Prof. Rolf Wernstedt
bei der Eröffnung der Wissenschaftstage (Foto: OZ)
Ich habe mich richtig gefreut, als man mich fragte, ob ich zu den Auricher Wissenschaftstagen einige einführende Bemerkungen machen würde. Denn das Außergewöhnliche dieser Wissenschaftstage ist die Zusammenarbeit von Gymnasium und berufsbildender Schule und der Versuch, gemeinsam interessierende wissenschaftliche Fragen mit Experten zu erörtern. Dies bringt eine neue Dimension in die Debatte um unser traditionelles und zukünftiges Bildungsverständnis.
Man kann über Bildung trefflich streiten: Ein seit drei Jahren auf den Bestsellerlisten obenan stehendes Buch „Bildung, alles, was man wissen muss", von Dietrich Schwanitz, verzichtet fast vollständig auf naturwissenschaftlich-technisches Wissen. Die dort vertretene Auffassung von Bildung reiht sich ein in ein bildungsbürgerlich seit 150 Jahren weitergeschlepptes Verständnis, das davon ausgeht, dass man mit der Kenntnis bestimmter literarischer geistesgeschichtlicher Tatsachen ein bedeutenderes, mehr Ansehen beinhaltendes Leben führen könne. Die Folge davon ist, dass jemand für gebildet gehalten wird, der Latein oder Französisch kann, aber für weniger wert gehalten wird, wer ordentlich die Funktionsweise eines Motors erklären kann. Die Trennung des bildungsbürgerlichen Wissens (philologisch, historisch) vom nützlich anwendbaren Wissen hat Tradition und wirkt selbst in den merkwürdigen Fragesendungen, die täglich im Fernsehen zu sehen sind, nach.
Und dabei hat diese Trennung beiden Richtungen nicht gut getan. Wir haben in Deutschland seit 150 Jahren hervorragend ausgebildete Spezialisten: Philologen und Philosophen, Naturwissenschaftler, Ingenieure, Juristen, Generäle, Bischöfe. Sie haben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jämmerlich versagt, weil sie ihrer Verantwortung als Elite nicht gerecht geworden sind und unser Volk vor zwei Katastrophen unter Einschluss der NS-Zeit nicht bewahrt haben. Sie waren nicht wirklich gebildet, weder die naturwissenschaftlich noch die geisteswissenschaftlich Ausgebildeten.
Hans-Magnus Enzensberger hat in einem Essay 1982 das Bildungsniveau von Melanchthon (1497 – 1560) und einer heutigen Friseurin verglichen und kommt zu der Beobachtung, dass Melanchthon an quantitativem Wissen (Griechisch, Latein, Theologie) auf der Basis des 15. Jahrhunderts unter Umständen gar nicht mehr wusste als eine heutige Friseurin, die anderes über Mode, chemische Zusammensetzungen, Aktuelles und immer Neues wissen muss. Der qualitative Unterschied ist offenbar nur die Geordnetheit des Melanchthonschen Wissens. Seine Kenntnisse ordneten sich zu einem geschlossenen Weltbild, in dem alle Bestandteile aufeinander bezogen waren, während man das unverbundene Wissen der Friseurin in dieser Weise nicht beurteilen kann. Comenius hat noch – unter der Voraussetzung eines geschlossenen christlichen Weltbildes – gemeint, für alle alles vollständig (omnia omnibus omnino) anbieten zu können. Nur einer hat das noch einmal geschafft: der Hannoveraner Gottfried Wilhelm Leibniz. Damals haben die Schulen Europas nicht gezögert, immer von einem Kanon her zu denken. Auch die so genannte humanistische Bildung hatte die Vorstellung im Hintergrund, ein geschlossenes Welterklärungsmodell für die Persönlichkeitsentwicklung anzubieten. Daher gilt bis heute besonders ausgezeichnet, wer sich darauf beziehen kann, und sei es nur zitatenweise. Das Auseinanderbrechen von geisteswissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Denkweise und Wissen zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat in Deutschland zu einem charakteristischen Mangel an Gesamtverantwortung geführt, aus dem die Nazis ihre Stärke bezogen: Die deutschen Eliten waren nicht gut genug, um es mit ihnen aufnehmen zu können.
Nach dem 2. Weltkrieg musste sich die an Bildungszielen und -inhalten interessierte Öffentlichkeit damit abfinden, dass geschlossene Welterklärungsmodelle, die die Grundlage der bis dahin geltenden Kanonsvorstellungen waren, nicht mehr existierten. Die technische Entwicklung nach 1945 und die globale Durchkapitalisierung der westlich beeinflussten Länder war nicht mehr kompatibel mit den Bildungsvorstellungen des 19. Jahrhunderts. Aber auch die Übernahme der aus den USA kommenden Lernzielpädagogik konnte die an die vergangenen Kanon-Gewissheiten orientierten Journalisten, Intellektuellen und Eltern nicht überzeugen. Eine wirkliche Alternative zu den alten Kanonsvorstellungen fand man nicht.
In den achtziger und neunziger Jahren wurden die aus der beruflichen Bildung stammenden allgemeinen Lernziele ("Schlüsselqualifikationen" genannt) heiß diskutiert. Methoden-, Sach- und Sozialkompetenz als eine Einheit zu sehen schien nur für die Auszubildenden wichtig, sie sind es aber genauso für die Schülerinnen und Schüler der so genannten allgemeinbildenden Schulen. Die Diskussion über die Lernziele und die Schlüsselqualifikationen erübrigt und ersetzt nicht die Inhalte darüber, an welchen Gegenständen Sach-, Methoden- und Sozialkompetenz erworben werden soll. Ein Fortschritt ist allerdings darin zu sehen, dass auch in allgemeinbildenden Schulen größeres Gewicht auf Methoden- und Sozialkompetenz zu legen ist.
Die in den neunziger Jahren aufgebrochene Diskussion über die Effizienz des Bildungswesens unter der totalen Herrschaft von neuen Informationstechnologien und globalisierter Ökonomie macht die Frage nach dem Bildungsverständnis nicht überflüssig, sondern verschärft sie. Da es kein Privileg mehr ist, an fast alle Informationen zu gelangen, wird die Aufgabe drängender, Menschen zu befähigen, Informationen auszuwählen und in Wissen zu verwandeln, das heißt zu bewerteter, beurteilter und funktional eingeordneter Information zu machen. Daraus entsteht selbstverständlich noch kein geschlossenes Weltbild, aber eine orientierte Handlungsperspektive. Das technische Informationswissen, das zur Herstellung oder zum Verstehen eines Motors sachkompetent nötig ist, darf nicht die Frage ausblenden, in welchem funktionalen Zusammenhang dieses Denken steht (von der Verkehrslogik über die Mobilitätswünsche bis zu den ökonomischen und Umweltproblemen).
Das Weltverständnis verlangt unausweichlich ein Bewusstsein, das die fachidiotischen Grenzen sprengt.
Drei Probleme waren es, die uns im letzten dreiviertel Jahr bewegt haben, von denen wir vor elf Monaten noch nichts wussten:
Diese Probleme halbwegs zu analysieren, zu bewerten und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen (als handelnder Politiker, Wissenschaftler oder als BürgerIn) verlangt mehr als jeweils Spezialistenwissen. Ich möchte dies ein bisschen erläutern:
Die ersten Meldungen über BSE befallene Kühe in Deutschland führten zu einer hohen Aufmerksamkeit und Unsicherheit. Das Urvertrauen der deutschen Bevölkerung in die Gesundheit und die systematische Kontrolle der Rinder in Deutschland war ziemlich schnell völlig zerstört. Landwirte bangten um ihr Existenz, Bundesländer wie Bayern um ihren Ruf und die Verbraucher um ihre und ihrer Kinder Gesundheit. Es stellte sich heraus, dass sowohl die Veterinäre als auch die Humanmedizin zu wenig über Entstehung, Verlauf, Ansteckung und Übertragbarkeit der Krankheit wussten. Dieser medizinisch-naturwissenschaftliche Weg zur Lösung des Problems war also unzureichend. Der Verdacht der Verursachung fiel sehr schnell auf die Verfütterung von Tiermehl an die Pflanzenfresser Kühe, also an die perverse Art, das Rindvieh gleichsam zu Kannibalen zu machen. Dies wiederum lenkte den Blick auf den ökonomischen Zwang in der Landwirtschaft, möglichst niedrige Erzeugerpreise zu erreichen, um auf dem Markt bestehen zu können. Die Logik der Ernährungswirtschaft, nämlich möglichst günstig produzieren und verkaufen zu können, hatte, so stellte sich heraus, die Kausalzusammenhänge verdrängt, dass die Tierzüchtung um einer gesunden Ernährung der Menschen willen da ist.
Was hat dieser Vorgang mit Bildung zu tun? Er hat es insofern, als dargestellt werden kann, dass es nicht ausreicht, nur ein guter Tierarzt, nur ein sorgfältiger Futtermittelhersteller oder fleißiger Landwirt oder sorgloser Konsument zu sein, sondern dass bei allen Beteiligten ein Bewusstsein von den Zusammenhängen der Dinge bestehen muss und in diesem Rahmen Verantwortung zu übernehmen ist. Wir haben gelernt, neu über unsere Ernährungsgewohnheiten und damit über unser Leben nachzudenken und hoffentlich auch zu handeln. Schließlich hat mancher auch zu Recht gefragt, wie wir unser Verhältnis zu den Tieren neu bestimmen.
Seit der Entschlüsselung der DNA arbeiten Forscherinnen und Forscher daran, aus den Erkenntnissen eventuell Nutzanwendung für Pflanzen- und Tierzüchtung herauszufinden. Das menschliche Genom ist dabei von besonderem Interesse, weil aus der Kartierung seines Aufbaus Heilungschancen für Erbkrankheiten erwartet werden. Dies war sehr lange eine Sache der Spezialisten in den Labors und erreichte nur im Zusammenhang mit der In-vitro-Fertilisation und der Embryonenschutzdebatte Ende der 80er Jahre eine interessierte Öffentlichkeit. Dies änderte sich in diesem Jahr, als die Problematik der so genannten omnipotenten Stammzellen diskutiert wurde, also der Zellen, aus denen ein vollwertiges ganzes Lebewesen, also auch ein Mensch, entstehen kann. Diese Stammzellen kann man nur gewinnen aus so genannten Blastozyten. Das sind kleine Zellhaufen, die aus einer befruchteten Eizelle durch mehrmalige Teilung entstehen, aber noch nicht in die mütterliche Plazenta eingenistet sind. Ist es nach unserer religiösen, humanen und auf den unbedingten Schutz des menschlichen Lebens ausgerichteten Rechtsordnung erlaubt, die Stammzellen zu Forschungszwecken zu isolieren und dafür in Kauf zu nehmen, dass das werdende Embryo in Gestalt der Blastozyten getötet wird?
Das wirft enorme Fragen unseres Menschenbildes auf und stellt die Verantwortlichen und uns vor die uralte Frage: Was dürfen wir tun? Wie will man verhindern, dass Menschen geklont werden, dass Menschen auf Äußerlichkeiten wie Haarfarbe, Muskelansatz oder Brustumfang hin gezüchtet werden, dass durch Charaktereigenschaften unkontrollierbare Wirkung hervorgebracht werden? Schließlich hat Jürgen Habermas jüngst darauf hingewiesen, dass auch das demokratische Grundverständnis berührt wäre, das darauf beruht, dass sich gleichwertige, sich selbst steuernde bewusste Menschen gegenüberstehen und ihre Lebensform demokratisch aushandeln. Man sieht, dass es nicht ausreicht, ein guter Genetiker allein zu sein. Mit fundamentalistischen Auffassungen allerdings, auch wenn sie christlich motiviert sein mögen, ein Forschungsverbot auszusprechen, wäre auch nichts gewonnen. Nur die bewusste Zusammenschau der hier verhandelten Probleme verbürgt Erkenntnis. Auch an diesem Fall zeigt sich Bildung als umgreifender als jeweiliges Spezialistenwissen.
Soviel Verunsicherung war noch nie. Es erforderte höchste technische Kenntnisse und fliegerische Fertigkeiten, das monströse Verbrechen zu planen, zu koordinieren und durchzuführen. Wir wussten aber auch sehr schnell, dass man mit naturwissenschaftlich-technischen Kategorien allein an das Problem nicht herankommt. Deswegen sind die polizeilichen, militärischen und geheimdienstlichen Operationen, so notwendig sie sind oder sein mögen, nicht ausreichend für die Analysen und die Bewältigung des weltweiten Problems des Terrors. Wir haben uns zu beschäftigen mit dem Selbstverständnis und dem Zusammenhang der Religionen, mit der ökonomischen Ungerechtigkeit und ihren Wirkungszusammenhängen, mit der jahrhundertealten Kränkung des islamischen Selbstwertgefühls, mit unserer eigenen Wirkung auf andere Kulturen, mit fremden Mentalitäten und Ungleichzeitigkeiten. Es schleicht sich die Ahnung ein, dass sich nach dem 11. September auf Dauer viel ändern wird, dass auch unsere Seh- und Verhaltensweisen andere werden. Die Erfahrung, dass Krieg nicht mehr regional begrenzt, sondern überall gegenwärtig sein kann, ist für alle neu. Keine Bombe gegen die Taliban oder die Camps der Al Quaida befreit uns von der Angst vor Krieg auch bei uns. Auch hier: Wir verstehen die Welt nicht mit einseitigem Wissen, sondern mit den darüber hinaus gehenden Überlegungen.
Alle drei Beispiele zeigen, glaube ich, überzeugend, dass der Begriff der Bildung nicht veraltet ist, sondern gleichsam nimmersatt die chaotisch scheinende Welt ordnen kann. Das Ordnungsprinzip ist die potentielle gleiche Geltung und die Verbindung unterschiedlicher Welterklärung, sei es naturwissenschaftlich, geisteswissenschaftlich, technisch, philosophisch, religiös, im Bewusstsein gemeinsamer Verantwortung. Das ist das adäquate Verständnis von Bildung in einer pluralistischen Welt unendlicher Informationsmöglichkeiten.
Das interessanteste Buch, das ich in diesem Jahr gelesen habe, war eines, dessen Thema ich als viertes Beispiel hätte nennen können: „Klimageschichte Mitteleuropas", 1000 Jahre Wetter, Klima, Katastrophen. Es war wieder ein Buch, das die Zusammenschau erzwang aus naturwissenschaftlichen, historischen, mythologischen und aktuellen Problemen.
Weil ich diese Art zu denken und zu sehen für wegweisend und die einzige Möglichkeit halte, auf der Höhe unserer Zeit weiterzukommen, bin ich gern zu Ihnen gekommen, denn Sie versuchen diesen Weg.