Artikel in der ZEIT vom 24.10.2002
Von Andreas Sentker
An der Auricher Börse wird die Zukunft gehandelt. Früher schlossen in der ältesten Schänke der ostfriesischen Kleinstadt die Bauern Kuhhändel ab. Heute brüten hier Josef Antony, Alexander Stracke und Wolfgang Völckner über Projekten, die mit etwas Glück das Leben ihrer Klienten verändern. Denn seit mehr als zehn Jahren schlagen die drei Lehrer mit den Auricher Wissenschaftstagen erfolgreich die Brücke zwischen Klassenzimmer und Labor. Ihre Schüler spähen ins Weltall und erkunden die Tiefen des Eismeers, sie jagen nach Elementarteilchen oder graben versunkene Städte aus.
Foto: Alexander Stracke
Während anderswo über das schwindende Interesse Jugendlicher an naturwissenschaftlichen Themen geklagt wird und in vielen Schulen die Post-Pisa-Depression ausgebrochen ist, schreiben die Auricher unverdrossen an einer Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen sucht in Deutschland. Sie handelt von den Schülern und Lehrern zweier ostfriesischer Schulen, von Nobelpreisträgern im halben Dutzend, von Spitzenforschungsinstituten in Deutschland, Europa – und der Antarktis.
Am Anfang aber war Josef Antony. Der Physiker und Maschinenbauer kam 1986 in die Stadt. „Es herrschte damals ein ungeheuer wissenschaftsfeindliches Klima in Deutschland“, erinnert sich Antony. „Die Physiker verstrahlen die Umwelt, die Chemiker verseuchen Boden, Luft und Wasser, und die Biologen manipulieren die Gene: Das war das Bild der Forschung.“
Wie mit den strittigen Themen umgehen? Wie sie in die ostfriesische Provinz tragen, wo die Welt noch heil und die Wissenschaft weit weg schien? Die Lösung brachte Antony 1989 von einer Fortbildung am Forschungszentrum Jülich mit. Wissenschaftler diskutieren mit Schülern hieß dort ein Programm. Warum nicht auch mit Auricher Schülern?
Die Berufsbildenden Schulen 2 in Aurich schickten eine Einladung. Die Jülicher kamen. Schüler bestimmten die ersten Themen: Kernkraft, Ozonloch, Gentechnik. Am 23. April 1990 fand in Aurich der erste Wissenschaftstag statt. Drei Forscher diskutierten in den Klassenzimmern mit den Leistungskursen der Fachoberschule. Motto: „Wissenschaft und Verantwortung“.
Schon ein Jahr später sprengte das Programm Tagesordnung und Klassenzimmer. Dann stieß der Mathematik- und Philosophielehrer Alexander Stracke zum Organisationsteam – mit ihm kam eine ganze Schule, das Auricher Gymnasium Ulricianum. Die Wissenschaftstage fanden nun nicht mehr in der Schule statt, sondern im Rathaussaal und im Tagungsraum des Landkreises.
1995 trat der erste Nobelpreisträger in Aurich auf: Georg Bednorz sprach über Hochtemperatur-Supraleitung. Inzwischen haben die Organisatoren das halbe Dutzend voll. Christiane Nüsslein-Volhard referierte über Entwicklungsgenetik, Klaus von Klitzing über den Quanten-Hall-Effekt. Richard Ernst sprach über Faszination und Verantwortung der Wissenschaft, Paul Crutzen über die Chemie der Atmosphäre. In diesem Jahr erwarten die Auricher den Physiknobelpreisträger Jack Steinberger mit einem Vortrag über Neutrinos. Mit der Liste der Referenten würde sich mittlerweile so manches Großforschungszentrum gern schmücken. In Aurich diskutieren die Topwissenschaftler im ehemaligen Güterschuppen der stillgelegten Kleinbahn – und speisen anschließend in der Börse.
„Die Anfangsphase war die schwierigste“, sagt Josef Antony. „Aber wir hatten in Jülich einen verlässlichen Partner.“ Joachim Treusch, Chef der Forschungsanstalt, gibt die Komplimente zurück: „Es war die ansteckende Begeisterung von Antony, die uns mitgerissen hat.“ Da griff der Forscher auch schon einmal zum Telefon und ließ Beziehungen spielen, um die noblen Persönlichkeiten zum Besuch im hohen Norden zu überreden. „Das ist heute nicht mehr nötig“, sagt Treusch. „Die müssen sich nur die Liste ihrer Vorredner anschauen, dann ist klar: In Aurich muss man gewesen sein.“
Heute ist das Vortragsprogramm fast eine Randerscheinung des Projekts. Den Einladungen nach Ostfriesland folgten Gegeneinladungen – Auricher Schüler durften an die Forschungsfront. Zu verdanken ist das Antonys Verhandlungsgeschick – und der Enge in der Börse. Hier kommt man sich rasch näher. Walter Oelert ist einer von denen, die sich von den Auricher Lehrern schnell überreden ließen. 1996 erzeugte der Jülicher Physiker am Cern, dem Europäischen Laboratorium für Teilchenphysik, erstmals Antimaterie. Am 12. November 1999 berichtete er in Aurich von seinem Durchbruch – kurz darauf vermeldeten die Ostfriesischen Nachrichten, Oelert lade Auricher Schüler ans Cern ein. Er ist nicht der Erste, der dem Werben des Organisatorentrios nicht widerstehen konnte.
Wenn Lehrer Lehrer weiterbilden, ist Langeweile programmiert
Mehr als 60 Einrichtungen haben den Aurichern bis heute ihre Türen geöffnet oder Referenten entsandt: die Humboldt-Universität in Berlin, die ETH in Zürich und die Sorbonne in Paris, das Geoforschungszentrum in Potsdam und das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Mit dem Stuttgarter Max-Planck-Institut für Astrophysik verbindet die Auricher eine lange Partnerschaft. Die Ostfriesen durften beim Deutschen Elektronen-Synchroton (Desy) in Hamburg hospitieren und Meeresforschern auf Helgoland assistieren.
Nicht nur die Schüler, auch die Schulen profitieren vom Auricher Modell der fliegenden Klassenzimmer. „Eine Schule mit gutem Angebot zieht gute Lehrkräfte an“, sagt Tade-Wilhelm Risius, Direktor des Ulricianums. Gerade ist das 1646 gegründete Gymnasium Europaschule geworden. Doch hier, in einer strukturschwachen Region – „Ab Oldenburg wird getrommelt“, sagt Risius –, fällt es nicht leicht, gute Lehrer zu werben.
Regina Scherf führte das Angebot des Ulricianums von Mainz nach Aurich. „Die Wissenschaftstage“, sagt die junge Lehrerin für Mathematik, Physik und Sport, „waren ein wichtiges Argument für meine Entscheidung.“ Der Entschluss wurde belohnt. Im Januar dieses Jahres ging Scherf gemeinsam mit Alexander Stracke und vier Schülern im chilenischen Punta Arenas an Bord der Polarstern. Fünf Wochen lang durften sie auf dem Forschungsschiff in die Antarktis fahren – während in Aurich der Schulalltag weiterging. „Da müssen Sie dem Kollegium erst einmal klar machen, dass es nicht darum geht, zwei Lehrern einen langen Urlaub auf einem Traumschiff zu ermöglichen“, schildert Risius die Schwierigkeiten der Vorbereitung.
Geschichtslehrer Risius ist mit ganzer Seele Geisteswissenschaftler. Auch er hat, das klingt in seinen Nebensätzen an, sich erst mit dem Projekt anfreunden müssen. Dass die Wissenschaftstage auch nicht naturwissenschaftlich interessierten Schülern etwas bieten – Reisestipendien zu Interviews mit Günter Grass oder Walter Jens, Richard von Weizsäcker oder Helmut Schmidt –, versöhnt den Schöngeist. Am Ende überwiegen ohnehin die Vorteile. Denn das Ulricianum konkurriert nicht nur um die besten Lehrer, sondern auch um die Schüler der Region. „Wir müssen uns im Kreis gegen fünf Gesamtschulen behaupten. Da ist es wichtig zu zeigen, dass wir etwas Besonderes zu bieten haben.“
Das Ulricianum hat einiges zu bieten. Die neuen Medien haben Einzug gehalten, die Schule ist international vernetzt. Die Ulricianum Times, eine englischsprachige Schülerzeitung, gewinnt seit Jahren internationale Wettbewerbe. „Das geht nur mit einem Engagement, das weit über das hinausgeht, was der Dienstherr von einem Lehrer erwartet“, sagt Hans-Jürgen Westermayer, der am Ulricianum das europäische Bildungsprojekt Comenius begleitet. „Man muss als Schulleiter schon im Auge haben, ob sich die Kollegen nicht manchmal überbeanspruchen“, sagt Risius und kann doch seinen Stolz auf die Erfolge nicht verhehlen.
Am Stadtrand lässt sein Kollege Gerd Neumann – „Ohne Tee geht in Ostfriesland gar nichts“ – erst einmal Kandis und Rahm anrichten. Neumann leitet die Berufsbildenden Schulen 2, einen Verbund, der vom Berufsvorbereitungsjahr bis zum Fachgymnasium sieben Schulformen unter einem Dach vereinigt. Hier wird Holz-, Metall-, Elektro-, Textil- und Bautechnik unterrichtet. Körperpflege und Ernährung, Haus- und Agrarwirtschaft stehen auf dem Stundenplan. Die Unterschiede zum humanistisch ausgerichteten Ulricianum könnten kaum größer sein. Doch auch hier ist das Engagement der Lehrer außerordentlich, und die Begeisterung über die Wissenschaftstage eint den Physiker Neumann, der seine Schüler gern mit dem Ausruf „Hoher Wirkungsgrad!“ begrüßt, mit dem Historiker Risius. „Wir erschließen den Schülern eine neue Welt“, sagt Neumann.
Auch hier war der Anfang nicht leicht. „Es hat Phasen gegeben, in denen das Projekt bekämpft wurde“, gesteht der Schulleiter. „Da wollen sich doch nur einzelne Kollegen profilieren, hieß es. Aber ehrgeizige Projekte hängen immer von einzelnen Personen ab.“ Neumann hat von den Wissenschaftstagen ganz persönlich profitiert. „Jetzt betrittst du als Physiker den Olymp“, schoss es ihm durch den Kopf, als er in das Hahn-Meitner-Institut kam. Denn die Auricher Lehrer besuchen ihre Schüler am Praktikumsplatz. „Fortbildung, wie sie sein sollte“, schwärmt Alexander Stracke. „Normalerweise bilden Lehrer Lehrer weiter. Etwas Öderes kann ich mir gar nicht vorstellen.“
Das ist ein Teil des Erfolgsgeheimnisses von Aurich: Alle haben etwas davon. Die Schüler lernen Wissenschaft kennen, die Schulen gewinnen an Profil und die Lehrer an Erkenntnissen. Auch in nüchternen Zahlen ist der Erfolg der Wissenschaftstage messbar: Aus der zwölften Jahrgangsstufe des Ulricianums haben 18 Prozent der Schüler Chemie und 13 Prozent Physik als Leistungsfach gewählt. Der Schülerandrang in den Naturwissenschaften hat in Aurich bereits dazu geführt, dass zusätzliche Fachlehrer an die Schulen entsandt wurden.
Sind Forscher durchgeknallt?
Andernorts weisen die Entwicklungen in die entgegengesetzte Richtung. Lehrer und Professoren müssen mit ansehen, wie ihnen besonders in den Natur- und Ingenieurwissenschaften der Nachwuchs wegbricht. Timss- und Pisa-Schock haben die Schwächen des deutschen Schulsystems offen gelegt. Daher schießen inzwischen in ganz Deutschland Projekte aus dem Boden, die Schule und Wissenschaft vernetzen, Alternativen zum üblichen Frontalunterricht entwerfen wollen. NaT-Working heißt ein Programm der Robert-Bosch-Stiftung, das seit dem Sommer 2000 mit 3,7 Millionen Euro Forscher und Lehrer zusammenführt. Bundesweit haben bisher 2500 Schüler aus 200 Schulen von der Initiative profitiert. Der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft hat im Rahmen seines Push-Wettbewerbs 48 Projekte ausgezeichnet, darunter 19 Initiativen, die Forschung in Schulen oder Schüler in Forschungseinrichtungen bringen. Zahlreiche Universitäten haben selbst die Initiative ergriffen und richten gegenwärtig Schullabors ein, in denen Wissenschaft handgreiflich erfahrbar werden soll.
Doch nicht jeder Laborbesuch lässt aus Schülern begeisterte Physiker werden. „Die Projekte scheitern, wenn sie nicht nachhaltig angelegt sind“, sagt Manfred Euler vom Kieler Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN). „Wir müssen die Aktivitäten innerhalb und außerhalb der Schule verzahnen.“ Es sei für die Schüler frustrierend, wenn sie an der Uni selbst forschen dürfen, im schulischen Unterricht aber doch wieder nur der Lehrer experimentiere.
In Aurich ist die Verzahnung gelungen. Frische Daten aus der Antarktis werden direkt in den heimischen Biologieunterricht eingespeist. „Die Anschauung im Labor hilft einem, auch abstrakte Dinge im Unterricht besser zu verstehen“, sagt Ulricianum-Schüler Uwe Goldenstein, der einen Ausflug in die Festkörperchemie hinter sich hat. „Vor allem wusste ich endlich, warum ich bestimmte Theorien lernen muss“, ergänzt Norman Wirsink, der am Hahn-Meitner-Institut (HMI) die Geheimnisse der Quantenphysik ergründete.
Am HMI war auch Claas Freese von den Berufsbildenden Schulen. „Forscher waren für mich immer ein bisschen Durchgeknallte. Das hat sich aber nicht bestätigt.“ Die Einblicke ins Laborleben haben bei den Schülern dennoch Spuren hinterlassen. „Die können ja erst mit 35 anfangen, mal an Familie zu denken“, schildert Julia Fladerer die Zwangslage der Nachwuchswissenschaftlerinnen.
Doch die Chance zu solchen Einblicken kostet Geld, viel Geld. Um Reisekosten und Unterkunft für 100 Schüler jährlich zu finanzieren, „heißt es Klinken putzen“, sagt Josef Antony. Viele Privatpersonen spenden, die Auricher Händler geben einen Teil der Einnahmen ihrer Weihnachtslotterie. „15 bis 20 kleinere Geldquellen müssen am Sprudeln gehalten werden“, sagt Alexander Stracke. „Wir freuen uns über jeden Verbrecher in Aurich. Das Gericht verurteilt Kleinkriminelle und Verkehrssünder schon einmal zu Bußgeldzahlungen an unseren Förderverein – nur mit der Zahlungsmoral hapert es manchmal.“
Das Vortragsprogramm wird von der Sparkasse Aurich-Norden gesponsert. „Die Wissenschaftstage haben hier in der Region einen hohen Stellenwert“, sagt Sparkassendirektor Hinrich Ernst und schwärmt vom vollen Kassensaal bei der traditionellen Eröffnung im Haus des Sponsors. Vom Erfolg des Unternehmens konnte sich der Bankvertreter persönlich überzeugen: „Meine Tochter wollte immer Biologie studieren. Nach einem Aufenthalt am Alfred-Wegener-Institut will sie es nicht mehr. Das erspart ihr manches verschenkte Jahr.“ Ähnlich ging es einem Schüler, der mit dem festen Berufswunsch Physiker nach Genf ans Cern ging – und dort entdeckte, dass es ihm mehr Spaß machte, an den komplizierten Versuchsaufbauten herumzuschrauben. Heute studiert er Maschinenbau.
Wichtige Einsichten haben auch die Organisatoren gewonnen. Nach 13 Jahren kennen sie die Zutaten des Erfolgsrezepts: eine gehörige Portion Selbstausbeutung, eine kräftige Prise Toleranz bei Schuldirektoren und -behörden, langfristige Unterstützung in der Wissenschaft, Rückhalt in der kommunalen Politik, lokale Sponsoren – und viel Freiraum. „Als das Projekt größer wurde, sollte eine Steuerungsgruppe eingerichtet werden. Das haben wir dankend abgelehnt. Ansteckende Begeisterung kann man nicht in Gremienarbeit erzeugen.“
Am Kieler IPN ergründet derzeit im Auftrag des Bundesforschungsministeriums Ute Ringelband die Effizienz am „Lernort Labor“. Sie kennt die Szene: „Es gibt noch viel zu viele Einzelkämpfer. Da ist die Gefahr groß, dass jeder das Rad neu erfindet.“ Die Kieler hatten schon im Januar 2001 eine Reihe von Initiativen zu einem Kongress eingeladen. Die Folgerung der Teilnehmer war klar: Die Kommunikation zwischen den Organisatoren in Schulen und Hochschulen muss dringend verbessert werden. Dazu soll ein Internet-Portal eröffnet werden, das die besten Beispiele sammelt, Kriterien für gute Konzepte erstellt und Hilfe bei der Finanzierung bietet.
Ein Exschüler lehrt Kryptografie
Ringelbands Studie wird nächste Woche dem Ministerium vorgelegt. Dieses muss dann entscheiden, ob und wie es den Dialog zwischen Schule und Wissenschaft fördern will. Andernorts ist man schon weiter. Gemeinsam haben die Essener Mercator-Stiftung und die Deutsche Kinder- und Jugendstiftung Schola-21 gegründet, eine Internet-Plattform, die Schulprojekte versammelt, hervorragende Beispiele aufzeigt und engagierten Lehrern Starthilfen gibt.
Die Auricher haben derweil schon die nächste Initiative ergriffen. Auf der Suche nach einer Partnerschule – Stracke: „Möglichst in Ostdeutschland“ – fragten sie im Geoforschungszentrum in Potsdam an. Die Forscher waren bereit, wie einst die Jülicher Wissenschaftler, Geburtshelfer zu spielen, und das Potsdamer Hermann von Helmholtz-Gymnasium zeigte sich interessiert. Schulleiter Dieter Rauchfuß hat soeben eine Einladung nach Ostfriesland erhalten.
Am 5. November werden dort die 13. Wissenschaftstage offiziell eröffnet. Mit im Progamm: Peter Pietzuch, theoretischer Informatiker vom Queens College im britischen Cambridge. Sein Thema: die Kryptografie. Der Stolz auf diesen Gast lässt Antony & Co. fast den Nobelglanz in Aurich vergessen: Pietzuch ist ehemaliger Stipendiat der Wissenschaftstage. „So schließt sich der Kreis“, sagt Alexander Stracke und bestellt in der Börse noch einen heißen Kakao.