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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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Günter Grass
lädt Auricher Schüler zum Gespräch

Das im Folgenden aufgezeichnete Gespräch fand im Rahmen der Auricher Wissenschaftstage statt und wurde am 1. November 2001 in den Arbeitsräumen des Nobelpreisträgers in Behlendorf bei Lübeck geführt.

Besuch einer Schülergruppe bei Günter Grass, 40 k

Es nahmen teil: Tarina Lübbers [BBS II], Marina Röpkes [BBS II], Sarah Lange [IGS Aurich-West], Cornelia Alberts [Gymnasium Ulricianum] und Bernd Peters [Gymnasium Ulricianum]. Begleitet wurden die Schülerinnen und Schüler von den Deutschlehrern Detlef Roß [BBS II] und Helmut Ubben [Gymnasium Ulricianum].

Es ergab sich ein heiteres, lebendiges Gespräch, aber lesen Sie selbst:

Es gibt Äußerungen von Ihnen, dass Sie in erster Linie für sich schreiben und für erwachsene Leser. Für wen schreiben Sie?

Spekulationen, für ein bestimmtes Publikum schreiben zu wollen, gehen immer daneben. Der Autor muss auf sich und auf das konzentriert bleiben, was er vorhat. Dass man sich bei derart langfristigen Schreibprozessen, oft über Jahre hinweg, ein imaginäres Publikum ans Schreibpult holt -Tote und Lebende –, mit denen man unterschwellig im Gespräch ist, das gehört mit dazu.

Für Kinder, nein, das stimmt, ich habe mir nie die Aufgabe gestellt, ein Kinder- oder Jugendbuch zu schreiben. Aber es gibt natürlich Bücher von mir wie „Katz und Maus“ und „örtlich betäubt“, die im Schülermilieu spielen, also für Jugendliche durchaus geeignet sind. In vielen meiner Werke kommen Schüler, kommen Lehrerfiguren vor; das liegt wahrscheinlich daran, dass ich nur bis zum 15. Lebensjahr zur Schule gegangen bin. Es kam der Krieg, ich wurde Luftwaffenhelfer. Ich habe nie Abitur gemacht und habe mir das meiste selber beigebracht.

Wie stehen Sie zum Problem des Interpretierens literarischer Texte im Unterricht?

Das Interpretieren ist ein Thema für sich. Mir tun Schüler leid, die interpretieren müssen. Während sie das Buch zum ersten Mal lesen, überlegen sie schon, wie sie interpretieren sollen, und das mindert den Lesegenuss. Es nimmt den Spaß, die Lust zu schmökern, die bei Kindern angelegt ist.

Meist läuft es darauf hinaus, dass die Schüler herauszufinden versuchen, was der Lehrer hören will, was seine Interpretation ist. Sei es, um eine gute Zensur zu bekommen, oder aus sonstigen Gründen. Das ist Erziehung zum Opportunismus, zur Anpassung.

Ich bin der Meinung, dass ein Gegenstand der Kunst – ein Gedicht, ein Prosawerk, ein Bild oder auch ein Musikstück – nie durch eine einzige Interpretation, die einzig richtige, zu fassen ist. Das unterscheidet Kunstgegenstände von Gebrauchsgegenständen. Einen Wasserhahn oder einen Türdrücker kann man eindeutig definieren, wie er zu bedienen ist, aber ein Kunstgegenstand ist offen für viele Interpretationen, auch für falsche oder angeblich falsche.

Wir müssen uns selber mal beobachten, wenn wir im Alter von 15, 16 Jahren in ein Museum kommen und ein Bild von Paul Klee, von Franz Marc oder von Picasso erleben. Zehn Jahre später gehen wir wieder in das Museum und haben ein ganz anderes Erlebnis, ohne dass sich das Bild verändert hat. Und wenn eine Gruppe hineingeht, sehen wir, dass zehn Leute das Bild auf zehn verschiedene Weise wahrnehmen und jeweils ihr eigenes Erlebnis haben: Das ist der Reichtum der Kunst, dieses Unerschöpfliche der Deutung, der Deutungsmöglichkeiten.

Ich halte es für wesentlich besser, wenn man sich nach dem Leseerlebnis etwa fragt, mit welchem Sprachmaterial hier umgegangen wird, welche Tricks der Autor verwendet. Oder wenn man bestimmte Bücher fächerübergreifend untersucht. Nehmen wir meine Erzählung „Das Treffen in Telgte“, ein erfundenes Treffen von Barockschriftstellern im Jahre 1647, dem letzten Jahr des Dreißigjährigen Krieges, mit dem ich meine eigenen Erfahrungen mit der Gruppe 47 verarbeite, indem ich sie ins 17. Jahrhundert zurückverlagere. In dieser Erzählung bringe ich auf 180 Seiten zwei sehr komplexe Sachverhalte, den Dreißigjährigen Krieg und die Barockliteratur, die endlose Bücherschränke füllt, auf einen Nenner, mache sie überschaubar, weshalb sich das Buch anbietet, gleichzeitig vom Deutsch- und vom Geschichtslehrer behandelt zu werden. Wie sieht das aus, wenn man eigenes Erleben aus dem 20. Jahrhundert ins 17. Jahrhundert in eine vergleichbare Kriegssituation zurückversetzt? Solche Fragen sind, glaube ich, für den Unterricht aufschlussreich. Aufschlussreicher als die ewige Grübelei „Was will der Dichter sagen“.

Finden Sie es richtig, dass Ihre Werke im Deutschunterricht besprochen werden?

Wenn das deutungsoffen geschieht, ja! Es wird sehr viel „Katz und Maus" gelesen, ein mittlerweile entlegener Stoff. Als ich das Buch schrieb, dachte ich, das sei etwas für meine Generation, für Leser mit vergleichbaren Erfahrungen während der Kriegszeit. Aber da habe ich mich getäuscht, denn das Buch ist bis heute nicht nur in Deutschland, sondern beispielsweise auch in Japan Schullektüre. Wahrscheinlich weil ich das ewig gleich bleibende Thema der Pubertät mit behandelt habe, wird das Buch in weit entlegenen Ländern mit vergleichbarem Interesse gelesen, werden Schüler je nach Unterricht damit gequält.

Wie gehen Sie mit der Kritik an Ihren Büchern um? Führt die Kritik zu Änderungen im Schaffen?

Nein. Nur ganz selten ist mir von der Berufskritik ein wichtiger Hinweis gegeben worden, schon eher in Leserbriefen. Die Berufskritik lässt sich in Deutschland leider oft davon leiten, was sich der Kritiker vom Autor wünscht. Da gibt es einen Großkritiker, der eine genaue Vorstellung davon hat, wie ein Roman geschrieben werden müsste. [Zwischenruf: Wir brauchen ja keine Namen zu nennen.] Und wenn sich ein Autor nicht daran hält, dann fällt er über ihn her. Das bringt gar nichts.

Als mein erster Roman „Die Blechtrommel“ herauskam, wurde er in der FAZ von einem Kritiker namens Günter Blöcker verrissen, aber man merkte dem Verriss an, dass Blöcker das Buch wirklich gelesen hatte, und zwar mehrmals. Heute dagegen hat sich das gewandelt. Als „Ein weites Feld“ herauskam, konnte ich vielen Kritiken ansehen, dass die Rezensenten den Roman gar nicht oder nur quer gelesen haben. Sie haben ein paar Stellen angestrichen und dann aus ihrem politischen Vorurteil heraus ihr Urteil gefällt.

Haben Sie manchmal im Nachhinein das Bedürfnis, ein Werk zu überarbeiten?

„Die Blechtrommel“ zum Beispiel habe ich jahrzehntelang nicht gelesen, bis ich 1990 vor einem kleinen Publikum im Göttinger Theater das ganze Buch an zwölf Abenden vorgetragen habe. Seitdem gibt es „Die Blechtrommel“ als Hörbuch auf Kassette und CD. In der Vorbereitung musste ich den Roman natürlich gründlich lesen. Dabei ist mir aufgefallen, dass ich zu viele Partizipialkonstruktionen benutzt habe. Aber ich kam nicht auf die Idee, sie herauszustreichen. Das Buch ist so geschrieben worden, so war damals mein Sprachempfinden, und es macht keinen Sinn, aus besserem Wissen heraus einen Text hinterher zu reinigen, noch einmal heranzugehen. Wenn es sich um Sachfehler handelt, dann möglicherweise, aber nicht wegen gehäufter Partizipialkonstruktionen, auch wenn ich sie heute nicht mehr so verwenden würde.

Haben Sie das gerne gemacht, in Ihrem eigenen Buch zu lesen?

Es war spannend, denn es ruft bestimmte Situationen wieder hervor, zum Beispiel wie ich das Buch in Paris unter sehr schwierigen Wohnverhältnissen geschrieben habe. Aber auch gestrichene Passagen, Änderungen, Umstellungen und Varianten kommen einem wieder in den Kopf, da ich meine Bücher zumeist in drei oder vier Versionen schreibe.

Die Figur des Oskar in der „Blechtrommel“ weist doch auch Parallelen auf zu Ihrem eigenen Leben …

Nur dass es mir nicht gelungen ist, im Alter von drei Jahren mein Wachstum einzustellen.

In der „Blechtrommel“ ging es mir gar nicht um mein Leben, ich wollte eine bestimmte Zeit schildern, und dafür fehlte mir lange der entscheidende Ansatz, die Erzählperspektive. Nun bin ich ein großer und nach wie vor begeisterter Anhänger des pikaresken Romans, einer Erzählform, die sich in Spanien entwickelt hat, aber nicht denkbar ist ohne maurische Einflüsse. Miguel Cervantes mit seinem „Don Quijote“ ist ein Beispiel für die Hochkultur dieses Erzählens. In Deutschland hat er ein halbes Jahrhundert später eine Entsprechung bei Grimmelshausen gefunden, der 1669 mit dem „Simplicissimus“ den ersten deutschen pikaresken Roman veröffentlichte. Es kam für mich darauf an, eine Kunstfigur zu erfinden mit einem alles verfremdenden Blick wie im „Simplicissimus“. Oskar stellt willentlich sein Wachstum ein, sieht alles von der Tischkantenhöhe her. Ein Kind wird als Zeuge nicht ernst genommen, aber Oskar ist Zeuge, er ist dabei und sieht alles. Die Handlung schwebt nicht in höheren Kreisen, sondern fußt in einer kleinbürgerlichen bis proletarischen Gesellschaftsschicht und erfasst dennoch eine ganze Zeitspanne – das war das Wichtige für mich. Natürlich spielten auch eigene Erlebnisse eine Rolle, also mein eigenes Herkommen, die Stadt Danzig, der Vorort Langfuhr, das Aufwachsen in kleinbürgerlichen Verhältnissen. Aus der Erfahrung heraus konnte ich schreiben, wie das auch bei späteren Büchern der Fall war.

Wenn Sie zurückblicken. Konnten Sie Ihre Wünsche und Träume verwirklichen? Sind Sie heute zufrieden?

Eine Sache werde ich immer bedauern. Für mich stand schon sehr früh fest, dass ich in einen künstlerischen Beruf hineinwollte, aber es ging mehr in Richtung bildende Kunst. Mein Vater war dagegen. Meine Mutter hatte ein liebevoll-romantisches Verhältnis zur Kunst, was vielleicht auch daran lag, dass sie drei Brüder hatte, die alle im Ersten Weltkrieg gefallen sind. Der eine wollte Schriftsteller werden, der andere Bühnenbildner und der dritte Koch. Bei mir sah sie einige dieser Dinge angelegt. Allerdings ist meine Mutter bald nach dem Krieg gestorben, 1954. Ich war zunächst an der Kunstakademie in Düsseldorf, und 1949, als erstmals ein Jahresbericht der Akademie erschien, wurde eine Plastik, meine Semesterarbeit im zweiten Semester, abgebildet mit meinem Namen drauf. Das hat sie Gott sei Dank noch erlebt, das war etwas, das ich ihr vorweisen konnte. Aber meinen Weg als Schriftsteller hat sie nicht mehr verfolgt.

Und was die Zufriedenheit betrifft: wenn ich zufrieden wäre, würde ich nicht weiterschreiben. Was fertig ist, ist fertig, und dann geht schon wieder was anderes los. Nur schreibe ich nicht Buch nach Buch. Ich habe zum Glück die Möglichkeit, nach einer längeren Prosastrecke Radierungen, Lithographien, Aquarelle oder auch Plastiken zu machen, sodass ich nicht dauernd unter Schreibzwang stehe. Am liebsten ist mir, wenn etwas auf Papier entsteht, ob das Sätze sind oder eine Zeichnung, wenn etwas kreativ entsteht – aber es muss immer was laufen, sonst bin ich unerträglich.

Günter Grass im Gespräch, 28 k

Arbeiten Sie momentan an einem Buch?

Ich bin gerade dabei, die Korrekturen zu lesen, eine Novelle mit dem Titel „Krebsgang“. Sie kommt im Februar heraus.

Ist es denn so, dass Sie eigene Ängste und Befürchtungen in Ihren Werken verarbeiten? Ich denke da gerade auch an „Die Rättin“.

Ich habe immer parallel zur Zeit geschrieben. Auch wenn ich über zurückliegende Stoffe schreibe, geschieht dies immer aus der Zeit heraus, in der ich lebe. „Die Rättin“ geht von der Tatsache aus, dass die Menschheit zum ersten Mal in ihrer gar nicht so langen Geschichte in der Lage ist, sich selbst zu vernichten. Trotz aller Warnungen, obwohl alles bekannt ist, setzen wir auf vielfältige Weise – nicht nur mit der Atombombe, auch durch die fortschreitende Schädigung der Umwelt – dieses selbstzerstörerische Werk fort.

Es handelt sich bei der „Rättin“ nicht um eine Apokalypse, denn die wäre, wenn Sie an die Apokalypse des Johannes denken, von Gott verhängt, von einer höheren Instanz. Was wir erleben, ist reines Menschenwerk und kann noch durch Menschenwerk abgewendet werden, aber dafür gibt es leider zu wenige Anzeichen.

Wie wirkt die heutige Jugend auf Sie, zum Beispiel im Vergleich zur Generation der '68er?

Meiner Meinung nach ist sie zu passiv, denn alles, was politisch geschieht oder nicht geschieht, betrifft ihre Zukunft.

Zu Ihrem Stichwort „68er“: Die Nachkriegszeit, die Adenauer-Ära, war eine rein restaurative. Als ich 1965 meine erste Wahlkampfreise machte, führte sie meistens in Universitätsstädte. In einer Großstadt wie Köln mit 20.000 Studenten hatte der sozialdemokratische Hochschulbund 20 Mitglieder, und wenn an der Universität gestreikt wurde, ging es ums Mensaessen, um nichts anderes. Erst zwei Jahre später begann die Studentenbewegung, ausgelöst durch Protestveranstaltungen gegen den Vietnamkrieg an amerikanischen Universitäten, dann in Holland, und griff auf Deutschland, Frankreich, sogar auf Polen über.

Es war ein längst überfälliger Protest, der sich gegen Verschiedenes richtete. Gegen die Verzopfung der Universität, gegen den Vietnam-Krieg – ein Thema, das von außen kam –, auch gegen die Tatsache, dass zu dem Zeitpunkt in der Großen Koalition ein Alt-Nazi Bundeskanzler war, nämlich Kurt Georg Kiesinger. Dann ging es gegen die Springer-Presse, die bei zunehmender Radikalität des Protestes ihrerseits regelrecht zum Mord gehetzt hat. Das steigerte sich wechselseitig.

Da sich das Niveau der Springer-Presse bis heute nicht geändert hat, resultieren daraus, was mich betrifft, bestimmte Verhaltensweisen. 1968 habe ich bei der Gruppe 47 mit einer ganzen Reihe von Autoren beschlossen, den Springer-Konzern zu boykottieren, so weit man das als Autor machen kann. Peter Rühmkorf und ich sind die beiden einzigen Autoren, die das immer noch machen. Mein Verlag hat die schriftliche Anweisung, keine Inserate in Springer-Zeitungen zu veröffentlichen. Das halte ich durch.

Wie würden Sie für sich den Begriff der persönlichen Freiheit definieren?

Ich habe bis in mein 31. Lebensjahr mit sehr wenig Geld auskommen müssen, so gut wie kein Geld gehabt, und hatte dann relativ früh mit dem Roman „Die Blechtrommel“ Erfolg. Seitdem bin ich finanziell unabhängig, und wenn ich ein frommer Mensch wäre, dann würde ich jeden Tag einer höheren Instanz danken, dass ich seitdem über die Freiheit des Machen-Könnens verfüge. Manchen Autoren bereitet das Schwierigkeiten: da gibt es Modeströmungen, da gibt es Ängstlichkeiten, heiße Eisen anzufassen, Dinge auszusprechen. Ich habe mir diese Freiheit immer genommen, auch Freunden gegenüber.

Ich weiß aber auch, wie viele Schriftsteller in zunehmender Zahl verfolgt werden. Beim PEN-Club gibt es ganze Abteilungen, die sich nur um diese Autoren kümmern. Es vergeht keine Woche, in der mir nicht von amnesty international oder einer anderen Gruppierung ein Brief auf den Tisch kommt, in dem ich aufgefordert werde, für diesen oder jenen Schriftsteller mit einem Brief an dieses oder jenes Staatsoberhaupt einzugreifen. Manchmal hilft es ja! Wir sind immer so stolz auf unsere Meinungsfreiheit, die uns laut Grundgesetz garantiert ist. Aber es findet sehr wohl eine verdeckte Zensur statt. Wenn eine Zeitung bestimmte politische Äußerungen druckt, werden ihr von Seiten der Wirtschaft Anzeigen entzogen. Und da die meisten Zeitungen heute weniger von der Zahl ihrer Abonnenten leben, sondern eher von Anzeigen, gibt es auch bei Journalisten den vorauseilenden Gehorsam - sie wissen schon, was sie schreiben dürfen und was sie nicht schreiben dürfen.

Es ist nicht wie in – ich sage das jetzt bewusst ironisch – „altmodischen" Diktaturen, wo es wie früher in der DDR eine sehr überschaubare Zensur gibt. Bei uns ist das viel schwieriger herauszufinden, aber sie findet statt - eine latente, verschleierte Zensur.

Was halten Sie in diesem Zusammenhang von Wolf Biermann?

Er ist ein ärgerlicher Wendehals.

Sie sind wegen des Asyl-Paragraphen aus der SPD ausgetreten …

Wegen der Mitwirkung der SPD bei der Verunstaltung des Asyl- Paragraphen. Von meiner politischen Überzeugung her bin ich weiterhin Sozialdemokrat, aber das kann man auch außerhalb der SPD sein. Ich kritisiere die SPD ja laufend. Und die Erfahrung, die ich mit ihr und auch mit Schröder mache, ist, dass sie das durchaus aushalten. Schily zum Beispiel ist jemand, der völlig vergessen hat, dass er mal als Anwalt zu Recht gegen Isolationshaft und andere Dinge angesprochen hat; er ist wie gewendet.

Wie stehen Sie zum Krieg in Afghanistan?

Ich halte den Krieg für einen Fehler und spreche das auch aus. Ich bin für Solidarität mit Amerika – wir sind mit den USA verbündet –, aber nicht für uneingeschränkte Solidarität, denn die ist blind. Man muss in der Lage sein, den Menschen, zu denen man sich solidarisch verhält, in den Arm zu fallen, wenn sie was Falsches machen. Und das, was die Amerikaner machen, ist falsch, führt selbst, wenn man es militärisch sieht, zu einem Desaster. Sie werden nichts Positives erreichen, werden eine neue Generation von Terroristen heranziehen.

Damit komme ich schon wieder auf sozialdemokratische Rezepte. Es ist Willy Brandt gewesen, der als Vorsitzender der Nord-Süd-Kommission – nach seiner Zeit als Bundeskanzler – einen Bericht vorgelegt hat, in dem er noch während des Ost-West-Konflikts den kommenden Konflikt zwischen dem reichen Norden und dem armen Süden voraussagte. Er hat die Lage genau beschrieben und als Konsequenz eine Weltinnenpolitik und ein neues Wirtschaftsverständnis gefordert, in dem die Staaten der Dritten Welt mit gleichen Bedingungen antreten können wie der reiche Westen. Doch davon wurde nichts umgesetzt, auch von der eigenen Partei nicht, von Brandts Nachfolger Helmut Schmidt. Man hatte pragmatisch alle Hände voll zu tun mit dem Ost-West-Konflikt. Aber wie gesagt, Brandt hat während der Zeit des Ost-West-Konflikts den Blick freigehabt für die Ungerechtigkeit, mit deren Folge wir jetzt zu tun haben – dem Terrorismus. Und den wird man nur bekämpfen können, wenn man diese ungerechte Schieflage in der Welt beseitigt. Sonst geht das weiter und weiter; selbst wenn die Amerikaner militärisch siegen, ist damit nichts erreicht.

In der gegenwärtigen Krisensituation entsteht eine Stimmung gegen den Islam …

Die sollen sich mal an die eigene christliche Nase fassen. Wenn Bush von „Kreuzzug“ redet, ist er schlecht informiert. Das war eines der schlimmsten Kapitel des Christentums. Ich kann nur raten, jetzt im Unterricht diese Zeit durchzunehmen, den Schülern zu zeigen, was die Christen in ihren Kreuzzügen angestellt haben.

In einem Artikel wird behauptet, Sie seien ein Ketzer.

Ich bin ein Ketzer, nur werden die heute, Gott sei Dank, nicht mehr verbrannt.

Wie beurteilen Sie es, wenn Ihre Werke verfilmt werden?

Die „Blechtrommel"-Verfilmung finde ich gut! Volker Schlöndorff ist etwas Besonderes gelungen, weil er ein eigenes filmisches Konzept entwickelt und dabei das Buch nicht verraten hat. Die Substanz ist erhalten geblieben. Die Verfilmung der „Rättin“ aber ist völlig daneben gegangen. Da ist der Regisseur in den technischen Möglichkeiten steckengeblieben.

Mussten Sie nicht Ihr Einverständnis geben?

Ich habe mein Einverständnis gegeben, dass der Stoff verfilmt wird.

Haben wir von Ihnen eine Autobiographie zu erwarten?

Mit Sicherheit nicht.

Warum nicht?

Weil ich sofort anfangen würde zu lügen; es würde eine reine Lügengeschichte. Lügen, das kann ich ganz gut.

Findet man stattdessen Ihre Autobiographie in Ihren Figuren?

Nein. Ich bin sicher in allen Figuren partiell drin, aber es existiert kein Selbstporträt. Es gibt allerdings einige Bücher, in denen ich selbst als Erzähler auftrete, zum Beispiel im „Tagebuch einer Schnecke“, im Roman „Der Butt" und auch in der „Rättin“. Aber das Ich, das dort auftritt und von mir ausgeht, verwandelt sich durch diese Fiktion selbst zu einer fiktionalen Gestalt. Zum Beispiel im „Butt“: das bin ich jederzeit, das heißt, ich habe mich von der Jungsteinzeit an bis in die Gegenwart in den verschiedensten Rollen gesehen. Das ist die Möglichkeit der Verwandlung. Direkt autobiographisch zu schreiben reizt mich auch als Form nicht.

Also erfährt man am meisten über Sie, wenn man Ihre Werke liest?

Das stimmt sicherlich. Mein Privatleben trage ich nicht zu Markte. Meine Frau und ich, wir haben zusammen 8 Kinder und 15 Enkelkinder. Wenn ich da Interviews geben wollte über etwaige Schieflagen in der Familie, das wäre furchtbar – ein Alptraum.

Ärgern Sie sich manchmal darüber, was andere über Ihr Werk oder über Sie als Person schreiben?

Es gibt viele gute Magisterarbeiten und Dissertationen, solche lese ich mit Interesse. In Köln zum Beispiel ist eine sehr gute Dissertation über meine Art der Metaphernbildung erschienen, eine richtige Sprachuntersuchung. So etwas lese ich gerne, aber bloße Interpretationen sind meistens sehr langweilig. Einige Porträts sehen das komplexe Zusammenspiel beider Seiten - auf der einen Seite meine künstlerische Tätigkeit und auf der anderen das Engagement als Bürger. Politisch spreche ich nicht in erster Linie als Schriftsteller, sondern als Bürger, als Citoyen. Ich bin der Meinung, dass Demokratie nur existieren kann, wenn genügend viele Leute diese Demokratie auch deutlich leben. Es reicht nicht, alle 4 Jahre, wenn es hoch kommt, zur Wahl zu gehen, sondern man muss auch dazwischen mal den Mund aufmachen und sich einmischen. Die Weimarer Republik ist daran kaputtgegangen, dass nicht genügend Bürger sich schützend vor sie gestellt haben. Das ist die Erkenntnis, die ich mit meiner Generation aus dem Versagen der Weimarer Republik gezogen habe.

Da gab es und gibt es eine ganze Reihe interessanter Arbeiten, die der Sache auch auf die Spur kommen. Nur von bildender Kunst haben die meisten keine Ahnung. Es ist selten, dass jemand gleichermaßen mit meinen literarischen Werken und mit dem, was ich bildnerisch mache, zurechtkommt. Aber vielleicht ist das auch zuviel verlangt. In Deutschland ist alles spezialisiert, jeder hat sein Kästchen.

Schreiben Sie eher unterhaltend oder informierend?

Unterhaltend, um zu informieren. Anders als im Ausland, vor allem in angelsächsischen Ländern und in Spanien, wird hier in Deutschland der Humor meiner Bücher oft nicht gesehen. Aber Humor ist ohnehin sehr schwierig in Deutschland. Wir haben wunderbare Schriftsteller mit einem bis heute enervierend-erquickenden Humor, zum Beispiel Jean Paul, den aber niemand mehr liest. Christoph Martin Wieland, verschwunden! Solche Autoren sucht man im Schulkanon vergeblich, in Deutschland geht das alles verloren. In Frankreich dagegen wären beide Klassiker, die in den Schulen gelesen würden. Wenn behauptet wird, die deutsche Literatur hat keinen Humor, stimmt das einfach nicht.

Sind die Schriftsteller heute noch eine moralische Instanz?

Sind sie das jemals gewesen? Vielleicht in der Nazi-Zeit auf eine schreckliche Art und Weise. Ich glaube, sie sollten auch keine moralische Instanz sein. Bücher können eine gewisse Orientierung geben, den Horizont weiten. Das erfahre ich selbst als Leser anderer Autoren.

Was lesen Sie gerne?

Erzählungen von Tschechow, um nur ein Beispiel zu nennen – die sind wunderbar. Irische Autoren lese ich gerne, weil dort auch diese Art von katholisch-bissigem Humor vorkommt – die sind so schön ketzerisch.

Welche Werke sollte Ihrer Meinung nach ein Abiturient gelesen haben?

Da gibt es diesen großen Klotz Goethe [deutet mit den Händen eine Werkausgabe an]. Es ist und war nie möglich, ihn im Schulunterricht ganz zu lesen; das ist ja auch eine Lebensarbeit. Aber ich empfehle zum Beispiel die „Italienische Reise“ von Goethe: Es ist kein Roman, es sind keine Gedichte, aber die Reisedarstellung ist so lebendig, so anschaulich, dass es auch heute, verglichen mit unseren Italien-Erfahrungen, ein aufregendes Buch ist.

Es kommt darauf an, was man jeweils bei einem Werk herausfinden will: Lessings „Nathan der Weise“ zum Beispiel wird immer aktuell bleiben. Dann gibt es einen Autor mit einem sehr schmalen Lebenswerk, den sollte man ganz lesen – Georg Büchner. Von Grabbe „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“, ein wunderbares Theaterstück, oder den „Siebenkäs“ von Jean Paul, ein herrliches Werk. In Hans Falladas Roman „Kleiner Mann, was nun" geht es um die Notzeit in der Weimarer Republik: ein junges Ehepaar, sie kriegt ein Kind, keine Wohnung, die Wohnungssuche, Alltagssorgen, wunderbar geschrieben, ganz leicht, unterhaltsam und dennoch sehr schön. Heinrich Mann: „Der Untertan“. Man könnte immer so fortfahren.

Was sollte dem Oberstufenschüler, wenn nur wenig Zeit zur Verfügung steht, von Günter Grass vermittelt werden?

Meistens wird „Katz und Maus“ gelesen. Ansonsten, wenn es etwas Kürzeres sein soll, eignet sich zum Beispiel „Aus dem Tagebuch einer Schnecke“, in dem ich als Erzähler auftrete. Ich erzähle die Geschichte der Danziger Synagogengemeinde und bin gleichzeitig für die SPD politisch engagiert, spreche zu meinen damals noch sehr kleinen Kindern und erkläre ihnen, warum ich dauernd abwesend bin, auf Wahlkampfreise bin. Dieses Zwiegespräch, diese Erzählperspektive könnte Schülern zugänglich sein.

Gehört es zur Allgemeinbildung, ein Werk von Günter Grass gelesen zu haben?

Ob ich zur Allgemeinbildung gehöre, weiß ich nicht, habe aber nichts dagegen. Nehmen Sie den „Butt“: Wenn Sie sich mal ein Bein brechen und länger liegen müssen oder im Krankenhaus sind, ist das ein sehr heiteres Buch – ein Stück Therapie.

An welchen Autoren haben Sie sich orientiert?

Als junger Autor – ich rede jetzt vor allem vom Prosa-Schreiben – stand ich vor den Riesen Thomas Mann, Brecht, Gottfried Benn, Kafka und Döblin. Und ich habe mich für Döblin entschieden. Bei den anderen genannten Autoren lief man Gefahr, zum Epigonen zu werden, da das alles in sich geschlossene Werke waren. Döblin dagegen war der Erfindungsreichste.

„Die drei Sprünge des Wang-lun“ etwa spielen in China. Döblin ist nie in China gewesen; es ist ein phantastisches Buch, das man damals dem Futurismus zurechnete. Er hat in Abkehr vom Roman des 19. Jahrhunderts nicht mehr psychologisierend geschrieben, verzichtet auch auf einzelne Helden, sondern im Mittelpunkt stehen Massenbewegungen. Nimmt man es in der heutigen Zeit des Terrorismus in die Hand, wirkt das Werk ungeheuer aktuell: Da gibt es Volksaufstände, da gibt es chemische Angriffe, Seuchen werden verbreitet usw. Das gleiche trifft auf einen anderen Roman von ihm zu, „Berge Meere und Giganten“, den ich in meinem Essay „Im Wettlauf mit den Utopien“ näher beschreibe. Und in dem Essay „Über meinen Lehrer Döblin“ konzentriere ich mich auf den Roman „Wallenstein“.

Er ist einer der Größten, ein großer Autor, von dessen sehr aufschlussreichem Riesenwerk nur „Berlin Alexanderplatz“ häufiger gelesen wird. Als Döblin aus der Emigration zurückkam, konnte er seinen letzten Roman „Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende“ nicht einmal in Westdeutschland unterbringen, der ist dann 1956 in der DDR erschienen.

Was halten Sie vom „literarischen Quartett“?

Da halte ich absolut nichts davon, das ist eine Trivialisierung der Literatur, schrecklich.

Wie haben Sie zur Zeit des III. Reichs die Hoffnung auf den Endsieg erlebt? Konnten Sie das nachvollziehen?

Es war eine ganz geschlossene Weltsicht. Ich bin in der Zeit aufgewachsen und habe bis zum Schluss geglaubt, irgendetwas kommt noch, eine Wunderwaffe oder ähnliches. Ich habe jetzt gerade wieder in Heinrich Bölls „Briefen aus dem Krieg“ gelesen. Er war 10 Jahre älter als ich und ist während des ganzen Krieges Soldat gewesen, zuletzt Obergefreiter. Die Uniform hat er gehasst, aber bis zum Schluss glaubte auch er, es passiert noch was. In der geschlossenen Ideologie existierte nur der Glauben an den gerechten Krieg; alles andere wurde ausgeblendet. Die Fragen wurden nicht gestellt, obgleich jeder wusste, dass es gleich in der Nachbarschaft ein Konzentrationslager gab. In Süddeutschland war es Dachau, bei Berlin zum Beispiel Oranienburg, in der Nähe von Danzig war es Stutthof. Wenn jemand einen politischen Witz erzählte, gab es den Satz: „Pass auf, sonst kommst du nach Stutthof!“ Das war bekannt.

Und es war akzeptiert?!

Es wurde nicht gutgeheißen, aber es war so, zwangsweise. Wer etwas gegen den Führer sagte oder gegen die Partei, dem drohte das KZ. Wer nicht an den Endsieg glaubte, dass wir alle zusammenhalten, dem ebenfalls.

Wir kriegen so etwas ja immer noch in Ansätzen mit, auch wenn der Vergleich nur bedingt möglich ist, weil es heute natürlich nicht lebensgefährlich ist. Wenn ich in diesen Tagen Amerika kritisiere, bin ich ein Anti-Amerikaner.

Wenn Sie die Gelegenheit gehabt hätten, einen Juden zu verstecken, hätten Sie das getan, oder hätten Sie ihn verraten?

Das glaube ich nicht, aber ich kann es nur von mir hoffen. Niemand kann für sich garantieren! Ich war mit 16 Jahren beim Reichsarbeitsdienst, den man absolvierte, bevor man zum Militär kam. Da gab es in der Abteilung zur vormilitärischen Ausbildung mit Gewehr einen Gleichaltrigen, einen netten, etwas unbedarften Jungen, der zu den Zeugen Jehovas gehörte. Der machte alles, was man ihm befahl – nur wenn man ihm ein Gewehr in die Hand drückte, ließ er es fallen. Er fasste kein Gewehr an. Dann musste er zum Strafdienst, Latrinen ausschaufeln, furchtbare Dinge, er wurde geplagt, aber er hat alles gemacht. Die haben ihm wieder das Gewehr in die Hand gedrückt, er ließ es wieder fallen. Sie wurden nicht mit ihm fertig. Dann haben sie, was gemein war, die ganze Stube, wo er lag, unter Strafe gestellt. Seine Stubengenossen sollten dafür sorgen, dass er sich am Gewehr ausbilden ließ. Dann wurden die mit geschliffen, worauf sie ihn alle verprügelt haben, denn er war Schuld, dass auch sie gestraft wurden. Hat alles nichts genützt. Eines Tages war er weg, er ist sicher im KZ gelandet. Mir ist das im Gedächtnis geblieben, aber einen Aufstand haben wir nicht gemacht. Und ich kann mich erinnern, dass nicht nur wir, sondern mittlerweile auch die Leitung des Arbeitsdienstes einen gewissen Respekt vor ihm hatten. Er wurde gefährlich auf seine Art und Weise, gerade weil er so gandhihaft in seinem Widerstand war. Er nahm einfach kein Gewehr in die Hand! Das haben ihm seine Eltern, die Zeugen Jehovas waren, beigebracht, und er hielt sich daran.

Aber Sie können das an sich selbst beobachten. Sie werden wahrscheinlich auch in Ihrem Umfeld Rechtsradikale haben. Wer ist mutig genug, denen zu widersprechen, gerade wenn sie rabiat auftreten? Oder rassistische, ausländerfeindliche Sprüche – meist wird weggehört. Da fängt es an, obgleich wir in einer Demokratie leben. Um so schlimmer war es natürlich in einer Diktatur.

Schämen Sie sich dafür, dass Sie damals faschistische Vorstellungen hingenommen haben?

Lebenslang nagt das an mir, ja! Deshalb komme ich von dem Thema nicht los, und das ist auch gut so! Jetzt rede ich schon wie Wowereit.

Man hat Sie auch als „heimatlosen Gesellen“ bezeichnet. Trifft Sie das?

Als „vaterlandslosen Gesellen“! Diese Formulierung kam vor allem auf, als ich die Form der Wiedervereinigung kritisiert habe. Leider ist manches, was ich vorausgesagt habe, durch die Wirklichkeit nicht nur bestätigt, sondern übertroffen worden.

Herr Grass, wir bedanken uns herzlich für das aufschlussreiche Gespräch!

f. d. R. Helmut Ubben, Aurich, 16. November 2001

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