Artikel der Ostfriesischen Nachrichten vom 14. März 2013, S. 6 [1]
aik Aurich. Aurich im Jahr 2013 ist eine Stadt des allgegenwärtigen Wirtschaftswachstums: Die Kathedralen der unverhofften späten Industrialisierung sprießen zwischen den Wallhecken nur so aus dem Boden, ebenso die schmucken Eigenheime in den Neubaugebieten mitsamt neuer Straßen.
Und dann kommt, im Rahmen der 23. Auricher Wissenschaftstage, dieser Prof. Dr. Nico Paech aus Oldenburg und spricht ernsthaft von Deindustrialisierung und Verzicht. Er sagt Sätze wie „Dieses System ist nicht zukunftsfähig“ oder „Wir werden eine Talfahrt erleben“. Sein Konzept einer „Postwachstumsökonomie“ ist eine Provokation – und am Dienstagabend harter Tobak für die sicher 250 Zuhörer in der Aula der Berufsbildenden Schulen II.
Paech, der an der Uni Oldenburg lehrt und in zahlreichen Vereinen und Institutionen aktiv ist, sagt: Wir müssen die Industrie um die Hälfte einstampfen. Wenn wir weniger konsumieren, brauchen wir auch weniger Produkte. Die Erwerbsarbeit sollte 20 Stunden pro Woche nicht überschreiten. Die restlichen 20 Stunden der ursprünglichen 40-Stunden-Woche könnten dann für handwerkliche Arbeiten und für die Vermehrung von sozialen Kontakten (zum Beispiel für Tauschgeschäfte) genutzt werden.
Paech, von Haus aus Volkswirt, ist ein Typ, der in großen Linien denkt, er will den gesamten Kapitalismus, wie er heute existiert, umkrempeln, herunterfahren.
Zu Beginn seines Vortrags erklärt Paech die Grundlagen der heutigen Wirtschaft. Kern sei die industrielle Arbeitsteilung und Spezialisierung. Damit könne man die Produktionskosten „brutalst minimieren“ (indem man sie in Billiglohnländer auslagert) und die Kaufkraft unseres Einkommens gleichzeitig steigern. Nichts von den Dingen in der BBS-II-Aula sei ausschließlich in Aurich produziert worden, versuchte Paech ein Beispiel zu geben.
Für das Funktionieren der heutigen Wirtschaft müsse ständig neues Kapital aquiriert werden, müssten zudem ständig Überschüsse erwirtschaftet werden, um Zinsen zu bezahlen oder Renditen zu garantieren. Das sei der „angebotsseitige“ Wachstumstreiber.
Dazu komme ein „kultureller“ Wachstumstreiber. Die Standards, was man besitzen müsse, um akzeptiert zu werden, würden immer höher. Heute laufe beispielsweise jedes Kind mit einem Smartphone herum.
Basis für das heutige Wirtschaftssystem sei letztlich auch eine „Plünderung des Planeten“: Dabei würden die Rohstoffe größtenteils auf eine lange Reise quer über die Erde geschickt. Derzeit würden bereits Rohstoffe wie Phosphor, Kupfer oder Coltan knapp. Um Coltan, das in Handys verwendet wird, gebe es im Hauptabbauland Kongo bereits Kriege. Die Menschheit sei heute abhängig geworden von den sogenannten „seltenen Erden“, so Paech.
Und auch Land werde zu einer immer knapperen Ressource. Beispielsweise könne Niedersachsen heute seinen eigenen Getreidebedarf nicht mehr decken, weil es keine Anbauflächen mehr gebe. Schuld daran seien die vielen subventionierten Energiemaisflächen, die auch noch ökologisch tot seien, kritisierte Paech.
Der ganze heutige Wohlstand beruhe letztlich darauf, „dass wir brutal über unseren Verhältnissen leben“, ist Paech überzeugt. Unser ganzes Wirtschaftsmodell stehe vor dem Kollaps und sei nicht zukunftsfähig.
Die Kosten der Konsumgegenstände und Leistungen seien im Übrigen nicht die „wahren Kosten“. Letztlich sei alles mehr oder weniger staatlich subventioniert.
Und indem sich die Menschen immer mehr verschuldeten, wälzten sie die Last der Finanzierung auf die Zukunft ab. Glücklicher würden die Menschen trotz ihres gesteigerten Wohlstands aber nicht, so Paech. Eher im Gegenteil: In den vergangenen zehn Jahren habe sich die Zahl der Antidepressiva-Verschreibungen verdoppelt.
Die Behauptung, unser Wohlstand sei in erster Line Ergebnis unserer eigenen menschlichen Anstrengung, sei im Übrigen falsch. Mechanisierung und Digitalisierung seien dagegen die Hauptfaktoren.
Paech ist davon überzeugt, dass sich die Probleme nicht innerhalb des heutigen Wirtschaftsmodells beheben lassen. „Versuche, über Effizienz unser Konsummodell ökologisch zu neutralisieren, sind alle gescheitert.“
Was also sind seine Alternativen?
Als Beispiel nennt Paech ganz neue Unternehmen, zum Beispiel regionale Genossenschaften (er selbst ist Aufsichtsratsvorsitzender der Olegeno Oldenburger Energie-Genossenschaft, die dort das Stromnetz übernehmen will). Auch neues Geld brauche die neue Wirtschaftsordnung, nämlich Regionalwährungen neben dem Euro („Regios“). Daneben brauche es kürzere Wertschöpfungsketten und auch mehr Selbstversorgung.
Paech plädiert für mehr Bescheidenheit und Genügsamkeit, für die Entschleunigung und Entrümpelung unseres Lebens, für den Abwurf von unnötigem Ballast, für Rückbau („Suffizienz“) und Umbau („Subsistenz“).
Er fordert eine Deindustrialisierung, weniger Automatisierung, mehr Handwerk. Die „industrielle Nachverdichtung“ der Landschaft durch Windkraftwerke und Solaranlagen kritisiert er. Er sei zwar Fan der erneuerbaren Energien, „aber in einer bescheidenen Wirtschaft“.
Die Stipendiaten Arne Lindner und Jonas Peters
Die ganze „Energiewende“ sei letztlich wirkungslos, nur eine „glitzernde Fassade mit einer schmutzigen Realität“, wenn sie nicht global stattfinde. Denn die Energie beispielsweise für die Kleidung, die wir in Ostfriesland tragen, werde eben nicht hier erzeugt, sondern irgendwo in Asien.
Der wirksamste Klimaschutz sei letztlich eine Reduzierung der eigenen Ansprüche. Die Menschen müssten in Zukunft eine Lässigkeit entwickeln, sich auf wenige(r) Konsumgegenstände zu konzentrieren. Sie müssten zum Beispiel weniger reisen, weniger Fleisch essen, dafür mehr regionale und saisonale Produkte. Autos oder Bohrmaschinen könne man gemeinsam nutzen (z. B. „Carpooling“). Die Menschen sollten außerdem die Gegenstände länger nutzen, öfter reparieren statt wegwerfen. Dadurch könne man „die Industrie reinlegen“, meint Paech.
Vor der „Talfahrt“ und dem „Kollaps“ gelte es jetzt, neue Verhaltensweisen einzuüben, so Paech. Er wolle gar nicht die Massen überzeugen, sondern eine „Avantgarde“ aus Vorreitern. Ob die auch in der BBS-II-Aula zu finden waren, blieb offen: Mehrere Zuhörer fanden die Ideen von Paech sympathisch, bezweifelten aber die Umsetzbarkeit.
Vor Paechs Vortrag berichteten Arne Lindner und Jonas Peters von ihrem Praktikum im Helmholtz-Zentrum Berlin für Materialien und Energie im vergangenen Herbst. Dort lernten sie unter anderem die Forschung an neuartigen „Solarzellen aus Rost“ kennen.
Ein Scan des Artikels ist ebenfalls verfügbar.