Artikel der Ostfriesischen Nachrichten vom 27. Februar 2013, S. 8 [1]
Die Schönheit der Zahlen wurde besonders deutlich in der Leidenschaftlichkeit seines Denkens. Don Zagier ließ keine Zweifler zurück: Mathematik ist was Schönes.
kab Aurich. Die neue Miss Germany sei Mathematikstudentin. Das war eine der ersten Aussagen, die Don Zagier am Montagabend bei seinem Vortrag im Rahmen der Auricher Wissenschaftstage machte. Das beweist zweierlei. Erstens: Der Mathematik-Professor und Direktor des Max-Planck-Instituts für Mathematik in Bonn interessiert sich für das, was in der Welt geschieht. Und zweitens: Er hat einen Sinn für Schönheit.
Um „Die Schönheit der Zahlen“ drehte sich auch sein Vortrag. Obwohl viele ehemalige Mathematikschüler Zahlen und Schönheit nicht in einem Satz denken können, waren über 100 Interessierte in die Aula der Berufsbildenden Schulen gekommen. „Alles, was man mit Liebe betrachtet, ist schön“, sagte einst Christian Morgenstern. Und so bekamen selbst die, die Zahlen selbst für nicht so schön halten, einen Eindruck von ihrer Schönheit. Denn die Liebe Zagiers für sein Thema strahlte weit.
Zum Aufwärmen blieb er auf der visuellen Ebene und zeigte Bilder von Fraktalen und den Platonischen Polyedern. „Bestechend schön“ seien Fraktale, sagte Zagier, denn dahinter liege die „tiefe Mathematik der dynamischen Systeme“. – „Und sie sind in der Natur von allein entstanden.“
Es ging um weit mehr als den Goldenen Schnitt, die Schönheit der Ziffer 8 oder die Lieblingszahl, die fast jeder hat. Zagier befasst sich in seiner Arbeit mit Zahlentheorie, Primfaktorzerlegung, diophantischen Gleichungen („mein Lieblingsgebiet“), Modulfunktionen und vielem mehr. Mit 16 machte er sein Diplom in Mathematik, mit 19 seinen Doktor, habilitiert hat er sich mit 23.
Kein Zweifel – Don Zagier hat einen anderen Zugang zu seinem Thema als Otto Normalrechner. Was er in einer knappen Stunde per Beamer zeigte oder mit flinker Hand an die Tafel schrieb, verstand wohl lange nicht jeder im Saal. Was aber ankam: Hinter der Beweisführung der höheren Mathematik, hinter der Gültigkeit und Zeitlosigkeit ihrer Formeln liegt tatsächlich Schönheit. Zagier redete und schrieb sich in einen Rausch. Und nahm das Publikum mit. Sein Understatement trug ihm sofort Sympathien ein. Als Junge habe er versucht, den Satz von Georg Pick zu beweisen, wonach die Fläche jedes Polygons (Vielecks) auf Karopapier nach der Formel Zahl der Inneren Punkte + Anzahl der Randpunkte : 2 - 1 berechnet werden kann. Für das Auricher Publikum zeichnete er eine mehreckige Fläche an. Er habe mehrere Wochen gegrübelt, aber: „Es hat viel Spaß gemacht, das mit zehn Jahren zu beweisen.“ Gelächter. Respekt.
Weiter ging es mit der Leibniz-Reihe, in der Brüche, deren Nenner immer um 2 steigt, abwechselnd von 1 subtrahiert und addiert werden: 1 - 1/3 + 1/5 - 1/7 + 1/9 - … = Pi/4. Hier liegt die Wurzel der Infinitesimalrechnung. „Das ist doch eigentlich total überraschend. Was hat Pi auf den ersten Blick damit zu tun?“, fragte der Wissenschaftler (natürlich rhetorisch) und strahlte. – Ähhh …?
Weiter ging es mit Leonhard Euler, der Zahl e und Kettenbrüchen, schließlich mit dem letzten Satz von Pierre de Fermat. Die großen Fragen hinter den Rechnungen erschlossen sich nicht jedem sofort. Und schon gar nicht in dem Tempo und im raschen Takt des Tafelabwischens. Aber die Leidenschaft, mit der Zagier erklärte, fragte und schrieb, die Art, wie er zeigte, was er zeigen wollte, die Tatsache, dass es am Ende passte – das alles riss die Zuhörer mit, sodass bald neben der gerunzelten Stirn ein breites Grinsen auf die Gesichter trat.
„Wenn man etwas in der Mathematik verstanden hat, dann hat man es ganz verstanden. Es ist nicht zu verändern. Es ist nur mit dem Kopf und nicht mit dem Computer zu verstehen. Das ist das richtig Aufregende daran“, schwärmte Zagier, und weiter: „Niemand kam vom Himmel und hat Fermat die Zahlen gesagt. Nur durch tiefes Nachdenken über Jahrzehnte kommt man darauf.“
Die Schönheit liege nicht in den Zahlen selbst, sondern in ihrem intellektuellen Inhalt. Und im Umgang mit ihnen an sich, denn der Mathematiker erschließt mit seinem Denken Welten. Oder, mit Zagier: „Man kann mit den Händen keinen Elefanten erwürgen, aber ohne Geräte in die Geheimnisse der Natur schauen.“
Nach einer knappen Stunde war Zagier soweit durch. „Soll ich allmählich Schluss machen?“, fragte er mit Blick auf die Organisatoren. „Nein!“, entfuhr es dem Publikum. Das war gut, denn das Beste kam noch. Zagier schrieb seine drei Kriterien für Schönheit in der Mathematik an die Tafel. 1) Schönheit = Wahrheit, 2) Schönheit = Tiefe, 3) Schönheit = Überraschung. Die Tiefe sei wichtig für ihn, sagte der Mathematiker. „Wenn man etwas Einfaches findet, ist man nach einer halben Stunde wieder hungrig. Aber wenn man Euler versteht, ist das richtig befriedigend.“ Wer wollte dem widersprechen?
Lara Pape verbrachte sechs Wochen bei einer archäologischen Grabung in der Nähe Roms. (Fotos: Baumann)
Und ein Beweis fehlte noch, denn: „Kein guter Mathevortrag ohne Beweis!“ Also noch „eine Minute“ für die Summen der 3. Potenzen. Zagier fing an, Kästchen an die Tafel zu malen. Vier Kästchen für die 1, acht Kästchen für die 2, zwölf Kästchen für die 3 – also immer x mal 4 – die Tafel füllte sich in einem Affenzahn. Die Formel dazu: [2 (1 + 2 + 3 + 4 …)]2. Das Faszinosum geschah: Das Publikum verstand, zumindest die meisten. „Ein wunderbarer Beweis“, sagte Zagier, „wenn ich nicht so viel geredet hätte, hätten Sie es auch ohne Worte verstanden.“
Schwer zu sagen, ob das stimmt. Was allerdings jeder im Saal verstand, war Folgendes: Wenn man so ein leidenschaftlicher Denker ist wie Zagier, kann man alles begreifen. Und man kann jeden für sein Fach begeistern, selbst als Mathematiker. Pädagogische Hinweise gab er nicht. Das hatte sich gewissermaßen auch erübrigt. Allerdings hatte er in einem Aufsatz zur Schönheit der Zahlen einmal zu bedenken gegeben, dass der Mathematikunterricht zu sehr in der Ebene der Gebrauchsmathematik verlaufe. Schöne Mathematik komme dort selten vor. Um sie zu begreifen, müsse man ihr aber mal begegnen. Musik könne man auch nicht verstehen, ohne jemals einen Ton gehört zu haben. So gingen am Montag die Zuschauer mit einem klopfenden Herzen nach Hause. Und die Mathelehrer mit Mut zur Schönheit.
Um die schöne Kunst der Archäologie hatte sich die Ulricianerin Lara Pape in einem sechswöchigen Praktikum in Albano Laziale bei Rom gekümmert. Sie berichtete zu Beginn des Abends über ihre Erfahrungen beim Deutschen Archäologischen Institut.
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