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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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25 Jahre Auricher Wissenschaftstage – Blick zurück in die Zukunft
Aurich, 8. Februar 2015
Prof. Dr. Joachim Treusch
Bremen

Sehr verehrte Frau Ministerin, Herr Präsident, Herr Vorsitzender,
hochansehnliche Festversammlung,

„25 Jahre Auricher Wissenschaftstage – Blick zurück in die Zukunft“

Ein etwas merkwürdiger Titel, aber auch eine ungemein bemerkenswerte Geschichte, die schon vor 25 Jahren offen war für die Zukunft, und die es heute nicht weniger ist.

Recht eigentlich begonnen hat sie vor vierzig Jahren, im Sommersemester 1975 in einem Hörsaal der Universität Dortmund.

„Theoretische Physik für Lehramtskandidaten“, so hieß die Vorlesung. Der noch junge Professor vertrat zwei Grundthesen. Erstens: seine Hörer sollten später mal als Lehrer in der Lage sein, mindestens auf dem aktuellen Niveau der Mittwochsausgabe der FAZ auf Schülerfragen zu antworten, und deswegen sei permanentes Weiterlernen für Lehrer unerlässlich. Und zweitens: nur jemand, dem die Physik selbst Spaß mache, könne die Freude an der Physik auch jungen Leuten vermitteln.

Ein Student für das Lehramt Physik nahm diese beiden Forderungen besonders nachhaltig ernst. Sie werden sich nach der Vorrede nicht mehr wundern: es war Josef Antony. Nach seinem erfolgreichen Studium wurde er Lehrer in Aurich an der gymnasialen Stufe der BBS II.

Diese Schule erhielt im Juni 1989 eine Einladung der Niedersächsischen Landeszentrale für Politische Bildung zu einer Arbeitstagung mit dem Thema „Energiefragen in Forschung und Praxis“. Sie war eigentlich an Personalräte adressiert, aber Josef Antony war interessiert und fuhr im Oktober 1989 nach Jülich zur KFA – zwei Wochen nach der berühmten Rede Genschers vom Balkon der deutschen Botschaft in Prag, drei Wochen vor dem Mauerfall. Alle spürten, es lag was in der Luft.

Das tat der Begeisterung der 24 Kolleginnen und Kollegen aus Niedersachsen aber keinen Abbruch, insbesondere Josef Antony fand, dass dieser Austausch zwischen Wissenschaft und Schule eine Fortsetzung brauche. Er ging mit der Fortbildungsleiterin der KFA, Frau Bärbel Holz (heute Baurmann) zum gerade gewählten Vorstandsvorsitzenden, dem ehemaligen Dortmunder Physikprofessor, und fragte, ob Referenten aus der KFA auch nach Aurich kommen könnten, um Schülern und Schülerinnen von ihrer wissenschaftlichen Arbeit zu berichten und mit ihnen zu diskutieren. Die Antwort konnte natürlich nur positiv sein, und dann ging alles sehr schnell:

Dienstbesprechung im BBS II, Gewinnung des Schulleiters Gerd Neumann, Befragung der Schüler zur Themenauswahl, erster Auricher Wissenschaftstag am 23. April 1990. Ich sehe das Programm vor mir: säuberlich handgeschrieben auf einem karierten DIN A4-Bogen:

Drei Themen
„Kernenergie und Entsorgung“ – „Spurengase und Klima/der Treibhauseffekt“ – „Gentechnik“
unter der Gesamtüberschrift „Verantwortung in Wissenschaft und Technik“.

Bei den 2. Auricher Wissenschaftstagen im Mai 1991 waren schon drei Tage thematisch ausgefüllt. Das Programm war mit der Maschine geschrieben, Gäste aus Politik und Kirche waren eingeladen – ich erinnere Wolfgang Ontijd, ehemaliger Bürgermeister und Mitglied des Landtages, und den Superintendenten Volker Jürgens.

Die abschließende Podiumsdiskussion mit dem Thema „Grenzen und Möglichkeiten für eine gemeinsam Zukunft“ ist kurz und knapp protokolliert im Archiv nachzulesen:

„Der Energieverbrauch des Einzelnen als Überlebensfrage, diese Fragestellung wurde engagiert diskutiert. Hier wurde deutlich, dass die Politiker einen anderen Zugang zu den Problemen haben als die Wissenschaftler. Fazit: Eine Zeit des Nachdenkens !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“

Die 32(!) Ausrufezeichen weisen erkennbar auf die heutige Situation, die als „Energiewende“ daherkommt.

Im Jahr 1992 beginnt die Kooperation mit dem Gymnasium Ulricianum Aurich und dessen Leiter Claus Goldbach, und wieder ist es Josef Antony, der die Fäden knüpft. Mit Alexander Stracke vom Ulricianum und Wolfgang Völckner vom BBS II gewinnt er zwei kompetente und begeisterte Mitstreiter. Die Wissenschaftstage gehen aus den Schulen an die Öffentlichkeit, Sparkassendirektor Wolfgang Tombrägel wird für eine großzügige Finanzierung gewonnen, die Veranstaltungen finden nun auch im Rathaussaal und auf Einladung von Landrat Walter Theuerkauf im Sitzungssaal des Landkreises statt, später immer öfter im „Bahnhof“ alias „Güterschuppen“.

Die Zahl der Veranstaltungen und der interessierten Teilnehmer wächst. Die Eintrittskarten sind nach weniger als 48 Stunden regelmäßig vergriffen, die Eröffnung – seit 1996 in der Kundenhalle des Sparkasse – ebenso regelmäßig überfüllt. Die Begrüßungsreden von Sparkassenchef Carlo Grün werden zum alljährlichen Ereignis.

Die Zahl der auswärtigen Redner und Rednerinnen erhöht sich. Die Themenauswahl verbreitert sich. Schüler berichten von ihren Praktika in deutschen und internationalen Forschungseinrichtungen, an denen sie als Stipendiaten der Auricher Wissenschaftstage teilnehmen durften.

Im Forschungszentrum Jülich und im Hahn-Meitner-Institut in Berlin fing es an, inzwischen reicht das Angebot von der Antarktis über den Regenwald in Trinidad bis zum Nordatlantik, vom Kunsthistorischen Institut in Florenz über Grabungen aus der Bronzezeit in der Slowakei bis zu Expeditionen in Sibirien. Kein namhaftes Institut der Helmholtz Gemeinschaft oder der Max-Planck-Gesellschaft, das nicht Auricher Schüler in seinen Gästelisten hätte. Wo gibt es Vergleichbares in Deutschland? Ein besonderer Gruß an alle heute anwesenden Stipendiaten und Gastgeber.

Politik und Wirtschaft entwickeln zunehmend begeistertes Interesse für das, was sich seit 1996 „Auricher Wissenschaftstage – Forum einer Dritten Kultur“ nennt.

Dass dieser anspruchsvolle Titel gerechtfertigt ist, zeigt ein erneuter Blick ins Archiv:
Programm 1995, 6. Auricher Wissenschaftsstage – eine Auswahl von Vorträgen:

Wie ungeheuer weitblickend ist das aus heutiger Sicht!

Und schließlich der erste Nobelpreisträger in Aurich: Georg Bednorz berichtet über die von ihm und Alex Müller entdeckte Hochtemperatur-Supraleitung und begründet damit eine einzigartige Tradition, die es für deutsche Nobelpreisträger fast zur Verpflichtung macht, einmal in ihrem Leben nach Aurich zu kommen. 13 waren es inzwischen! Der vierzehnte, Günter Grass, war nicht in Aurich, sondern wurde von Auricher Schülern in seinem Haus in Behlendorf bei Lübeck interviewt.

Auch diese Juwelensammlung von Interviews in der Schatzkammer der Web-Page der Auricher Wissenschaftstage lohnt es zu lesen. Sie ist eine wahre Fundgrube der Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der letzten 25 Jahre.

Einer der ersten Interviewpartner – nach Hans Tietmeyer, dem Präsidenten der Deutschen Bundesbank im Jahr 1996, und Jutta Limbach, der Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 1997 – war 1998 Helmut Schmidt. Er gab den Auricher Schülerinnen und Schülern, die ihn interviewten, neben anderem mit auf den Weg: „Der Lehrplan ist nicht so wichtig wie der Lehrer oder die Lehrerin.“ und „Meine Empfehlung: lernen … und selbständig arbeiten.
Ich nehme fast an, dass dies für die Auricher nichts völlig Fremdes war.

Aber lesen Sie auch die Interviews mit Inge und Walter Jens („In Alternativen denken, darauf kommt es an.“), mit Richard von Weizsäcker („Ich finde es gut, wenn man auf der Schule Dinge lernt, die man mit Sicherheit nicht mehr lernt, wenn man nicht mehr auf der Schule ist.“), mit Dieter Hildebrandt („Den Don Quichote und den Simplicissimus sollte man schon gelesen haben.“), mit Carl Friedrich von Weizsäcker („Ich habe die Hoffnung, dass die Menschen die Institution des Krieges überwinden werden.“), und schließlich mit Hans Küng („Als gläubiger Mensch darf man keine Berührungsängste haben mit den Naturwissenschaften. Man muss sehen, was sie können und was sie nicht können.“)

Ich hoffe, ich habe Ihnen Appetit gemacht auf das Interview-Archiv. Aber Sie können natürlich auch ins Gästebuch schauen:

Peter Grünberg schreibt dort 2009: „Hier in Aurich gibt es gute Voraussetzungen für geistige Arbeit: wenig Ablenkung und eine kreative Ruhe. Liebe Schüler und Studenten, das solltet Ihr nutzen. Euer Peter Grünberg.“

Siegfried Lenz fasst sich 2004 kürzer: „Es war schön in Aurich.“

Noch ein Jahr früher reimt Reinhard Selten, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften 1994:

„Es ist keine Frage,
die Wissenschaftstage
in Aurich sind Spitze
so wahr ich hier sitze
und dies hier schreibe
und damit verbleibe
Reinhard Selten 7.11.2003

Hans Magnus Enzensberger hat Ende 2001 (der EURO war noch nicht im Umlauf) zur Eröffnung der 13. Auricher Wissenschaftstage 2002 ein ganzes Gedicht verfasst, dass die heutige Finanzsituation Europas geradezu seherisch vorausnimmt:

Creditur

Schon das schiere Nichts / hat es in sich. / Bauchschmerzen für Metaphysiker. /
Die Null zu erfinden / war kein Zuckerschlecken.

Als dann auch noch / irgendein Inder / auf die Idee kam, etwas /
könne weniger sein als nichts, / streikten die Griechen.

Auch den Gottesgelehrten / war nicht wohl dabei. / Blendwerk, hieß es, /
eine Versuchung des Teufels.

Das sollen natürliche Zahlen sein, / riefen die Zweifler, /
minus eins, minus eine Milliarde?

Nur wer Geld hatte, / und das waren die wenigsten, / der hatte keine Angst:

Schulden, Abschreibungen, / doppelte Buchhaltung. /
Die Welt wurde abgezinst. / Die Arithmetik – ein Füllhorn.

Wir haben alle Kredit, / sagten die Banker. / Eine Sache des Glaubens.
Seitdem wird immer größer / was weniger ist als nichts.

Aber noch einmal zurück zum Programm, dem eigentlichen Herzstück der Auricher Wissenschaftstage, und hier nur drei letzte Hinweise auf Programmzusammenstellungen, die prototypisch sind für das, was in Aurich gewollt wird.

1997: Thomas Reiter erzählt über Experimente in der Raumstation MIR, Alfred Grosser beleuchtet Deutschlands Rolle in Europa, Hans-Joachim Gauck spricht über die Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, und Christiane Nüsslein-Vollhard, Nobelpreisträgerin 1995 beschreibt Wie Gene die Entwicklung steuern. Welch weiter Bogen!

1999: Klaus von Klitzing, Nobelpreisträger 1985, erzählt über den nach ihm benannten Klitzing-Effekt. Jürgen Mittelstrass als Philosoph und ich als Physiker versuchen im Gespräch zu vermitteln, was Das Wesen von Wissenschaft ist. Walter Oelert aus Jülich berichtet über die von ihm am CERN erstmals hergestellte Antimaterie und lädt anschließend die ersten Praktikanten zum CERN ein.

2009: Peter Grünberg, Nobelpreisträger 2007, berichtet über Magnetismus in Nanostrukturen (und ausgerechnet ihm, dessen Entdeckung das Lesen der Festplatten revolutionierte, stürzt während seines Vortrags die Festplatte unrettbar ab). Paul Crutzen, Nobelpreisträger 1995, redet über Atmosphärenchemie und Klima im „Anthropozaen“, und Franz Ossing vom Geoforschungszentrum Potsdam über Wolken, Klima und Geologie in der Malerei.

Wenn man diese Breite sieht, die weit über jede fachliche Engführung hinausgeht, dann ist man geneigt, die Beschreibung der Auricher Wissenschaftsgespräche als „Forum einer Dritten Kultur“ für treffend zu halten. Man ist geneigt, der ZEIT zuzustimmen, die in einem sehr lesenswerten Artikel schon 2002 titelt „Ostfriesische Erfolgsmischung“, und sich der Bundeskanzlerin, Angela Merkel anzuschließen, die 2010 in ihrem Grußwort formuliert:

„Das Konzept der Auricher Wissenschaftstage ist ebenso einfach wie überzeugend: Wissenschaftler verlassen ihre Labore und gehen in Schulen, um im Gespräch mit Schülerinnen und Schülern ihre Arbeit vorzustellen, aus der Praxis zu berichten und sich kritischen Fragen zu stellen. Die Mischung aus langjähriger Erfahrung einerseits und jugendlicher Neugier andererseits ist bis heute ein wesentlicher Grund für die große Anziehungskraft der Auricher Wissenschaftstage.“

Oder wie John Dylan Haynes vom Bernstein Center for Computational Neuroscience Berlin ein wenig salopper 2011 ins Gästebuch schreibt:

„Ich bin schwer beeindruckt
vom breiten Interesse der Auricher für die Wissenschaft
vom Einsatz für Wissenschaft in der Schule
von den vielen interesanten Diskussionen
von einem beeindruckenden Zukunftsmodell für eine kreative, grüne Industrieregion
von der tollen warmherzigen Gastfreundschaft.
Wenn wir in Berlin so viele Leute für Wissenschaft begeistern könnten, dann könnten wir ein Fußballstadion füllen.“

Dem kann ich mich nur mit einem herzlichen Glückwunsch für eine 25-jährige Erfolgsgeschichte anschließen,

allen, die dazu beigetragen haben, von Herzen danken, auch den zahlreichen Sponsoren, allen voran der Sparkasse Aurich-Norden, sowie den Ostfriesischen Nachrichten und der Ostfriesen-Zeitung, die immer wieder kundig und ausführlich berichten,

und schließlich dem Team Josef Antony, Claudia Groen und Wolfgang Völckner alles Gute wünschen auf dem weiteren Weg mit dem Blick in die Zukunft.

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