Artikel in der Stuttgarter Zeitung vom 27.06.2003
Es begann mit einer vorsichtigen Anfrage von den Lehrern ihrer Kinder: Ob Eva-Maria Neher eventuell dazu bereit sei, in den Fächern Chemie und Biologie Experimentierkurse anzubieten? Die promovierte Biochemikerin sagte trotz „null pädagogischer Ausbildung" spontan zu. Die Schüler waren begeistert, ihre Veranstaltungen immer voll. Es blieb nicht bei ein paar Stunden pro Woche: Im Jahr 2000 gründete sie in Göttingen das XLAB, ein zur Georg-August Universität Göttingen gehörendes Labor, in dem Schüler anspruchsvolle wissenschaftliche Experimente durchführen können.
Mehr als 8100 Schülerinnen und Schüler haben seit der Gründung die ein- bis mehrtägigen Kurse in Biologie, Chemie, Physik und Mathematik besucht, die zu sehr moderaten Preisen angeboten werden. Eine Idee mit Nebenwirkungen: oft sind die Inhalte der Kurse auch für die Lehrer neu – Schüler und Lehrer lernen plötzlich gemeinsam und mit Begeisterung. Die Entstehungsgeschichte des XLAB ist exemplarisch für eine ganze Reihe von Projekten, die in den vergangenen Jahren überall in Deutschland ins Leben gerufen wurden: Wissenschaftler sind überrascht von dem mangelhaften naturwissenschaftlichen Unterricht der eigenen Kinder, engagierte Lehrer wollen endlich den Unterricht anbieten, den sie selbst für sinnvoll halten.
Leidensdruck erzeugt unkonventionelle Ideen: Carsten Hansen beispielsweise, der an einem Gymnasium in Bad Säckingen unterrichtet und sich selbst einen „Landschullehrer" nennt, „wollte endlich die Versuche anbieten, die im Lehrplan vorgeschrieben sind.“ Die Realität in den Schulen sieht häufig anders aus: Der Lehrplan schreibt ein straffes Pensum vor – und richtige, also ergebnisoffene Experimente kosten nun einmal Zeit. Es fehlt an Ausrüstung und oft auch an der entsprechenden Fortbildung, um aktuelle Versuche überhaupt durchführen zu können.
Carsten Hansen hat gemeinsam mit Kollegen fünf regionale, gut ausgerüstete Schullabors ins Leben gerufen, die jeweils von zwei Biologielehrern geführt werden. Erarbeitet wurde das Konzept gemeinsam mit Wissenschaftlern des Instituts für Biochemie und Molekularbiologie der Universität Freiburg, die die Lehrer bei der Auswahl der Experimente beraten und sie entsprechend ausgebildet haben. Rund 700 Schülerinnen und Schüler und mehr als 100 Lehrer nehmen jährlich an Praktika in den regionalen Labors teil. Zusätzlich werden Vorträge, Besuche in der Universität und Exkursionen zu Firmen zur beruflichen Orientierung angeboten.
Die Liste von unterschiedlichen Projekten, mit denen Schulen, Universitäten und Museen junge Menschen für Naturwissenschaften begeistern wollen, lässt sich beliebig verlängern: Wissenschaftler der Uni Hohenheim untersuchen gemeinsam mit Schülern eines Stuttgarter Gymnasiums das Verhalten von biologischen Systemen unter Weltraumbedingungen, die Universität Bielefeld lässt bereits begabte 16-Jährige zum Studium mit Scheinvergabe zu, und an vielen Hochschulen – so auch in Hohenheim – werden Kinder-Unis ins Leben gerufen. Wie erfolgreich die einzelnen ehrgeizigen Projekte sind, ist noch ungewiss – die Initiativen sind so jung, dass es kaum wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt. Bessere Noten in naturwissenschaftlichen Fächern, mehr Leistungskurse und steigende Studentenzahlen sind jedoch Zeichen dafür, dass die neuen Projekte sinnvoll sind. Viele Themen, aus denen später erfolgreiche Projekte werden, entwickeln sich ganz unspektakulär aus dem Unterricht heraus: Die Frage „Was wollen wir wissen?“ führt in der Schulpraxis oft zu völlig anderen Fragestellungen, als es ein Theoretiker an der Universität oder in einer Schulbehörde annehmen mag.
Doch wer sich auf Experimente einlässt, muss mit Schwierigkeiten rechnen: Die Finanzierung ist problematisch, häufig hängen die innovativen Unterrichtsideen am Tropf von Stiftungen. NaT-Working heißt beispielsweise ein Programm der Robert Bosch Stiftung, das seit Sommer 2000 mit über 3,7 Millionen Euro Kooperationen zwischen Schulen und Universitäten unterstützt. Auch der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft zeichnet seit 1999 im Rahmen seines jährlichen Push-Wettbewerbs Projekte aus, in denen Forscher einen vorbildlichen Dialog mit der Öffentlichkeit führen. Diese Gelder sind jedoch als Starthilfe gedacht, nicht als feste Größe in der Gesamtkalkulation. Fällt die Hilfe durch professionelle Anstifter aus, bedeutet dies oft das Ende der Projekte. Nach anderen Finanzierungsmöglichkeiten muss gesucht werden. Auch die Organisation dieser neuen Formen des Unterrichts ist schwierig. Viele Projekte können nur umgesetzt werden, weil die Initiatoren persönliche Kontakte zu Mitarbeitern von Schulbehörden und Forschern an Universitäten haben.
Feste Ansprechpartner in Organisationsbüros oder einen Koordinationsbeauftragten gibt es nur in Ausnahmefällen. Wer Neues beginnt, wirbelt außerdem eine Menge Staub im fest gefügten System Schule auf – das wird nicht von allen Kollegen gern gesehen. „Wir haben uns gegen erhebliche Vorbehalte durchgesetzt“, sagt etwa Berufsschullehrer Josef Antony. Gemeinsam mit seinen Kollegen Alexander Stracke und Wolfgang Völckner organisiert er die Auricher Wissenschaftstage, die den Dialog zwischen Natur- und Geisteswissenschaften fördern wollen.
Oxford, Heidelberg – Aurich? Nur keine Arroganz, die Auricher Wissenschaftstage sind eine Institution geworden. Im November 2003 werden bereits zum 14. Mal Forscher nach Ostfriesland reisen, dort Vorträge halten und mit Schülern diskutieren. Karten für alle Veranstaltungen sind innerhalb von 48 Stunden ausverkauft. Kein Wunder, dass gerade in den Anfangsjahren mancher Kollege leise mit den Zähnen knirschte. Die Schüler sind jedoch begeistert von den Angeboten – und die, sagt Josef Antony, „sind schließlich unsere Auftraggeber“.
Die Autorin ist Leiterin der Schreibwerkstatt Naturwissenschaften am Stuttgarter Literaturhaus, die von der Robert Bosch Stiftung gefördert wird.
[URI des Original-Artikels: http://www.stuttgarter-zeitung.de/stz/page/detail.php/450653]