Logo der Berufsbildenden Schulen 2 Aurich

Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

Logo des Ulricianums

Wissenschaft verstehen

Vortrag auf der Eröffnungsveranstaltung der
10. Auricher Wissenschaftstage
am 3. November 1999

Prof. Dr. Jürgen Mittelstraß,
Zentrum Philosophie und Wissenschaftstheorie,
Universität Konstanz

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

Wissenschaft verstehen – wer möchte das nicht? Wissenschaft ist ein Teil unserer Welt, zwar ein wesentlicher Teil. Wissenschaft hat die Welt verändert und verändert sie Tag für Tag. Aus einer natürlichen Welt, der archaischen Welt der Sammler, Jäger und Bauern, wird eine zunehmend artifizielle Welt. Deshalb sprechen wir auch von technischen Kulturen, in denen wir leben. Das gilt für den vielzitierten Mann und die weniger oft zitierte Frau auf der Straße ebenso wie für den Schüler und die Schülerin oder den Studenten und die Studentin, die ihre ersten Erfahrungen mit der Wissenschaft machen. Diese sind in der Regel schmerzliche Erfahrungen. Denn Wissenschaft ist keineswegs sogleich verständlich, sondern zunächst einmal unverständlich, und zwar sowohl in ihrer Sprache als auch in ihrem Tun. Wer eine Bibliothek oder ein Labor betritt, macht erst einmal die Erfahrung, sich auf seine lebensweltlichen, auch sprachlichen Erfahrungen nicht mehr verlassen zu können, und sieht sich in Lernprozesse gezogen, an deren Anfang das blanke Unverständnis steht. Ja, Wissenschaft ist auf den ersten Blick – und oft auch noch auf den zweiten Blick – das Unverständliche schlechthin, gerade weil sie auf vermeintlich bekannten Wegen, nämlich einem genauen Sprechen und einem kontrollierten Tun, kommt, nicht in Gestalt von Wundern oder Märchen, aber in Gestalt eines Buches mit sieben Siegeln und eines Spieles, dessen Regeln man (wie hierzulande Kricket) nicht kennt. Außerdem ist Wissenschaft ihrem Wesen nach nicht offenherzig und nicht freundlich; und von fröhlicher Wissenschaft, über die Friedrich Nietzsche so fröhlich geschrieben hat, kann schon gar keine Rede sein. Oder haben Sie – an die Älteren unter Ihnen gewandt – schon einmal einen fröhlichen Wissenschaftler bei seiner Arbeit angetroffen oder ein fröhliches Lehrbuch der Molekularbiologie oder der Statistik gelesen? Wissenschaft scheint irgendwie nicht von dieser, jedenfalls nicht einer gemeinsamen Welt zu sein, und wenn doch, dann als ein hermetisches Spiel mit qualvollen Initiationsriten. Wissenschaft verstehen – das ist wie die Vorbereitung zu einem Spaziergang auf dem Mond oder ein Treffen mit Sisyphos.

In einem seltsamen Gegensatz dazu steht der Umstand, dass der Wissenschaft kaum jemals zuvor so viel öffentliche Aufmerksamkeit zuteil wurde wie in unserer Zeit. Wissenschaft ist auf einmal in aller Munde, Wissenschaftsjournale, für einen intelligenten Otto-Normalverbraucher geschrieben, haben Konjunktur und sehen sich in einem wachsenden Markt, andere Medien wie das Fernsehen schließen sich an; die Politik gefällt sich in immer neuen Beteuerungen, dass Wissenschaft und Forschung die Zukunft unserer Gesellschaft sind. In einer noch vor kurzem gepflegten Standortmetaphorik war nicht nur von einem (gefährdeten) Wirtschaftsstandort Deutschland, sondern auch von einem entsprechenden Wissenschaftsstandort oder Forschungsstandort die Rede. Wissenschaft, auch wenn man sie nicht versteht, ist in unserer Gesellschaft zur hochgeschätzten Nachbarin geworden, die sich gelegentlich offenbar mit Umzugsplänen befasst und dann, des eigenen Wohlbefindens und Wohlstandes wegen, um jeden Preis zum Bleiben und zu anhaltender Produktivität überredet werden muss.

Und in der Tat, noch einmal: Die moderne Welt weiß, dass sie sich den Leistungen des wissenschaftlichen Verstandes verdankt und dass sie ihre Probleme ohne Wissenschaft nicht bewältigen kann; die Wirtschaft weiß, dass sie ohne Wissenschaft einen mörderischen Produktivitäts- und Innovationswettbewerb nicht bestehen kann, und die Medien wissen, dass Wissenschaft wieder 'in' und, siehe da, richtig dargestellt auch unterhaltsam – und natürlich auch ein lukratives Geschäft – sein kann. Überall wird – wie schon gesagt – aus der Welt der Wissenschaft berichtet, und Wissenschaftler schreiben fleißig Bücher, die nicht mehr nur für den Kollegen – der sie meist ohnehin nicht liest – bestimmt sind. Dennoch herrscht nicht eitel Freude – auf beiden Seiten. Die Öffentlichkeit mahnt Nützlichkeit und Verständlichkeit an (Wissenschaft soll sich rechnen), die Wissenschaft fühlt ein wenig sich unvorbereitet auf eine Bühne gezerrt, die nicht die eigene ist. Die Öffentlichkeit schmückt sich gegenüber der Wissenschaft mit Informationsidealen (sie will informiert sein und informieren), die Wissenschaft gegenüber der Öffentlichkeit mit Erkenntnisidealen (Faust lässt grüßen) und dem Glanz der Wahrheit, der nach alter Vorstellung bzw. einem gut gepflegten Vorurteil auf ihrer Arbeit liegt. Es ist wie in den „Xenien" in Schillers Musenalmanach (auf das Jahr 1797): Einem ist die Wissenschaft „wie die hohe, die himmlische Göttin, dem andern eine tüchtige Kuh, die ihn mit viel Butter versorgt“. Also doch wohl zwei Welten noch immer, auch wenn die eine, die öffentliche oder lebensweltliche, sich allmählich zur Wissensgesellschaft zu mausern beginnt, und die andere, die wissenschaftliche, längst nicht mehr aus Kolonien von Elfenbeintürmen besteht. Wie verständlich ist Wissenschaft, wie verständlich kann Wissenschaft, wie verständlich SOLL Wissenschaft sein?

Zum Textbeginn

1. Wissenschaft – das unbekannte Wesen

Auch die derzeitigen Bemühungen, Lebenswelt, d. h. die gemeinsame Welt, und wissenschaftliche Welt, die Welt der (wissenschaftlichen) Bibliotheken und Labore, enger zusammenzurücken, Wissenschaft verständlich zu machen, kommen bei allem guten (und oft auch erfolgreichen) Willen nicht um die Tatsache herum, dass der wissenschaftliche Verstand für den nicht- wissenschaftlichen Verstand in vielen Fällen ganz einfach ein Rätsel bleibt. Verständlichkeit der Wissenschaft für alle lässt sich eben nicht beliebig, und schon gar nicht auf kurzen Wegen, herstellen, schwierige Dinge, vor allem, wenn sie in einem voraussetzungsreichen, anspruchsvolle Vorkenntnisse erforderlichen Wissenszusammenhang stehen, lassen sich nicht beliebig vereinfachen, Fachterminologien, ohne die die Wissenschaft ihre Exaktheit und ihre 'Sprache' verlöre, lassen sich nicht in allen Teilen, vor allem nicht ohne Verlust ihres eigentlichen Informationsgehalts, in umgangssprachliche Formen und Verständlichkeiten transformieren. Wer dennoch darauf besteht, steuert sich häufig selbst in Enttäuschungen, die in diesem Falle die Wissenschaft nicht zu vertreten hat.

Ich will es noch deutlicher formulieren: in einem wohlbestimmtem Sinne ist die Wissenschaft, damit auch ihre Sprache, unvermeidlicherweise unverständlich. Wissenschaft befasst sich mit Dingen, die dem nicht- wissenschaftlichen Verstand nicht in gleicher oder in anderer Weise zugänglich sind – es sei denn, er verwandelte sich auf langen Ausbildungswegen selbst in den wissenschaftlichen Verstand -, und Wissenschaft spricht unvermeidlicherweise in einer Sprache, die zunächst einmal nur sie selbst, d. h. der wissenschaftliche Verstand, versteht. Beides gehört zu ihrem Wesen und beides gehört zu ihrer Aufgabe. Was dem nicht-wissenschaftlichen Verstand, damit auch der lebensweltlichen Erfahrung, unmittelbar zugänglich, unmittelbar verständlich ist, bedarf in der Regel keiner Wissenschaft, damit auch keiner Form, die unserer sprachlichen Erfahrung nicht entspricht. Oder anders, noch pointierter ausgedrückt: Wissenschaft, verständlich gemacht, verliert ihre Wissenschaftlichkeit – und zu diesem Opfer sind nur wenige Wissenschaftler, selbst wenn es nur um Zwecke der allgemeinen Darstellung geht, bereit -, lebensweltliche Erfahrung, wissenschaftlich gemacht, verliert ihre Verständlichkeit. Leben wir also doch in zwei Welten, die nicht zusammenkommen können oder nur jeweils um den Preis der anderen bewohnbar, verständlich sind?

Wenn die Bemerkungen über die wesentliche Unverständlichkeit des wissenschaftlichen Verstandes für den nicht-wissenschaftlichen Verstand das letzte Wort in dieser Sache wären, müsste die Antwort Ja lauten. Aber – wir können alle aufatmen – sie sind nicht das letzte Wort. Hier sollte lediglich etwas gegen die polemische, keineswegs selten auftretende Vorstellung gesagt werden, nur Arroganz und ein elitäres Bewusstsein hinderten den wissenschaftlichen Verstand daran, sich verständlich zu machen. Wäre dies so, müssten uns allen von vornherein alle mathematischen, physikalischen, biologischen, medizinischen und anderen wissenschaftlichen Geheimnisse offen stehen – wenn nur der wissenschaftliche Verstand sich bequemen würde, eine verständliche Sprache zu sprechen und seine Gegenstände mit den auch lebensweltlich zugänglichen Gegenständen zu identifizieren. Beides aber geht nicht, jedenfalls nicht in der Weise, dass aus zwei Welten problemlos eine würde; gemeint ist, dass in dieser Welt dann die Wissens- und sprachlichen Strukturen der Lebenswelt herrschten. Wer dies erwartet, wendet sich nicht nur gegen die Wissenschaft, sondern auch gegen seine eigene Welt, die selbst, auch in Form der uns vertrauten Lebenswelt, längst das Produkt des wissenschaftlichen (und technologischen) Verstandes geworden ist. Wir müssen uns ja nur umsehen. Wo immer wir (genauer) hinsehen und wo immer wir hingehen, der wissenschaftlich und technologisch informierte und selbstbewusst bauende Verstand war immer schon da.

Das ist nur scheinbar ein Widerspruch. Die Lebenswelt, in der wir alle mit unseren Erfahrungen und Problemen wohnen, ist zwar im Gegensatz zur wissenschaftlichen Welt die vertraute, auch in ihren sprachlichen Strukturen vertraute und verständliche Welt, aber der Motor, der diese Welt in Gang hält, das Design, das auch ihr – als moderne Welt – zugrunde liegt, ist die wissenschaftliche Welt. Das machen im Grunde schon die Betätigung eines Computers und der Gang in eine Apotheke klar.

Das weiß natürlich auch der Wissenschaftler und leitet daraus gleich auch noch eine Begründung dafür ab, sich nicht allzu intensiv mit den Wünschen der Lebenswelt, den Wunsch um Verständlichkeit des wissenschaftlichen Wissens eingeschlossen, zu befassen: die Welt, die da wünscht und fragt, ist ohnehin weitgehend das Produkt seiner Arbeit. Reicht das nicht, auch und gerade unter Gesichtspunkten der Verständlichkeit und der Anwendungsnähe? Genügt es nicht, die moderne Welt zu machen? Muss man sie sich selbst und dem nicht-wissenschaftlichen Verstand auch noch erklären? Die Frage so stellen, heißt sie beantworten: Eine Welt, die sich selbst nicht mehr versteht, ist keine rationale Welt mehr – in der wir doch trotz aller Bedenken und Ängste noch immer zu leben glauben. Sie wäre eine Welt, die in einen Zustand zurückkehrt, den sie mit einer mythischen Welt teilen würde. Nur herrschen in dieser Welt keine Götter mehr, sondern ein finsterer Verstand, der sich der wissenschaftliche nennt und sein Delphi in den Laboren geschaffen hat. Folglich geht es auch um mehr als nur um die popularisierende Form dessen, was die Wissenschaft weiß. Es geht – und das macht die Aufgabe Wissenschaft verstehen so wichtig – um die Selbstvergewisserung und die Rechtfertigung des wissenschaftlichen Wesens unserer Welt, auch in ihren lebensweltlichen Strukturen.

Zum Textbeginn

2. Wege in die Wissenschaft

Die Frage, wie verständlich die Wissenschaft sein kann, ist eine alte Frage, ebenso alt wie das Gelächter der mit beiden Beinen fest auf dem lebensweltlichen Boden stehenden thrakischen Magd, das Thales galt, als dieser, die Augen zu den Sternen gewandt, gemeint war forschend, in einen Brunnen fiel. Wissenschaft hat von Beginn an mit den Vorurteilen zu kämpfen, unverständlich und weltfremd zu sein. Das liegt gewiss einerseits an dem, was ich über die unvermeidliche Unzugänglichkeit des wissenschaftlichen Verstandes angesichts voraussetzungsreicher Wissenszusammenhänge gesagt habe, andererseits aber auch an dem Unvermögen, Wissenschaft selbst noch als Teil einer gemeinsamen Praxis zu begreifen. Dieses Unvermögen teilen sich häufig der wissenschaftliche und der nicht-wissenschaftliche Verstand, womit wenigstens darin ein Stück Gemeinsamkeit läge. Diesem Unvermögen soll mit folgenden (knappen) Feststellungen entgegengetreten werden:

  1. Wissenschaft ist Problemlösung mit anderen Mitteln.

    Wer Wissenschaft nur als das Gespräch des absoluten Geistes mit sich selbst ansieht oder als ein Glasperlenspiel sterblicher Götter, der hat das eigentliche Wesen der Wissenschaft und ihre Aufgabe nicht verstanden. Wesen und Aufgabe der Wissenschaft liegen in der Bewältigung von Problemen, die zwar oft selbstgestellte Probleme, in ihrer Struktur gleichwohl den dem nicht-wissenschaftlichen Verstand vertrauten Problemen ähnliche Probleme sind. Wer aber die Probleme kennt, versteht auch die Lösungen. Also kommt es im Verhältnis des wissenschaftlichen und des nicht-wissenschaftlichen Verstandes in erster Linie darauf an, wissenschaftliche Problemstellungen verständlich zu machen. Wie sollten auch Antworten verständlich sein, wenn man schon die Fragen, auf die sie Antworten sind, nicht versteht?

  2. Wissenschaft ist Entdeckung jenseits der entdeckenden Erfahrung.

    Wissenschaftliche Probleme werden – nicht immer, aber häufig – durch Entdeckungen gelöst, im Falle des Problems des Aufbaus der Materie z. B. durch die Entdeckung des Atomkerns (1909 durch Rutherford). Das gilt auch für lebensweltliche Probleme und den Umgang mit ihnen in der lebensweltlichen Erfahrung, z. B. bei der Suche nach richtigen Wegen und einem geeigneten Gewürz für eine fade Suppe. In diesem Sinne gleichen sich nicht nur die Problemstrukturen in der wissenschaftlichen und in der Lebenswelt (Wissenserwartungen werden nicht erfüllt, Erfahrungen werden gestört), sondern auch die Problemlösungsstrukturen. Auch dies gilt es, wenn man am Verhältnis oder Nicht-Verhältnis zwischen wissenschaftlichem und nicht-wissenschaftlichem Verstand unter dem Gesichtspunkt der Verständlichkeit etwas ändern will, deutlich zu machen.

  3. Wissenschaft ist eine Hochstilisierung alltäglicher Wissensformen.

    Wissenschaft ist seit ihren griechischen Anfängen weniger durch ihre Sprache in einem allgemeinen Sinne als vielmehr durch ihre Theorieform, dadurch, dass sie in Theorien spricht, ausgezeichnet. Zu dieser Theorieform, die auch die Form unserer Lehrbücher ist, gehört z. B. der Beweis. Der Beweis ist geradezu das Gütesiegel der Wissenschaft, und doch findet er in der Lebenswelt sein Pendant, nämlich in Form der argumentativen Verständigung. Das aber bedeutet, dass die Welt der Wissenschaft und die Lebenswelt über argumentierende und Handlungsstrukturen miteinander verbunden sind. Nur gelten in der einen, in der Welt der Wissenschaft, strengere Regeln als in der anderen, der Lebenswelt. Diese Regeln markieren den Weg von der Erfahrungsform des Wissens zur Theorieform des Wissens, der insofern nicht aus der gemeinsamen Welt hinaus-, sondern tiefer in diese hineinführt.

Im Übrigen lassen sich Lernprozesse, über die beide Welten ebenfalls miteinander verbunden sind, abkürzen, wenn an ihrem Ende nicht das Selbst-lehren-Können steht, man selbst in die Rolle des Lehrenden zu schlüpfen sucht. Lehren können, was man weiß, ist dabei der eigentliche Ausweis und das eigentliche Kriterium des Wissens: Wissen heißt lehren können. Verstehen wiederum ist nicht in allen Fällen gleich Wissen. Es kann auch ein Verstehen des allgemeinen Rahmens sein, in dem sich Wissen bildet, und der Konsequenzen, die ein (nicht vollständig begriffenes bzw. zu begreifendes) Wissen hat. Insofern haben aber auch im Binnenverhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt kluge Meinungen durchaus ihren Platz. Man muss kein Diplom haben, um beim Wissen, auch dem wissenschaftlichen, mitreden zu können. Man sollte allerdings verstanden haben, was man (auf Grund der eigenen Ausbildung) verstehen kann und was nicht.

Zum Textbeginn

3. Fallen – und wie man ihnen entkommt

An den Wegen einer verständlichen Wissenschaft lauern heute viele Missgünstige und Verständlichkeitsfeinde, darunter auch viele Wissenschaftler selbst. Wenn ich zuvor gesagt habe, dass sich Verständlichkeit in der Welt der Wissenschaft nicht beliebig für alle herstellen lässt, schwierige Dinge, vor allem, wenn sie in einem voraussetzungsreichen, anspruchsvollen Wissenszusammenhang stehen, sich nicht beliebig vereinfachen und Fachterminologien sich nicht in allen Teilen in umgangssprachliche Formen und Verständlichkeiten transformieren lassen, dann gibt es natürlich auch die umgekehrte Möglichkeit, nämlich unter dem Deckmantel des Wissenschaftlichen Dinge unnötig zu komplizieren. Dem dient in vielen Bereichen ein Jargon der Unverständlichkeit, der die Wissenschaft nicht weiterbringt, aber die Anmutungen der Verständlichkeit von ihr fernhält. Das gilt ebenso von der Sprache, in der die Wissenschaft spricht, wie von Theorien, in denen sie sich darstellt. Diese kommen häufig wie des Kaisers neue Kleider daher, vor allem in den Geistes- und Sozialwissenschaften, die sich in wissenschaftlichen Dingen immer wieder einem besonderen Legitimationsdruck ausgesetzt sehen. Da liegt dann die Flucht in den terminologischen Schwulst und die Verklausulierungssucht nahe; das Einfache (auch in der Sprache) erscheint als der Feind der eigenen Bedeutungsvermutung. Das aber bedeutet: Der Ausweis der Wissenschaftlichkeit erfolgt hier durch den (rettenden) Nachweis der Unverständlichkeit (schließlich versteht auch niemand die Sprache der modernen Kosmologie, und die gilt allemal als Wissenschaft). Man spricht eben die Sprache des absoluten Geistes, der sich nur den Eingeweihten, zu denen man natürlich als Geistes- oder Sozialwissenschaftler gehören möchte, offenbart.

Leider ist dieser Fall keineswegs selten. Dass man sich so versteht, stört die (auch heute durchaus gegebene) Bemühung des wissenschaftlichen und des nicht-wissenschaftlichen Verstandes, sich in einer gemeinsamen, verständlichen Welt einzurichten, erheblich. Deshalb ist aber auch Wissenschaftskritik, wissenschaftlich informiert und mit Augenmaß betrieben, angesichts der weitgehenden 'Sprachlosigkeit' zwischen Wissenschaft und Lebenswelt eine ebenso wichtige Aufgabe wie die Bemühung des Alltagsverstandes, sich in der Welt des wissenschaftlichen Verstandes umzusehen.

Im Übrigen lebt jeder Bürger in vielen Welten, z. B. in der Familienwelt, der Schul- und Berufswelt, der politischen Welt, der Kulturwelt, der Unterhaltungswelt. Zu diesen Welten gehört auch die wissenschaftliche Welt. In ihr leben jedoch nicht alle, sondern nur wenige. Sie dennoch allen wenigstens in gewissen Grenzen und unter den hier genannten Gesichtspunkten vertraut zu machen, ist eine Aufgabe aller mit Wissenschaft Befassten und der Wissenschaft selbst. Schließlich geht es in der modernen Welt, die zu großen Teilen ein Produkt des wissenschaftlichen Verstandes ist, nicht nur darum, die Grenzen des Verständlichen durch die wissenschaftliche Arbeit immer weiter ins Unverständliche vorzuschieben, sondern auch darum, das für den wissenschaftlichen Verstand Verständliche dem nicht-wissenschaftlichen Verstand verständlich zu machen – in den zuvor erwähnten Grenzen, die durch das Wesen der wissenschaftlichen Arbeit und durch ihre voraussetzungsreichen theoretischen Formen bestimmt sind. Also: in Sachen Verständlichkeit mehr Gelassenheit – auf beiden Seiten. Die eine, die Wissenschaftlerseite, sollte sich um Verständlichkeit bemühen – zumal Unverständlichkeit eben nicht selten auch ein fein zurechtgeschneidertes Kleid ist, das unter dem Signum der Wissenschaftlichkeit viel Leere und Bedeutungslosigkeit verbirgt. Die andere, die Lebensweltseite, sollte Unverständlichkeiten in Kauf nehmen, die nur ein intensives wissenschaftliches Studium verständlich machen könnte.

Im Übrigen hat auch die Wissenschaftsseite heute ein reges Interesse an einer derartigen gelassenen Betrachtungsweise. Der Grund ist die vielbeklagte mangelnde Wissenschafts- und Technikakzeptanz in der Gesellschaft (z. B. in Sachen Gentechnik und Biotechnologie). Ob es einen derartigen Mangel, darüber hinaus sogar Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit in einem nennenswerten Umfang wirklich gibt, ist eine Frage, die in diesem Zusammenhang offen bleiben darf. In jedem Fall führt ein derartiger Umstand auch auf Seiten der Wissenschaft zur Sensibilisierung für Fragen der Verständlichmachung und des gesellschaftlichen Nutzens des eigenen Tuns. Und das ist eine Entwicklung, die nicht nur unter Gesichtspunkten knapper werdender Mittel und eines steigenden Innovationsbedarfs, sondern auch unter Gesichtspunkten mangelnder (oder als solcher empfundener) Akzeptanz begrüßenswert ist: auch diese Entwicklung führt die Welt der Wissenschaft und die Lebenswelt, die Welt des Wissenschaftlers und die Welt des Bürgers, unsere gemeinsame Welt, wieder zusammen.

Programm 1999 | Seitenanfang