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Auricher Wissenschaftstage –
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Artikel der Ostfriesischen Nachrichten vom 15. Februar 2014, S. 3 [1]

Arbeit grauer Zellen ist noch kein Denken

Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl eröffnete Auricher Wissenschaftstage

Foto von Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl bei der Eröffnungsveranstaltung der 24. Auricher Wissenschaftstage 2014, 16 k

Prof. Dr. Wilhelm Vos­senkuhl sprach über die Kom­plexi­tät des Denkens. (Foto: kab)

kab Aurich. Meist scheinen die Gräben tief, wenn sich Naturwissenschaftler und Geisteswissenschaftler über das menschliche Gehirn und seine Leistungen unterhalten. Unterscheidet sich das Bewusstsein wesensmäßig von den neuronalen Prozessen, die im Hirn ablaufen? Ist Denken überhaupt mehr als ein Stoffwechselprozess in den grauen Zellen? Hat der Mensch einen freien Willen?

Dass im wissenschaftlichen Gefechtslärm auch eine Annäherung möglich ist, zeigte am Donnerstagabend im Foyer der Sparkasse Aurich der Philosoph Prof. Dr. Wilhelm Vossenkuhl. Der Emeritus der Ludwig-Maximilians-Universität München eröffnete mit dem Vortrag „Denken und Gehirn“ die 24. Auricher Wissenschaftstage. Seinen Beitrag widmete er dem Auricher Rechtsgelehrten und Philosophen Wilhelm Schapp.

Neurobiologische Forschung ist in jüngster Vergangenheit in den Fokus gerückt, nicht zuletzt weil sie so anschaulich erscheint. In einer auch in Mikrostrukturen immer weiter entzauberten Welt scheint zwangsläufig das Geistwesen Mensch zum Gehirnwesen zu schrumpfen.

Launig, anschaulich und anspruchsvoll umriss Vossenkuhl Unterschiede und Gemeinsamkeiten von Neurobiologie und Neurophilosophie. Ihm sei es eine Ehre, sich unter die illustre Schar der Referenten bei den Auricher Wissenschaftstagen zu mischen, sagte er zu Beginn. Dass er anders als viele Vorredner keinen Nobelpreis habe, könne er nur mit dem Fehlen dieses Preises für Philosophie entschuldigen, bemerkte er lächelnd. Mancher der rund 400 Zuhörer mag an den Auricher Philosophen und Nobelpreisträger Rudolf Eucken gedacht haben, dann ging es jedoch in medias res. Auf Bilder verzichtete der Münchener. Sie seien zu verführerisch, scherzte er in Anspielung auf die bildgebenden Verfahren der Neurobiologie, die von der Forschungsfinanzierung oft bevorzugt werden, weil sie eine Aussagekraft suggerieren, die Vossenkuhl anzweifelt.

Der Philosoph sagte, dass es bei der Untersuchung des Denkens essenzielle Übereinstimmungen zwischen Neurowissenschaft und Philosophie gebe. Die neurologischen Erkenntnisse hätten das Verständnis des Zusammenhangs von Hirn und Denken sehr vertieft. Das Problem: Denken lasse sich nicht vergegenständlichen, so Vossenkuhl, denn anders als beim Blick auf die Natur könne kein Wissenschaftler das Denken von außen betrachten. Er sei als Denkender immer im Forschungsprozess mitenthalten.

Untersuche er hingegen das Gehirn, könne der Forscher aus der Untersuchung hinaustreten. Magnetresonanztomografie und andere Technik zeige den Stoffwechsel im Gehirn – Gedanken seien auf einer solchen Aufnahme jedoch nicht zu erkennen. Wenn die Forschung das „Wie“ (Stoffwechsel) verstehe, gerate das „Was“ – der Gedanke – aus dem Blick.

Die Neurobiologie habe im Bereich Wahrnehmung „einiges zutage gefördert“, sagte der Referent. Es habe sich beispielsweise gezeigt, dass das Sehen im Gehirn nur zweidimensional rekonstruiert wird, obwohl die Bilder ohne Bewusstheit in dreidimensionale Bilder verwandelt werden. Das könne zu optischen Täuschungen führen. In den schwarz-weißen Bodenfliesen einiger florentiner Kirchen entdecke das Gehirn automatisch dreidimensionale Bilder, obwohl der Boden flach sei, so Vossenkuhl. Das liege an Wahrnehmungsverarbeitungen im Gehirn, gegen die man sich nicht wehren könne. Die Evolution habe zahlreiche solcher Zwänge im Hirn verankert, die bis heute wirkten. Aber die Erfahrung zeige, dass der Mensch diese Zwänge denkend überwinden könne, so der Münchener.

Gegen die Identitätstheorie der Neurobiologie, die Hirnaktivität mit Denken gleichsetzt, verwehrte Vossenkuhl sich. Die Verabsolutierung dieser Richtungen lehnt er als „metaphysischen Anspruch“ ab. „Das Gehirn entscheidet nicht. Es ist die Person, die das tut.“ Denken sei durch die Erforschung von Wahrnehmung allein nicht erklärt. Bis Vossenkuhl an die Erklärungskraft des Blicks auf die aktiven Hirnarreale glaubt, muss die Neurowissenschaft noch nachlegen.

Er belegte die Erklärungskraft der Philosophie des Denkens mit dem Beispiel der wahren Aussage. „Die Wahrheit ist nicht im Kopf. Wahr-Sein ist die Eigenschaft eines Gedankens, nicht die Eigenschaft eines Bewusstseins“, so der Referent. Denken findet also auch zwischen Personen statt, nicht nur im individuellen Hirn.

Kein Denkorgan gleiche dem anderen, keine Lebensgeschichte einer anderen. Es gebe sowohl eine personale wie eine neuronale Individualität. Denken sei daher mit einfachen Mitteln nicht zu erklären, schloss Vossenkuhl. Er wirkte zufrieden. Das Publikum auch.

Ebenfalls zufrieden waren zwei Stipendiaten vom Ulricianum mit ihrem Aufenthalt auf Trinidad im Frühjahr 2013. Sie hatten zu Beginn von ihren Forschungen mit vier internationalen Wissenschaftlern über das Verhalten von Guppys berichtet. Durch die Analyse des Sozialverhaltens der Fische soll die Entstehung von Arten nachvollziehbar werden.

Anmerkung

[1]

Eine E-Paper-Version des Artikels ist ebenfalls verfügbar.

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