Artikel der Ostfriesischen Nachrichten vom 2. Mai 2017, S. 3 [1]
Von Karin Böhmer
Der Zellforscher Prof. Bert Sakmann erklärte, wann eine Maus den Absprung macht. (Foto: Böhmer)
Aurich. Es ist ein allererster Schritt auf einem langen Weg in die Strukturen des Denkens – aber immerhin geht er in die richtige Richtung. Der Mediziner und Zellforscher Bert Sakmann will wissen, wo und wie im Gehirn eine Entscheidung getroffen wird. Seine Methode und die Ergebnisse erläuterte der Nobelpreisträger am Freitag bei den Auricher Wissenschaftstagen.
Sakmann hat eine Methode entwickelt, mit der er anhand von Mäusen nachweisen konnte, dass bestimmte Zellen bestimmte Aktionspotenziale erzeugen, wenn ein Sinnesreiz im Mäusehirn verarbeitet wird. Neben dem Schaltplan der elektrischen Impulse konnte Sakmann auch den Aufbau des aktiven Hirnareals am Computer nachbilden. Bis eine komplexe Entscheidung nachvollzogen werden kann, dürfte es jedoch noch Jahre dauern. Zehn Jahre brauchte Sakmanns Forschungsgruppe am Max-Planck-Institut für Neurobiologie in Martinsried, um zu ergründen, welche Aktivität in einem Mäusehirn entsteht, wenn ein Tasthaar auf der Suche nach einem Widerstand gekrümmt wird. „Wir waren überrascht, dass so viele Zellkolumnen involviert sind“, so Sakmann.
Das zugrundeliegende Experiment geht so: Einer Maus wird jenseits eines wenige Zentimeter breiten Grabens süße Milch hingestellt. In der Dunkelheit kann sie sich nur anhand ihrer Tasthaare über die Breite der Lücke informieren und entscheidet entsprechend, ob sie einen Sprung wagt oder nicht. Sakmann konnte die Maus so weit manipulieren, dass sie nur von einem ihrer Tasthaare Informationen verwerten konnte.
Sakmann hat zusammen mit Erwin Neher 1991 den Nobelpreis für Physiologie bekommen, weil er nachweisen konnte, dass elektrische Impulse mittels sogenannter Ionenkanäle in den Zellmembranen der Hirnzellen weitergeleitet werden. Die Forscher wiesen die winzigen elektrischen Impulse an einzelnen Ionenkanälen nach. Außerdem konnten sie durch die Überlagerung der Messungen mehrerer Ionentransporte belegen, dass viele gleichzeitige Öffnungen einzelner Kanäle sich zu einem sogenannten Aktionspotenzial ergänzen. Je nachdem, wie viele davon wie schnell aufeinanderfolgen, ergibt sich ein Aktionspotenzialmuster, das die Botschaft an die Zelle enthält.
Sakmann ermittelte, welche Zellen den Sinnesreiz des Maustasthaares verarbeiten. Es handelt sich um sogenannte Zell-Kolumnen, in denen sich Pyramidenzellen überlagern. Pyramidenzellen sind sehr große Nervenzellen, deren Auswüchse in die Auswüchse anderer Zellen ragen und Impulse austauschen – in bildgebenden Verfahren sehen die ineinander verstrickten Zellschichten aus wie ein Myzel. Durch das Verbiegen des Tasthaares werden bei der Maus sogenannte L5tt-Zellen aktiviert. Bei einem speziellen Aktionspotenzialmuster dort wagt die Maus den Sprung. Bleibt dieses Muster aus, geht sie das Risiko nicht ein.
Der Stromfluss an den Ionen-Kanälen wird bei der springenden Maus durch Sonden im Gehirn gemessen. Im Anschluss an die Experimente werden die aktiven Hirnareale der dann getöteten Maus extrahiert und am Computer nachgebaut. „Unsere Leistung bestand darin, gleichzeitig den Schaltplan der Zellen und die Pulsmuster abzubilden“, so Sakmann. Anderen Forschern gelang nur eins von beidem.
Doch auch Sakmann steht noch am Anfang. Jetzt versuchen seine Kollegen, die Regionen zu lokalisieren und nachzubilden, die die Tastinformation in eine Bewegung umsetzen. Zudem werden nun Versuche mit trainierten Mäusen gemacht, bei deren sich ihre Sprung-Erfahrung bereits in aktiveren Nervenverbindungen niedergeschlagen hat.
Auch wenn diese Rätsel entschlüsselt sind: Komplexes menschliches Denken ist damit noch lange nicht erklärt. Aber immerhin ist es in seiner Grundstruktur beschrieben.
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