Foto: Palenzatis
Sind Vorwürfe berechtigt, das Bundesverfassungsgericht setze sich an die Stelle des Gesetzgebers?
Dieser Eindruck mag sich bisweilen aufdrängen. In diesem Zusammenhang werden gern die Reform des Abtreibungsstrafrechts und die Entscheidungen zur Vermögens- und Erbschaftssteuer genannt. Im ersten Fall könnte man von einer Fortsetzung der politischen Auseinandersetzung mit juristischen Mitteln sprechen, hat doch eine im Parlament unterlegene Minderheit anschließend das Bundesverfassungsgericht angerufen. Die Entscheidung zur Vermögens- und Erbschaftssteuer wäre nicht erforderlich gewesen, wenn die Politik aus der Tatsache, daß hier eine Verfassungswidrigkeit der Bemessungsgrundlagen zu beklagen ist, die Konsequenzen gezogen und die Gesetze korrigiert hätte.
Aber angesichts der wenigen Beispiele kann man nicht von einem Trend sprechen. Es ist das harte Los der Politik, daß jedes Versagen mit dem Vergrößerungsglas wahrgenommen wird. Dagegen gilt es nüchtern festzustellen, daß die Gegenläufigkeit von Kontrolle und politischer Entscheidung zur Gewaltenteilung gehört.
Welche Gründe führen zu den langen Verfahrenszeiten des Bundesverfassungsgerichtes?
Die Unzufriedenheit über zu lange Verfahrenszeiten ist sicher berechtigt. Abhilfe zu schaffen ist aber schwierig, da die Langwierigkeit durch die Überlastung des Gerichts verursacht wird. Wir verzeichnen seit geraumer Zeit mehr als 5.000 Neueingänge jährlich. In jedem der beiden Senate gibt es jeweils drei Kammern, die aus drei Richtern zusammengesetzt sind und darüber entscheiden, ob eine Verfassungsbeschwerde überhaupt zur Entscheidung in der Sache angenommen wird.
Eine Kommission des Bundesjustizministers hat Vorschläge zur Entlastung des Gerichtes erarbeitet. Sie hat nach einem Verfahren gesucht, angesichts der Vielzahl der Verfassungsbeschwerden die Spreu vom Weizen zu trennen. Denn eine Mehrzahl dieser Beschwerden wirft keine verfassungsrechtlichen Fragen auf. Vielfach glauben die Bürger, das Bundesverfassungsgericht sei so etwas wie die letzte gerichtliche Instanz. Sie verkennen, daß die Verfassungsbeschwerde ein außerordentlicher Rechtsbehelf des Grundrechtsschutzes ist. Das Bundesverfassungsgericht hat nämlich nicht zu überprüfen, ob die Fachgerichte das einfache Recht richtig angewandt, die richtigen Zeugen gehört und die Beweise treffend gewürdigt hat.
Kann das Bundesverfassungsgericht in Anbetracht der Tatsache, daß viele Verfassungsrichter Mitglieder politischer Parteien sind tatsächlich unparteiisch und überparteilich entscheiden?
Ja, das kann es und tut es. Zwar haben sich einige der Verfassungsrichterinnen und -richter Parteien angeschlossen. Doch keine der großen Parteien kann „ihre Frau" oder „ihren Mann" so ohne weiteres zum Richter dieses Gerichts küren. Es bedarf einer Dreiviertelmehrheit, das heißt, die Parteien müssen sich über die Kandidaten einigen. Und sie werden gewiß darauf achten, daß Juristen in dieses Gericht gewählt werden, die nicht nur besonders sachkundig sind, sondern überdies wissen, daß sich die Vernunft nicht nur auf einer Seite aufhält.
Wichtig sind Erfahrungen sowohl aus den verschieden juristischen Berufen wie auch aus dem Bereich der Politik. Denn es ist durchaus sinnvoll, daß Richter des Bundesverfassungsgerichts, die mit ihrer Arbeit in die Politik hineinwirken, zum Beispiel über genaue Kenntnisse bezüglich des Entstehungsprozesses neuer Gesetze verfügen und politische Entscheidungszwänge im eigenen Kopfe erfahren haben.
Inwieweit wird die Tätigkeit des Bundesverfassungsgerichts von Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs beeinflußt?
Die Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sind in den einzelnen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union zu respektieren. Der Gerichtshof ist für die Auslegung und Anwendung des europäischen Gemeinschaftsrechts zuständig. Dieses Recht geht innerstaatlichem Recht vor. Im Einzelfall kann es allerdings schwierig sein zu entscheiden, ob Gemeinschaftsrecht betroffen ist oder ob einzelstaatliches Recht anzuwenden ist.
Sind Forderungen nach Gleichberechtigung der Frauen vor dem Hintergrund des Konkurrenzdrucks in unserer Gesellschaft überhaupt erfüllbar?
Der Konkurrenzdruck darf die Eröffnung gleicher Teilhabe-Möglichkeiten für beide Geschlechter nicht ausschließen. In der Tat ist Arbeit gegenwärtig ein knappes Gut. Dann heißt es gern für die Frauen „zurück in die Reserve“. Dabei böte sich jetzt gerade die Möglichkeit, über die bessere Vereinbarkeit von Familienpflichten und Beruf nachzudenken. Die Arbeit wird neu verteilt und die Arbeitszeit neu organisiert werden müssen, so daß beide Geschlechter in die Lage versetzt werden, sowohl familiäre als auch berufliche Arbeit zu leisten.
Wichtig erscheint mir, daß über die Teilzeitarbeit grundsätzlicher nachgedacht wird. Erste Untersuchungen machen deutlich, daß diese nicht nur in unqualifizierten Jobs, sondern über alle Hierarchien hinweg möglich ist.
Teilzeitarbeit muß auch sozialversicherungsrechtlich so ausgestaltet werden, daß sie für Mann und Frau attraktiv ist. Solange Teilzeitarbeit eine Sonderarbeitsform von Frauen ist, wird sie zu deren Diskriminierung beitragen.
Durch Gerichtsentscheidungen ist in den letzten Jahren einiges für die chancengleiche Beteiligung von Frauen in allen Bereichen des öffentlichen Lebens getan worden. Hier ist die jüngste Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs in Luxemburg zur Frauenförderung zu nennen.
Auch die Parteien betreiben zunehmend eine bewußte Frauenförderung in ihren Reihen. Schön wäre es, wenn auch die Männer, gemeint sind die Ehemänner und Väter, nicht nur egalitär denken, sondern auch partnerschaftlicher handeln würden. Häufig agieren sie noch nach der Devise „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht naß.“
Haben Sie persönlich geschlechtsspezifische Benachteiligungen erfahren?
Kaum. Aber gleichwohl gilt, daß es diese gibt. Während des Studiums und der Referendarzeit zählte nur die Leistung. Schwieriger wurde es, als unsere Kinder geboren wurden. Aber auch in dieser Zeit habe ich viel Unterstützung durch meinen Doktorvater, auch durch meine Kollegen und die Deutsche Forschungsgemeinschaft erfahren, die mir ein Habilitanden-Stipendium gewährt und dieses um ein halbes Jahr verlängert hat, als sich unser drittes Kind ankündigte. Das war eine besondere Form von Mutterschutz.
Meinen gegenwärtigen Posten verdanke ich der Tatsache, daß ich weiblichen Geschlechts bin, denn man hat in den Jahren 1993/94 bewußt nach einer Frau für dieses Amt gesucht. Gewiß ist mir auf meinem Berufsweg auch zustatten gekommen, daß ich aus einer sozialdemokratischen Familie stamme und meine Urgroßmutter und Großmutter emanzipierte, politisch denkende Frauen waren. Die Urgroßmutter hat mit Emma Ihrer den Berliner Arbeiterfrauen und -mädchen-Verein gegründet, meine Großmutter war Mitglied der Weimarer Nationalversammlung und später des Reichstags. Eine frauenfördernde Erziehung war in meinem Elternhaus selbstverständlich. Auch meine Schwester und nun auch meine Tochter haben Jura studiert und sind Richterinnen. Überdies habe ich wie viele erfolgreiche Frauen in den letzten Schuljahren ein Mädchengymnasium besucht und dort die Ämter der Vertrauensschülerin, der Schulsprecherin und Chefredakteurin der Schülerzeitung übernommen.
Heute ist man wieder so weit zu überlegen, ob es nicht der Entwicklung beider Geschlechter zustatten kommt, wenn sie in der Schule – etwa während der Jahre der Pubertät – getrennt unterrichtet werden. Aber ich möchte nicht leichtfertig meine Erfahrungen und die einiger erfolgreicher Frauen verallgemeinern, denn auch in Schulen mit Koedukation übernehmen immer Mädchen Ämter.
Gibt es Ihrer Meinung nach tatsächlich eine „sekundäre Benachteiligung" von Frauen in unserer Gesellschaft oder ist das Ganze nur ein durch die Medien heraufbeschworenes Problem?
Das ist es sicher nicht. Die Medien vernachlässigen im allgemeinen dieses Thema, da zumeist Männer die einflußreicheren Positionen innehaben. Männern ist ihr diskriminierendes Verhalten vielfach nicht bewußt, sie benachteiligen Frauen eher unbewußt durch eine Gestaltung des Arbeitslebens, die zu einer Benachteiligung der Frauen, vor allem der Frauen mit Familienpflichten führt.
Wie erklären Sie sich, daß trotz entsprechender Bemühung auch im öffentlichen Dienst der Anteil von Frauen in Führungspositionen sehr klein ist?
Mutter-Werden oder Mutter-Sein ist nach wie vor mit Verhinderungen verknüpft. Sobald aus einem Paar eine Familie geworden ist, spielen sich geradezu zwangsläufig die überkommenen Verhaltensweisen ein. Für die Frauen in den zwanziger und dreißiger Jahren gilt nach wie vor, daß die „Frauenfrage" eine „Kinderfrage" ist. Nach wie vor planen Frauen Lücken und Verzichte in ihren Berufsweg ein; es sei denn, sie versagen sich von vornherein den Kinderwunsch.
Nach wie vor liegen die Familien- und Hausarbeit eindeutig im Verantwortungsbereich der Frauen. Die Entscheidung für Kinder ist für viele Frauen Anlaß, die eigenen Karrierewünsche einzuschränken. Sie streben keine weitere Beförderung mehr an. Das habe ich als Berliner Justizsenatorin mehrfach erlebt, als ich höhere Richterposten mit Frauen besetzen wollte. Sie verwiesen mich auf ihre Mutterpflichten. Junge Frauen nutzen die Möglichkeit von Teilzeitarbeit und Beurlaubung. Sie müssen dann aber die verschlechterten beruflichen Aufstiegschancen und die erhöhte Arbeitsintensität der Teilzeitarbeit hinnehmen. Gleichwohl, das sei optimistisch bemerkt, ist in den letzten Jahren die Zahl der Frauen in qualifizierten Berufen gestiegen. Vielleicht wirken diese Vorbilder positiv auf die kommenden Generationen und bauen wenigstens die Selbstblockaden der Frauen ab.
Sie sind Mutter von drei Kindern. Wie haben Ihre Kinder auf Ihre Berufstätigkeit reagiert?
Ich habe über die üblichen Mutterschutzfristen hinaus keine beruflichen Pausen eingelegt. Dennoch haben sich unsere Kinder niemals beschwert, obwohl wir ihnen einiges zugemutet haben. Zum Glück habe ich einen der wenigen partnerschaftlich gesinnten und handelnden Männer geheiratet, der als „neuer" Vater auch in der Familienarbeit seinen Mann gestanden hat. Wir haben uns die Betreuung der Kinder mit Kinderfrauen geteilt. In der ersten Zeit unserer Berufstätigkeit ist ein Gehalt für diese Hilfe verwandt worden. Ich denke, meine Kinder haben das beste aus der Situation gemacht: Sie sind schon im Kindesalter sehr selbständig und verantwortungsbereit gewesen.
Als Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts müssen Sie mehr zurückhaltend sein in bezug auf Äußerungen, die aktuelle politische Probleme betreffen. Als Justizsenatorin von Berlin und auch als Hochschulprofessorin unterlagen sie nicht derartigen Beschränkungen. Dennoch haben Sie sich für die Übernahme Ihres jetzigen Amtes entschieden. Worin lag und liegt für Sie der Reiz Ihrer jetzigen Tätigkeit?
Diese Tätigkeit vereint viele meiner beruflichen Vorlieben: das juristische Denken mit dem verantwortlichen Entscheiden. In meiner letzten Zeit als Justizsenatorin hatte mich die Sehnsucht nach der wissenschaftlichen Arbeit wieder gepackt. Denn als Politikerin fehlte mir häufig die Zeit, mich mit einem Problem intensiv zu beschäftigen. Ich lebte allmählich von der Substanz.
Da war die Wahl in das Karlsruher Amt ein Glücksfall für mich, weil ich die juristische Tätigkeit und den Diskurs auf höchstem Niveau mit praktischer Arbeit vereinen kann. Mir fehlen eigentlich nur die Studenten.
Das Amt im Bundesverfassungsgericht zwingt zur Zurückhaltung. Wir Richterinnen und Richter müssen um unsere Unbefangenheit stets besorgt sein. Aber ich genieße diese gewisse Zurückgezogenheit; denn ich habe es mitunter als ärgerlich empfunden, daß in der Politik Klappern zum Handwerk gehört, man also auf eine gute Presse bedacht sein muß. Heute bereiten mir die intensiven Diskussionen mit meinen Kollegen, die kompetente und illustre Köpfe sind, großes intellektuelles Vergnügen, auch wenn es mitunter heiß hergeht.