufen ist: Bewegung pur, sozusagen. Es ist dabei anzunehmen, daß die konkrete irdische Evolution mit einzelligen Formen des Lebens den Anfang gemacht hat. Aus ihnen haben sich im Laufe der Zeit die Vielzeller entwickelt, wobei der Begriff der „Entwicklung“ bei ihnen eine besondere Bedeutung bekommen hat, nämlich als Bezeichnung des Lebensabschnitts, in dem sich aus einer Zelle – der befruchteten Eizelle – der ganze Organismus bildet. Die Fachleute sprechen in diesem Fall von der „Ontogenese“, die sie von der umfassenden Evolution als „Phylogenese“ (als Stammesgeschichte) unterscheiden. Wichtig an den Begriffen sind die gemeinsamen Endsilben „genese“, in der das griechische Wort für Werden steckt. Bibelkundige kennen es als „Genesis“, als das 1. Buch Mose, in dem die Schöpfungsgeschichte erzählt wird (was den Hinweis erlaubt, daß die Bibel ebenso wie die Welt nicht mit einer Festsetzung, sondern mit einer Bewegung anhebt).

Unter einer „genetischen“ Betrachtung verstand man ursprünglich eine Analyse, die das Werden erfassen sollte. In genau diesem Sinne soll es hier um eine genetische Darstellung der menschlichen Natur gehen. Das heißt ausdrücklich, daß es nicht um Anwendungen der Wissenschaft namens Genetik geht, wenn auch gleich von Genen die Rede sein wird. „Genetisch“ gab es lange vor den „Genen“ und bedeutet viel mehr als „von den Genen abgeleitet“.

Im Rahmen der so verstandenen genetischen Betrachtung läßt sich nun sagen, daß die Bewegung der Evolution keine fertigen Produkte bzw. angepaßte Lebensformen hervorbringt, sondern eine neue Bewegung: Die Evolution bringt nämlich keine Menschen hervor, sondern den Vorgang (Ontogenese), durch den Menschen entstehen können. Die Bewegung der Evolution generiert die Bewegung der Entwicklung.

Dieser Prozeß unterscheidet sich nun auf eine wohl definierte Weise von der Evolution. Die Entwicklung verläuft nämlich nicht mehr ganz ohne Plan. In ihrem Fall gibt es die (im modernen eingeengten Sinne „genetischen“) Instruktionen der Erbmoleküle, die den Vorgang einleiten und steuern. Die Gene operieren dabei nicht autonom. Sie agieren keineswegs isoliert und bekommen vielmehr die Möglichkeit, gezielt auf Eigenheiten der Umgebung reagieren zu können. Zu diesem Zweck werden die Zellen mit Mechanismen ausgestattet, mit denen sich Signale berücksichtigen lassen, die von der äußeren Welt kommen und nach innen gelangen.

Der noch langsamen Evolution entwächst die rascher werdende Entwicklung, die sich in sich wandelt und zuletzt ein Organ – das Gehirn – hervorbringt, dessen Formation immer stärker von der Wechselwirkung mit der sinnlich zugänglichen Welt bestimmt wird. Wer diesen Prozeß der Verinnerlichung als Wissenschaftler studiert, bekommt den Eindruck, daß die Erschaffung des Gehirns weniger wie die geplante Herstellung eines Werkzeuges, sondern eher wie die Anfertigung eines Gemäldes vor sich geht. In beiden Fällen spielt die Wechselwirkung zwischen der ursprünglichen Vorgabe und ihrer Umsetzung eine Rolle. Während ein Maler seine Arbeit mit seiner bildhaften Vorstellung beginnt, läßt ein Organismus erst seine Gene agieren. Für Lebewesen und Künstler stellt die Grundkonzeption – entweder die Gene in der Zelle oder die Idee im Kopf – den Ausgangspunkt des bewegten Handelns dar, das anschließend von dem entstehenden und wahrgenommenen Werk mitbestimmt wird, und zwar in der Form, in der es sich nach und nach vor den Augen des Künstlers auf der Leinwand oder in der natürlichen Umgebung des wirklichen Lebens zeigt.

Mit anderen Worten: Die Entwicklung stellt einen Vorgang dar, der alle Chancen hat, Kreativität in die Welt zu bringen, und im Gehirn ist dieses Potential weidlich genutzt worden. Diese schöpferische Qualität können wir in dem genetischen Gesamtbild als die dritte Stufe der Bewegung deuten, die aus der anfänglichen Urbewegung der Evolution entstanden ist. Kreativität ist – so gesehen – nichts Unzugängliches – wohl aber – als erlebbare Befreiung – etwas Schönes. Kreativität bleibt unverändert geheimnisvoll, jetzt aber genau so wie die Evolution und die Entwicklung des Lebens. Ein schöner Gedanke, der den Romantikern gefallen hätte. Er zeigt, daß die Idee der grundlegenden Bewegung im Denken sehr weit führen kann, woraus weitere folgt, daß sich keine Erklärung der Welt mit Zahlen und Figuren zufrieden geben kann. Vielmehr braucht auch die Wissenschaft irgendwann Geschichten. Sie erzählen zuletzt von uns selbst. Und da es kein festes Ende geben kann, bleibt unsere Geschichte so offen wie das Buch, das Heinrich bei dem Einsiedler in der Höhle findet. Wenn wir hinein schauen und uns selbst in diesen Bildern sehen, bekommen wie die Chance, uns neu zu entwerfen. Wenn wir auf uns selbst treffen, wissen wir, daß wir an der tiefsten Stelle angekommen sind. Wir können jetzt umkehren und nach Hause gehen – also dorthin, wo alle Reisen enden und wo wir immer sein wollten. Die Frage ist nur, ob wir jemals ankommen.

Anmerkungen

1)

Ernst Peter Fischer, An den Grenzen des Denkens. Wolfgang Pauli – Ein Nobelpreisträger über die Nachtseiten der Wissenschaft, Herder Verlag, Freiburg 2000; der Band ist zum 100. Geburtstag von Pauli erschienen; alle Zitate von Pauli aus diesem Beitrag finden sich in diesem Buch.

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2)

Vgl. dazu meine Biographie von Werner Heisenberg („Das selbstvergessene Genie“), die im September 2001 im Piper Verlag (München) erscheinen wird.

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3)

Hermann Kurzke, Novalis, Beck Verlag, München 22001, S. 9

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4)

Werner Heisenberg, Der Teil und das Ganze, Piper Verlag, München 1969, S. 81

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5)

Da ist zum einen ein Essay mit diesem Titel, der 1998 auf Deutsch erschienen ist, und zwar in dem Band „Wirklichkeitssinn“ (Berlin Verlag, Berlin), und da ist zum zweiten ein Büchlein, in dem Berlin „The Roots of Romanticism“ beschreibt. In diesem Band läßt sich heute endlich nachlesen, was Berlin bereits 1965 in seinen „Mellon Lectures“ gesagt hat, die in der National Gallery of Art in Washington, D.C. stattgefunden haben (Princeton University Press, Princeton 2001).

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[Der vorliegende Text wurde den Organisatoren freundlicherweise von Prof. Dr. Fischer anlässlich seines Vortrages auf den 20. Auricher Wissenschaftstagen zur Veröffentlichung auf der Homepage überlassen.]

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