Spitzen der europäischen Wissenschaft finden sich jedes Jahr im November in Ostfriesland ein, um auf den Auricher Wissenschaftstagen – Forum einer dritten Kultur mit Oberstufenschülern und vielen Gästen über transdisziplinäre Aspekte ihrer Forschungsarbeit zu diskutieren. Diese Veranstaltungsreihe, die vom Gymnasium Ulricianum und von der Berufsbildenden Schule II in Aurich organisiert wird, umfaßt ein Vortragsprogramm, dessen Inhalte durch Schülerwünsche bestimmt werden, eine Vergabe von Stipendiatenplätzen, u. a. an deutschen Großforschungseinrichtungen und Max-Planck-Instituten, und Interviews von Personen der Zeitgeschichte durch Schülerinnen und Schüler. Frau Süßmuth, Frau Limbach, Herr Tietmeyer und andere wurden bereits interviewt. Nun war die Reihe an Walter Jens gekommen. Als sie einen der begehrten Termine erlangt hatten, kraxelten Schüler und Lehrer beider Schulen am 17. April 1999 auf den Tübinger Olymp, auch „Professorenhügel“ genannt, um Inge und Walter Jens eine Stunde lang zu interviewen. Doch daraus wurden drei Stunden Jensscher Gastfreundschaft und ein Spaziergang zu Hölderlins Grab.
Zu Besuch bei Inge und Walter Jens im April 1999
Das Gespräch begann mit dem Buch zur …
Inge Jens: … Geschichte dieser Universität, spannend geschrieben und sauber erarbeitet. Spannend geschrieben durch meinen Mann – sauber erarbeitet durch mich. Etwa drei Jahre habe ich in den Archiven gesessen. Es ist noch alles da und – Gott sei Dank – auf Deutsch geschrieben. Wäre es auf Latein gewesen, ich wär‘ geliefert gewesen, das hätt‘ ich nicht geschafft. Aber so …
Schüler: So mußten Sie auf althochdeutsch oder sonst was …?
Inge Jens: Nein, nein. Die Universität ist ja 1477 gegründet, also die sprechen schon hochdeutsch, aber sie sprechen halt schwäbisch, und man muß sehr viel laut lesen, um zu verstehen, was gemeint ist.
Lehrer: Noch mal zur Tübinger Universität: Wie kommt es eigentlich, daß sich gerade hier ein Lehrstuhl für Rhetorik erhalten hat?
Walter Jens: Bis 1832 gab es den Lehrstuhl, dessen Inhaber die Aufgabe hatte, Gedichte zu Festen zu schreiben, Ansprachen zu formulieren, aber auch die Studierenden in der Kunst des rechten Schreibens zu unterweisen. Mein Vorgänger Ludwig Uhland hat das noch wahrgenommen. Dann war diese Tradition abgestorben, abgebrochen, und ich erhielt Mitte der fünfziger Jahre Rufe, z. B. nach Hannover oder nach Darmstadt, für Literaturwissenschaft. Da man mich gerne hier halten wollte, sagte mein damaliger Chef Wolfgang Schadewaldt: „Eigentlich ist für Sie der Lehrstuhl ,Klassische Philologie und Poetik‘ geeignet, aber da gibt es hier den Hölderlin-Forscher Friedrich Meissner – Sie wissen, der mag Sie nicht – das kriegen wir in der Fakultät nicht durch. Aber wissen Sie was? Wir nehmen Rhetorik, Rhetorik ist immer gut!“ So, auf diese Weise geschah es, daß Ende der fünfziger Jahre der Lehrstuhl wieder eingerichtet wurde. Aber mein Chef wußte nichts von der rhetorischen Tradition.
Lehrer: Welche Bedeutung hat die Rhetorik denn heute noch im Akademischen? Irgendwie kann man ja doch einen Traditionsabbruch feststellen. Ist die Rhetorik eine antik gewordene Schlüsselqualifikation?
Walter Jens: In Deutschland, nicht in Amerika. In Amerika hat jede Universität, die etwas auf sich hält, größere ohnehin, aber auch Harvard, Yale, Berkeley – die Stammuniversitäten – die haben alle einen Lehrstuhl für Rhetorik; auch in England und Frankreich gab es diese rhetorische Tradition immer. Wir haben diese Tradition nicht gehabt, während sie in Amerika so geprägt war: Hier Rom und dort Washington, hier das capitol und dort das Capitol, hier der senator und dort der Senator. Die Ghostwriter von Kennedy haben immer auch diese Tradition gesehen: Amerika war das neue Rom!
Lehrer: Könnte die Rhetorik denn auch für unsere jungen Menschen, z. B. auf der gymnasialen Oberstufe, Nutzen bringen?
Walter Jens: Außerordentlich! Die Rhetorik ist auch für junge Menschen in den Schulen von außerordentlicher Bedeutung. Ich will Ihnen ein Beispiel nennen: Wir haben heute wieder in der Universität eine „Schreibschule“ zur Kunst des Schreibens. Dort werden keine Genies gezüchtet, aber die Studierenden lernen z. B. saubere Reportagen zu schreiben. Ich habe zwei Bücher mit den Studierenden gemacht, eins heißt „Studentenalltag“, eins heißt „Die Schule des Schreibens“, bei S. Fischer erschienen. Ein weiteres Beispiel ist die Aufgabe an Studierende: „Erfindet eine Idealpaarung, die Ihr ausbilden könnt. Zwei Personen, die sich unterhalten sollen nach eurem Gusto.“ Da hat einer z. B. ein Thema über Mathematik und Theologie genommen; Schachweltmeister Steinitz im Gespräch mit Anton Bruckner. Einer hat genommen Dutzlaff von Stechlin aus Fontanes Roman „Der Stechlin“ bei einer Wahlversammlung der Grünen, wo er sich als der Grünste darstellt. Dann haben Studierende gewählt: Picasso und Hemmingway beim Stierkampf, aber manche haben auch Woody Allen im Gespräch mit Che Guevara gestaltet. Dann mußten die Studierenden einen einseitigen Entwurf machen, also: „Das und das will ich zeigen“. Da waren fabelhafte Sachen dabei, dann ging es an die Ausarbeitung, und es wurde viel Papier produziert, aber sehr wenige interessante Darstellungen, wo jede Figur Ihren eigenen Duktus hat, Dialekt et cetera. Oder: „Halten Sie eine Rede über die Situation der Studierenden heute.“ Einmal gesprochen vor einem Bundestagsausschuß, einmal gesprochen am Werktor einer Fabrik. Eine berühmte Geschichte, die Ernst Bloch erzählt hat: Der Herr von Miltiz war in der Lausitz und kam zu spät zur Kirche; er fand den Anschluß nicht mehr und fragte einen Hütebuben, die ersten vier Fünftel der Predigt betreffend: „Was hat denn der Pfarrer gesagt?“, und der Hütebube antwortete: „Nun ja, er hat sich vor allem mit dem Problem der Prädestination in zweierlei Form beschäftigt.“ – „Das ist ja erstaunlich mein Junge, wie heißt du denn?“, und da sagte der Bube: „Ich heiße Johann Gottlieb Fichte.“ Und der Herr von Miltiz sorgte dafür, daß der Hütebube auf die Universität kam, er wurde Rektor der Berliner Universität und einer der großen deutschen Philosophen. Dann machte Ernst Bloch eine lange Pause und fragte: „Eine schöne Geschichte? Nein, eine tief traurige! Denn wie viele Fichtes mag es gegeben haben, die ihren Herrn von Miltiz nicht fanden?“ Wir müssen uns fragen: „Wieviel Intelligenz haben wir verschleudert, indem wir jungen, begabten Menschen nicht die Möglichkeit gaben, an der größten Kostbarkeit der Menschheit, nämlich Bildung, teilzunehmen?“
Schüler: Jetzt diskutiert man über Studiengebühren. Wie stehen Sie denn dazu?
Walter Jens: Ich bin für das – ich weiß nicht, ob es Ihnen etwas sagt – das australische Modell. Das australische Modell ist folgendes: Keine Gebühren während des Studiums, die die Kinder armer Eltern benachteiligen und die anderen Kinder reicher Eltern bevorzugen. Aber, die Stipendien, die ich erhalte, habe ich zurückzuzahlen, wenn ich gut oder sogar reichlich verdiene und in Amt und Würden bin.
Schüler: Also so wie auf freiwilliger Basis in Amerika?
Walter Jens: Am meisten ist es in Australien ausgeprägt, das heißt, du bekommst Bafög, und wenn du später die entsprechende Kondition hast, dann hast du‘s zurückzuzahlen – um anderen eben auch zu ermöglichen, diesen Standard zu erreichen. Ein weites Feld ist auch die sehr miserable Ausbildung, die man am deutschen System im Vergleich zu anderen Ländern feststellt. Was fehlt, für uns aber das Allerwichtigste ist: die Einführung des Tutor-Systems wie in Amerika, wo fünf Leute um einen Assistenten sitzen. Am Anfang des Studiums bin ich für eine relativ starke Verschulung – daß man den Studierenden völlige Freiheit läßt, geht auch leider nicht. Wir erleben Dinge, die geradezu hanebüchen sind, auch in meiner aktiven Dienstzeit noch. Ich sage: „So, bis zur nächsten Woche lest ihr ,Minna von Barnhelm‘!“ Sagt einer der Studierenden: „Das ganze Stück? Gibt‘s da kein paper?“
Eintragung in das Gästebuch
Schülerin: Ich las vor einiger Zeit eine Umfrage in der ZEIT, in der ein Literaturkanon verhandelt wurde, den ein Abiturient gelesen haben muß. Da frage ich mich: Muß ein Abiturient tatsächlich diese Werke gelesen haben? – Hauptsächlich wurden Goethe, Lessing und, etwas seltener, Brecht genannt. Sind Sie der Meinung, daß ein Abiturient diese Klassiker gelesen haben muß, und ist er ungebildet, wenn nicht?
Inge Jens: Ja, das ist er auf jeden Fall.
Schülerin: Aber wie sollte denn dann der Deutschunterricht Ihrer Meinung nach aussehen? Ich muß nämlich zugeben, daß wir viele Klassiker in unserem Unterricht nicht behandelt haben und behandeln konnten.
Walter Jens: Also zunächst einmal ist es unsinnig zu sagen: Du mußt als Abiturient diese hundert Bücher gelesen haben. Aber wenn ich mir Deutsch erarbeite, über viele Jahre hinweg in der Schule, dann sollte ich schon aus großen Epochen eine Reihe von Standardwerken gelesen haben. Wenn ich an der Universität Deutsch studiere, dann muß ich sehr viel mehr gelesen haben; und deshalb müssen die Prüfungspläne auch verändert werden. Sie können zum Beispiel heute das Staatsexamen bequem passieren, wenn sie sich nur ihre Spezialgebiete einboxen: also Brecht, der junge Brecht, Büchner, der ist immer so kurz, und vielleicht einen Lessing noch. Aber sie können heute das Staatsexamen machen, ohne eine einzige Zeile von Goethe gelesen zu haben. Früher sagte der Professor: „Oh, Sie haben hier Brecht, Büchner und vielleicht noch Stifter, das beherrschen Sie ja – dann frag‘ ich Sie mal was ganz anderes.“ Ich muß also in der Universität eine breite Grundbildung haben. In der Schule, denke ich schon – in Ehren eure Deutschmeister –, daß man einiges aus der Klassik – Lessing eh –, einiges aus dem 19. Jahrhundert und einiges aus diesem Jahrhundert gelesen haben muß. Aber dazu auch Zeugnisse der sogenannten expositorischen Literatur, also der ,non-fiction‘- Literatur. Ich muß mich einmal mit großen Bismarck-Reden vertraut gemacht haben, ich muß Texte von Freud gelesen haben. Leider kann ich aufgrund deutscher Gesetzgebung „Mein Kampf“ nicht lesen, das sollte man auch lesen! – Die jungen Amerikaner kennen es. Selbstverständlich sollte man Marx-Texte kennen. Man sollte auch Texte aus der Epoche des Nationalsozialismus kennen – eines versuche ich mir und anderen immer klarzumachen: Literatur ist nicht Belletristik. Literatur ist geformte Wirklichkeit! Für einen Altphilologen ist es selbstverständlich, daß Thukydides oder Herodot zur Literatur gehören. Und deshalb muß man sich – auch unter künstlerischen Aspekten – mit dieser Literatur beschäftigen. Wir gehen jetzt mal im Deutschunterricht eine Bismarck-Rede durch. Wie macht der Mann das? Wie redet er? Jetzt vergleichen wir mal Bismarck und Fontane, stellen das gegeneinander. Das ist das eine, was ich behaupte. Und das zweite, schon in der Schule, wenn es um eine Lektüre geht: Ein ganz enger Konnex zwischen den Lehrern der einzelnen Sprachen. Der Romanist und der Anglist und der Germanist. Dann sagt der eine: „Ich mache gerade Lyrik im 19. Jahrhundert. Können wir nicht sagen, ich nehme hier Heine, und können Sie nicht mal ausschreiben: Rimbaud.“
Schülerin: Also ich kenne den Englischunterricht aus England so, daß es spezielle Stunden für Poesie gibt, spezielle Stunden für Literatur und die Stunden, wo mündlich erarbeitet wird. Könnten Sie sich so ein Modell vorstellen?
Walter Jens: Selbstverständlich!
Schülerin: Also auch für den Deutschunterricht? Denn auch in den fünf Stunden, die wir in einem Leistungskurs haben, schafft man es meiner Meinung nach kaum, mit der Literatur so umzugehen, wie es notwendig wäre.
Inge Jens: Man muß auch nicht alles besprechen, man darf auch mal nur lesen. Also, ich bin schon ein Anhänger von Leselisten; die müssen nicht unbedingt verbindlich sein, aber sie können Richtlinien geben für den, der will und der sonst keine Möglichkeit hat, sich zu orientieren, der soll sich daran entlanghangeln. Ich muß nicht jedes Werk besprechen, und ich muß auch etwas lesen können in der Schule, was nicht besprochen wurde. Also wenn ich ein Drama lese, von Goethe oder Schiller, dann brauche ich nicht noch fünf andere, die kann ich dann für mich lesen. Ich weiß, daß ich zufällig einmal etwas fand, das ich nicht kannte – da hatt‘ ich dann unendlich mehr Lust.
Walter Jens: Wir müssen aber auch den Unterricht anders gestalten: zum Beispiel mehr Medienkunde machen. Gehen wir mal in, ich habe den zwar noch nicht gesehen, in „Titanic“ und schauen uns an: Wie ist das gemacht? Worin liegt der Bestseller? Was geschah damals? „Liebe Freunde, wir nehmen jetzt mal eine Zeitung aus der Zeit, die berichtet, wie die Titanic unterging, und gucken uns an: Wie wurde das geschrieben? Was gab‘s da für Möglichkeiten, das darzustellen? Oder wir sehen uns einmal „Derrick“ an. Welches Milieu? Ja. Sehr wichtig. Welches Milieu?
Schülerin: „Harry, fahr‘ schon ’mal den Wagen vor!“ „Ja, Stefan.“
Walter Jens: Ja, so ist es! Das müssen Sie rauskriegen. Oder plötzlich, in einem gewissen Milieu, verbeugt sich Derrick, gibt einer Dame einen Handkuß und sagt: „Guten Abend, gnädige Frau.“ Warum, was passiert hier? Ist er in der Drogenszene oder in den Salons der Upper Ten? Das muß man wissen. Wie nehmen die Kameraleute auf? Wie wird Werbung gemacht? Ein bißchen Ausschau über den normalen Kodex hinaus? Oder: Wie arbeiten Ghostwriter? Also die großen Reden, die Herzog hält und so weiter, da ist ja nur ein Prozent von ihm. Die haben Ghostwriter geschrieben, die haben immer geguckt: „Das will er haben, da muß ich hin.“ Der Satz „Ich bin ein Berliner!“ ist nicht von Kennedy, natürlich nicht. Aber daran muß man arbeiten. So, wie man arbeiten muß etwa am Durchschauen von Werbungsstrategien, die sind ja genial. Das berühmteste Beispiel ist, wie der ganze Zahnpastamarkt zusammenbrach, weil zum ersten Mal eine Firma Chlorophyllzahnpasta gebracht hatte. Der wurde abgewehrt durch den Gegenslogan: „Wünschen Sie sich grüne Zähne?“ Auch die nationalsozialistische Propaganda muß man durchnehmen: Genaueste Analyse von Goebbels Durchhalteparolen durch Geschichts- und Deutschlehrer.
Inge Jens: Dann über den technischen Stand. Es ist ja heute schwer vorstellbar, daß, als Hitler anfing, die Übertragung mit Mikrophonen die große Ausnahme war. Hitler hat sich der modernen Techniken, einschließlich Flugzeugen, bedient. Da war er einer der ersten, und das ist natürlich ein Teil, wenn auch nur ein kleiner, für das ganze Verständnis.
Lehrer: Das ist im ganzen ein Plädoyer für den fachübergreifenden Unterricht.
Inge Jens: Ja, das ist es ständig. Aber erst einmal muß man sich fachliche Details erarbeiten. Dann kann man immer wieder zusammenfassen, immer wieder sagen: Hier geht‘s lang, und das könnte dafür nützlich sein. Das schafft auch ungeheure Motivation.
Walter Jens: Bei Luther: evangelischer Theologe, katholischer Theologe, der Geschichts- und der Deutschlehrer zusammen. Und dann zwei Stunden Luther behandeln: Wie ist das gebaut? „Ein feste Burg ist unser Gott“. Wie hat er geredet, und wo hat er sich abgesetzt? Oder, wie hat Bismarck gesprochen? Wir stellen uns ja bis heute einen Mann mit einem ochso-deutschen Baß vor. Gefistelt! Bismarck hatte eine Fistelstimme, konnte nur zur dritten Reihe durchdringen – und auch das nur mit Cognacwasser. Ich hab das mit dem Studium generale jahrelang gemacht. Noch vor vier Semestern haben Hans Küng und ich eine Reihe über humanes Sterben gegeben, die Frage der Euthanasie. Und da sind eben Bürger und Studierende in gleicher Weise dabei. Also: Ich bin ein großer Freund von Kooperation und interdisziplinärer Zusammenarbeit, wobei die Voraussetzung exakte Kenntnisse in allen Disziplinen ist, sonst bleibt das Gequatsche. Jeder muß das Seine können und beim anderen sagen: „Ich verstehe was davon!“
Schülerin: In der ZEIT-Umfrage wurden fünf Werke erfragt. Welche Bücher würden Sie denn nun empfehlen?
Walter Jens: Mit dieser Zahl ist sie Blödsinn, diese Frage.
Schülerin: Ja, das wurde auch gesagt, aber welche würden Sie denn vorschlagen?
Walter Jens: Ja, das kommt drauf an.
Schülerin: Worauf?
Inge Jens: Also vor zwanzig Jahren hätte ich bestimmt ganz andere vorgeschlagen als heute. Es kommt für mich darauf an, für wen.
Schülerin: Abiturienten.
Walter Jens: Ja, ist einer mehr naturwissenschaftlich begabt …
Schülerin: Ja, aber das kann man ja nunmal nicht im Deutschunterricht, denn da sitzen alle gemischt drin.
Walter Jens: Also ich würde niemals sagen, es sollen alle alles lesen. Ist einer mehr naturwissenschaftlich begabt, dann könnte ich sagen, schau Dir mal „Der Mann ohne Eigenschaften“ von Musil ein bißchen genauer an. Einige Werke sollte man generaliter lesen. Ich meine schon, daß man den absoluten Gipfel der deutschen Sprache in der Klassik, „Tasso“, behandelt haben muß.
Schüler: Zu etwas anderem. Genau wie bei Schülern, so kommt es auch bei vielen Lehrern auf persönliches Interesse an. Hat es eine positive Wirkung auf Schüler, wenn sich deren Lehrer engagieren in dem Bereich, der sie interessiert?
Inge Jens: Selbstverständlich. Ich muß ja nicht alles bestimmen, die Schüler sollen auch wählen können; es kommt auch auf die Form des Engagements an, aber vermitteln Sie heute mal einem Schüler, daß es sich lohnt, irgend etwas zu lernen. Es müssen ja nicht alle alles lernen! Zu zeigen, daß man sich für etwas interessieren kann und daß das Auswirkungen hat auf die Qualität des eigenen Lebens.
Schülerin: Ja, aber wir müssen ja … Alle müssen ja alles lernen! Jeder muß jeden Fachbereich abdecken.
Walter Jens: Aber doch nicht bis zur Vollkommenheit. Man hat ja auch seine Schwerpunkte.
Schülerin: Aber wir müssen ja alles abdecken, Naturwissenschaften und so weiter, und die zukünftigen Jahrgänge müssen Mathematik bis zum Schluß belegen.
Inge Jens: Das ist ja auch wichtig, um sich in dieser Welt zurechtzufinden. Ich muß zumindest so weit gelernt haben, damit ich später in der Lage bin, wenn ich an irgend etwas Zweifel habe, zu überprüfen, ob diese Zweifel begründet sind oder nicht. Aber gewisse Zugänge würde ich mir als Erwachsener auch gar nicht mehr erschlossen haben. Ich glaube, man muß soweit lernen oder unterrichtet werden, daß man Möglichkeiten hat, sich nachher fortzubilden, auf welchem Gebiet auch immer. Irgendein Gebiet, das einen kritisch interessiert. Da muß ich Möglichkeiten haben einzusteigen – später darf ich mich spezialisieren.
Walter Jens: Man muß auch immer bedenken, daß innerhalb einer Generation das ganze Wissen wieder umschlägt. Wenn ich mir zum Beispiel Herrn Antonys Briefbogen mit „siehe Internet sowieso“ angucke, das ist mir völlig fremd.
Inge Jens: Du kannst ja auch keinen Computer bedienen.
Walter Jens: Nun gut. Ich beherrsche das nicht, muß ich ja auch nicht! Ich weiß, daß ich mir einen aufstellen kann. Aber dadurch gibt es vollkommen andere Möglichkeiten, Wissenschaftler zu unterrichten. Früher sagte ich: Nehmen Sie mal die und die Arbeit, heute drücke ich auf einen Kasten und sehe: Diese Arbeit über Fontanes „Cecil“ wurde 1994 als Magisterarbeit in Melbourne geschrieben. Es gibt ganz andere Möglichkeiten, um Informationen zu erlangen als früher. Es ist unglaublich, auf welche Weise ich mich informieren kann. Nicht nur darüber, wie es Clintons Katze geht, sondern auch darüber, was in diesem Jahr in Argentinien über Lessing geschrieben wurde.
Lehrer: Hat sich denn durch die neuen Medien nicht auch die Bedeutung einer literarischen Bildung verändert?
Walter Jens: Völlig! Aber denken Sie auch an die Probleme der two cultures, der Geistes- und Naturwissenschaften, die gab‘s ja immer. Ich muß mich schuldig bekennen, wie in dem Gespräch zwischen Huxley und Snow gesagt wurde. Wenn einer abends in einer Gesellschaft sagt: Ich habe noch keine Zeile von Jean Paul gelesen, dann können alle die Nase rümpfen. Wenn man aber gefragt wird: „Was ist der zweite Hauptsatz der Thermodynamik?“ – „Wet ick nich.“ Dann wird das für normal genommen. Wenn du dich nicht gebildet hast über die Probleme der Photosynthese, das ist genauso schlecht, als wenn ich überhaupt keine Ahnung habe, was Verismus in der bildenden Kunst ist. Man muß zweierlei, erstens: Man muß Lernen lernen; ich schaue nach – ich bilde mich. Und das zweite: Sich der eigenen Grenzen bewußt sein.
Inge Jens: Und auch ein bißchen mehr Mut, die eigenen Interessen auszubilden. Nur da entwickelt man dann die Vitalität und lernt man dann auch. Ich halte es auch für ziemlich egal, in welchem Bereich man lernt.
Lehrer: Ich habe mal im Bereich der Supraleitung gearbeitet. Und unser Professor sagte seinerzeit: „Meine Herren, wir sind jetzt da und da an eine Grenze gestoßen, und wem das und das gelingt, der kriegt den Nobelpreis! Aber das wird vor dem Jahre 2000 nicht passieren.“ Und was geschah, Bednorz gelang drei Jahre später ein Sprung, weil er genau das Gegenteil von dem gemacht hatte, was scheinbar zum Erfolg führen sollte, und er erhielt den Nobelpreis. Er warf unsere ganze schöne Theorie über den Haufen. Und dann hab ich zu ihm gesagt: „Kommen Sie doch mal nach Aurich zu den Wissenschaftstagen, und erzählen Sie.“ Er war sich mit seinem Kollegen Alex Müller einig, daß sie etwas machen, was widersinnig scheint. Sie haben die Phantasie, die Kunst, vor allen Dingen die Inspiration aus dem Bereich der Choreographie in ihre Gedankenwelt einfließen lassen. Und siehe da: Genau das Gegenteil führte zum Erfolg! Und hier fing bei mir das Staunen an.
Walter Jens: Ja sicher: in Alternativen denken, darauf kommt es an. Und zu sagen: „Es könnte auch anders sein.“ Ich meine auch, daß man gegenläufig argumentieren sollte. Ich glaube schon, daß Immanuel Kant, der nie weiter als zehn Kilometer über Königsberg hinaus kam, weiter im Weltraum als alle Astronauten zusammen war. Das muß man sich mal vorstellen: Nichts weiter zu haben als seinen Kopf. Das wichtigste in dieser Zeit scheint mir zu sein, Fragen zu stellen, die weitere Fragen nach sich ziehen. Kafka hat einmal gesagt, „unter Deinen steigenden Füßen, wachsen die Treppen aufwärts.“ Dies immer höher, höher, und die Treppen wachsen immer hinterher.
Schüler: Ist das nicht auch eine Möglichkeit für die Schule?
Walter Jens: Aber sicher. Fragen stellen, intelligente Fragen.
Schülerin: Was sind intelligente Fragen?
Walter Jens: Intelligente Fragen sind gegen den Strich gebürstet, widerborstig, sind gegenläufig. Ich halte das in Deutschland übliche Zentralabitur für vollkommen absurd. Das heißt: „So ist es richtig, so ist es falsch!“ Natürlich können Sie mir eine Arbeit vorlegen zum „Götz von Berlichingen“: Der Held ist Götz – richtig! Es kann aber jemand kommen, der sagt: „Also für mich ist Weislingen der Held.“ Absurd, aber genial begründet, dann ist das eine fabelhafte Sache. Dann würde ich sagen: „Du bist richtig, Mädchen.“ Die Tatsache, daß wir heute in den Geisteswissenschaften, in Deutsch zumal, so binär argumentieren, so: Falsch – richtig! Gut – schlecht! ist wahrer Aberwitz. Deshalb bin ich, am Rande bemerkt, auch so gegen das literarische Quartett. Spannend – nicht spannend! Sexy – nicht sexy! Ambivalenz ist Wesen der Wissenschaften: das Prinzip der Polysemie oder der Polyvalenz. Also: Fragen stellen. Und dabei klug und – ein mir sehr liebes Wort – listig vorgehen. Also ein Beispiel: Brecht war, ich glaube, im Französischen nicht sehr gut. Er kriegte im Abituraufsatz so vier bis fünf zurück. Und er hatte einen Klassenkameraden, der radierte einige Fehler aus, fiel durch, wurde ertappt. Brecht strich sich einige Fehler mehr an, sagte dann zum Lehrer: „Das ist ja gar kein Fehler, den Sie mir angestrichen haben im Text. Was soll die rote Tinte hier? Ist doch ganz richtig.“ Brecht war ein großer Lateiner, was man auch nicht weiß. Er las bis zum Ende seines Lebens Horaz im Original. Als ihm dann einmal DDR-Kultusminister Johannes R. Becher schrieb: „Sie waren ja gar nicht auf der Sitzung des Zentralkomitees. Hoffend, daß Sie das nächste Mal wieder kommen.“ Antwort Brecht: „Das Participium präsentis sollte nur jemand benutzen, der wie ich eine eins in Latein hatte.“ Das ist auch Brecht! Ein listiger Bursche.
Lehrer: Sie haben gesagt, daß Sie zu allen möglichen Themen gearbeitet haben. Und da interessiert mich als Religionslehrer, warum Sie gerade Interesse an biblischen und religiösen Themen haben?
Walter Jens: Ja. Es hat mich immer bewegt, als bescheidener, evangelischer Christ den Kampf zu wagen und in meinen Übersetzungen eine Sprache zu finden, die weder die Vergangenheit beläßt, wie sie war, noch Ihr diese gute Nachricht raubt. Denn zwischen der Bibel und Luther stand nur die Zeitspanne von einer Minute. Dasselbe agrarische Reden, das Weltbild immer noch ptolemäisch und nicht kopernikanisch, Haus, Vater, Himmel oben, den Daumen festgenagelt – Erde in der Mitte, unten die Hölle. Zwischen der Bibel und uns liegen 1000 Jahre …
Lehrer: Ich habe einmal gelesen, daß Sie sich als „Anwalt der jesuanischen Vision“ bezeichnen. Das war, glaube ich, in der Berliner Morgenpost.
Walter Jens: Ja, das kann sein. Gegen die Amtskirche, mit der ich mich nie recht befreunden konnte, für die Geknechteten und Beladenen.
Schüler: Sie versuchen die Gesellschaft von unten zu betrachten und bezeichnen sich als demokratischen Sozialisten. Sie haben aber auch gesagt, daß man Sie als sehr links wahrnähme, liege eigentlich nur daran, daß sich seit zwanzig Jahren alle nach rechts bewegten.
Walter Jens: Das stimmt.
Schüler: Ja, das sehe ich auch so. Wie aber, meinen Sie, gewinnen auf diese Gesellschaft Demokratie und Sozialismus wieder mehr Einfluß?
Walter Jens: Jeder sollte daran arbeiten, auch wenn die Situation derzeit nicht sehr günstig ist. Ich habe oft gesagt: Ich bin nicht bereit, mich mit der Kongruenz der ersten beiden Abendnachrichten abzufinden: Die Zahl der Arbeitslosen ist gestiegen, die Aktienkurse sind auch gestiegen. Ich kann mich auch nicht mit der Kluft zwischen oben und unten abfinden und glaube deshalb mit dem großen Staatsrechtslehrer der Weimarer Republik, Hermann Herler, sagen zu können: Entweder wird der liberale in einen sozialen Rechtsstaat verwandelt, oder man verzichtet um der Erhaltung von Wirtschaft und ökonomischen Grundlagen willen auf Rechtsstaat und Demokratie. In der DDR geschah nichts gegen den Willen der Partei; bei uns geschieht nichts gegen den Willen der Wirtschaft. Die Bosse bestimmen.
Schülerin: Also würden Sie sagen, wir leben nicht in einer Demokratie?
Walter Jens: Wenn der zentrale Bereich der Wirtschaft nicht demokratisiert ist, leben wir nur in einer formalen Demokratie, keine, die gelebt und ausgefüllt wird. Demokratie, die am Fabriktor endet, ist keine DemokratieSchüler: Glauben Sie, ein Wahlsieg der SPD könnte da helfen, oder bleibt der nur eine Schönheitskorrektur?
Walter Jens: Im Augenblick bleibt es nur eine Schönheitskorrektur, fürchte ich.
Schülerin: Sie haben gesagt, Ihre Unterstützung hätte der SPD gegolten. Wenn diese aber den Lauschangriff unterstützt, zögen Sie sie wieder zurück?
Walter Jens: Also für mich ist der große Lauschangriff der point of no return. Für mich gibt es drei Sündenfälle der SPD: erstens damals der Radikalenerlaß unter Brandt schon. Also ein Mann, der in der DKP ist, darf nicht Lokomotivführer oder Briefträger werden. Das zweite war die Aushöhlung des Asylgesetzes, das dritte ist die Zustimmung zum großen Lauschangriff.
Schüler: Was ist mit 1919, auch einem der Sündenfälle der deutschen Sozialdemokratie?
Walter Jens: 1919 in der Räterepublik. Ja, das ist vor 1945 einer der historischen Sündenfälle, da auch 1914: die Bewilligung der Kriegskredite.
Schülerin: Und was sagen Sie zum (eigentlich gar nicht vorhandenen) Fraktionszwang?
Walter Jens: Unglaublich, unglaublich. Ich habe gehört, der Verfassungsrechtler Simon, er war früher auch Richter des Bundesverfassungsgerichts, der sagte: „Was die FDP sich geleistet hat in der Frage der Staatszugehörigkeit von Ausländern ist unglaublich.“ Die haben gesagt: „Ja, wir finden das ja auch richtig. Nur im Augenblick ist gerade Wahlkampf.“ Da geben wir die Gesinnung an der Garderobe ab. Ich meine, wenn die SPD das dreißigmal vorgeschlagen hat und die zu doof sind, das schon lange durchgeführt zu haben, das ist ja deren Sache. Aber da beginnt für mich der wahre Zynismus der Herren Westerwelle und Konsorten: Die erklären, ja wir sind ja dafür, aber – leider Gottes – ist das schlecht im Augenblick.
Inge Jens: Ich glaube, die Schwierigkeit ist heute, daß sie sich generell mit keiner Partei identifizieren können. Sie haben an jeder etwas auszusetzen. Mit der SPD Willy Brandts konnten wir uns weitgehend identifizieren.
Walter Jens: Die Mauer zwischen Intellektuellen und Politik war zu der Zeit weitgehend überwunden! Da war Böll und da war Brandt. Und wenn Brandt im Warschauer Getto kniete, der stand eben höher als alle Generäle und Minister und so weiter. Der große Unterschied zu heute war, daß Moral eine bestimmende Kategorie war. „Wer glaubt heute noch an Moral? Hör‘ mir mal zu lieber Freund …“
Schüler: Wie die soziale Sünde Ghandhis: Politik ohne Moral.
Walter Jens: Ja, eben: Gutmensch als Schimpfwort – der Gutmensch, der hat keinen Einblick in die Realität. Wenn das Flämmchen der Aufklärung nur ganz wenig glimmt, dann ist es wichtig, diesen brennenden Docht am Glühen zu halten. Ist die Kerze erst einmal ausgepustet, ist es sehr schwer, sie wieder anzuzünden.
Schülerin: Ist sie denn schon aus?
Walter Jens: Nein, das ist sie nicht. Aus einer Richtung, mit der man nicht rechnet, kommt auf einmal eine Gegenbewegung. Hätte nur mancher im Osten einen klareren Einblick in das gehabt, wie es aussah, wäre …
Inge Jens: Ich meine diese absolute CDU-Wahl, das war natürlich unser aller Verhängnis. Die CDU war am Ende, Kohl hätte wirklich nicht überlebt, und da kam das Geschenk der Vereinigung; natürlich haben die alle CDU gewählt. Die waren den starken Mann gewöhnt, immer nach oben – oben hatte immer recht.
Walter Jens: Ich weiß noch, wie es damals hieß, in der Distel, „Du, bei der PDS, die wähl‘ ich nicht, da hab ich ein gaaanz großes Kreuz gemacht.“ Bismarck sagt: „Auf dem Feld der Ehre, da können wir Deutschen fallen, aber Zivilcourage im Alltag …“
Inge Jens: Ich glaube auch, gegen eine neue Diktatur, wie immer sie aussehen mag, hilft wirklich nur Zivilcourage. Siehe die „Weiße Rose“. Ich denke, es ist nicht nötig, daß Märtyrer sterben, es wäre besser, Sie würden vorher Solidarität finden. Und man könnte vorher benennen, was einem fehlt. Das war ja so furchtbar schwierig, aber einige haben‘s dann ja doch begriffen. Wir sind ja auch verurteilt worden, und es hieß: „Sie stellen sich gegen unsere freiheitlich, demokratische Grundordnung.“ Blödsinn! Wir haben dort gesessen [in Mutlangen], um diese freiheitlich, demokratische Grundordnung zu verteidigen. Es war ja nicht so, daß wir im Grundsatzdissens waren mit diesem Staat, sondern um ihn zu verteidigen …
Transkript: Hans-Christian Heinemeyer, Helmut Ubben