Simon Bohlen, Andreas Scheepker, Lea Ella Woick, Dr. Heiner Geißler, Martina Poets, Hilke Peters, Rijke Beiße, Jule Galonska (v. l.)
Gesprächsteilnehmer/innen
Berufsbildende Schule II Aurich:Nach einer kurzen Vorstellungsrunde übergibt die Gruppe als Gastgeschenk ein Päckchen mit Tee, Kluntje und Teelikör.
Andreas Scheepker: Was verbinden Sie eigentlich mit Ostfriesland?
Dr. Heiner Geißler: Die Tatsache, dass ich öfters mal in Ostfriesland gewesen bin. In Leer zum Beispiel, auch als ich Generalsekretär der CDU war, habe ich dort Veranstaltungen durchgeführt, auch mal Veranstaltungen in Emden, mehrfach in Emden und habe dort auch Buchlesungen gemacht, und in Emden gibt es auch eine Ausstellung, ein Museum.
Andreas Scheepker: Das Landesmuseum wahrscheinlich.
Dr. Heiner Geißler: Das Landesmuseum, aber auch eine Kunsthalle, die Nannen-Kunsthalle, da bin ich auch, ich hoffe, ich sage das richtig, seiner Frau begegnet, die das offenbar managt.
Andreas Scheepker: Ja, genau, die managet das.
Dr. Heiner Geißler: Ich war dort, und ich habe dort auch einen Vortrag gehalten zu dem ganzen Thema Kunst, und Henry Nannen ist ja auch ein zu seiner Zeit auch aktiv gewesener Journalist, der auch in der Politik vorne an der Front stand. Das kann ich so auf Ihre Frage beantworten.
Andreas Scheepker: Ja, dann würde ich sagen, habt ihr jetzt das Wort.
Lea Ella Woick: Wie voll ist Ihr Terminkalender? Haben sie momentan viel Stress oder ist es eher ruhig?
Dr. Heiner Geißler: Ja, ziemlicher Stress. Zum Beispiel jetzt in der Woche sind wir 4 Tage unterwegs. Gestern waren wir in Moers, vorgestern in Halver. Ganz im Bergischen, das habe ich auch kennengelernt. Das liegt genau auf der Grenze zwischen Westfalen und Rheinland.
Das eine ist der märkische Kreis und das andere der bergische Kreis, das spielt da eine große Rolle. Also man lernt immer noch was dazu. Wir sind viel unterwegs, das hängt auch mit dem Buch zusammen, ich mache viele Buchlesungen. Ich habe jetzt auch wieder eine neue Schrift fertig, da werde ich dann wahrscheinlich auch wieder zusätzlich Termine kriegen und dann habe ich halt viele Einladungen. Ich kann längst nicht alle Einladungen annehmen, das wäre dann doch zu viel.
Lea Ella Woick: Wenn Sie mal zu Hause in Ihrer Heimat sind, bei ihrer Familie, wie sieht dann bei Ihnen so ein normaler Alltag aus? Was machen Sie, wenn sie gerade keinen Stress haben?
Dr. Heiner Geißler: Wenn ich keinen Stress habe, renne ich im Pfälzer Wald herum, mache etwas Sport, lese, oder schreibe an etwas Neuem. Das steht mir frei, ich kann über meine Zeit verfügen. Aber ich halte eben relativ viele Vorträge, auf die muss ich mich vorbereiten. Ich nehme auch Vorträge mit Themen an, wo ich mich nicht so auskenne, und zwar absichtlich, weil ich dann gezwungen bin, mich mit der Materie zu beschäftigen. Zum Beispiel habe ich mich jetzt sehr intensiv beschäftigt mit Teilchen-Physik. Ich weiß nicht, ob sie das Buch gelesen haben von Professor Lesch herausgegeben, der auch im Fernsehen eine große Rolle spielt, „Die Entdeckung des Higgs-Teilchens“. Das ist also so das letzte Element, das gefehlt hat, um die Teilchen im Atomkern vollständig zu beschreiben, da haben die 50 Jahre lang dran geforscht und sie haben das entdeckt an dieser riesigen Anlage, an der größten Maschine der Welt, das CERN bei Meyrin im Kanton Genf in der Schweiz, 27 km lang und wo sie doch im Teilchenbeschleuniger einen Zustand herbeiführen wollen, der bei der kosmischen Singularität, dem Big Bang vorhanden war oder sein muss. Solche Sachen, da lese ich dann wieder relativ viel drüber, obwohl ich da kein Experte bin.
Lea Ella Woick: Sie sind ja nun schon ziemlich viele Jahre Person des öffentlichen Lebens – sind Sie immer noch nervös bei Interviews oder wenn Kameras bei Ihnen sind?
Dr. Heiner Geißler: Nein, das kommt nicht mehr vor.
Lea Ella Woick: Werden Sie denn oft auf der Straße erkannt oder angesprochen, also erkennt man Sie schon?
Dr. Heiner Geißler: Also das ist ein bisschen die Schwierigkeit, dass ich immer wieder, egal wo ich hinkomme, angesprochen werde oder die Leute mich dann begrüßen. Das ist nicht unangenehm, weil, wenn mich jemand anspricht, dann macht er das nicht, um mich zu beschimpfen, sondern um mich zu begrüßen. Es gibt sicher auch Leute, die mich nicht mögen, aber die melden sich dann nicht, die zeigen sich nicht. Ich nehme aber auch nicht an, dass das allzu viele sind. Aber das ist schon wahr. Selbst im Hochgebirge auf 4.500m Höhe am Monte Rosa habe ich schon Autogramme geben müssen. Das kommt also des Öfteren vor.
Hilke Peters: Wir haben auch schon viel über Kindheit und Jugend recherchiert und anders als wir waren Sie ja auf einem katholischen Internat. Wie sah denn dieser typische Tag auf dem Jesuiten-Kolleg aus?
Dr. Heiner Geißler: Ja, das Jesuiten-Kolleg war ja, wie Sie schon angedeutet oder gesagt haben, zweiteilig Gymnasium, Schule, und dann ein Internat. Das war zunächst ein reines Jungeninternat und später kam dann die Koedukation dazu, da sind auch dann Mädchen dabei gewesen. Am Anfang hatte ich furchtbares Heimweh nach Hause, das muss ich zugeben. Und ich hab dieses Heimweh überwunden durch den Sport. Ich war ein sehr guter Sportler, vor allem war ich Handballspieler, aber damals hat man auch andere Ballspiele gemacht, Völkerball zum Beispiel. Das kennt man heutzutage wahrscheinlich gar nicht mehr.
Gruppe: Doch.
Dr. Heiner Geißler: Und da war ich dann eben gut. So und nach 4–6 Wochen bin ich dann auch von den Mitschülern anerkannt worden und dann wurde dieses Heimweh etwas verdrängt und vertrieben. Ich glaube, dass ich eine sehr gute Bildung und Ausbildung bei den Jesuiten bekommen habe.
Das war natürlich ein geregeltes Leben, aber trotzdem in gewisser Weise auch wieder ein freies Leben. Morgens um 6 geht es los, da gab es zunächst von halb 8 bis 8 eine Zeit zum Studieren, da hat man dann also nochmal alles aufgearbeitet, was man vielleicht am Vormittag für die Schule gebraucht hat, dann kam Frühstück und begann die Schule, so bis halb 1. Dann gab es Mittagessen und dann war freie Zeit, so bis halb 5. Da haben wir meistens Sport gemacht, Handball gespielt oder was weiß ich, was wir getan haben, und dann begann aber das Studium um halb 5. Das war das sogenannte „leichte Studium“, da konnte jeder studieren, was er wollte. Aber er musste an seinem Studienplatz sitzen. Und dann gab es nochmal anderthalb Stunden Studium, da war absolut silentium, und da musste man den Stoff bearbeiten, den man tagsüber am Vormittag gelernt hat. Dann kam das Abendessen und nach dem Abendessen war Freizeit und man war eben auch wieder in einer lockeren Form zusammen. Aber um 9, halb 10 war Schluss und man ist ins Bett gegangen. So in etwa war der Tagesablauf.
Die Schule richtete sich nach dem Stundenplan oder Tagesablauf der Gregoriana, der päpstlichen Universität in Rom, die von den Jesuiten gegründet worden ist. Die haben ja wie an der Sorbonne, was heute noch der Fall ist, den Donnerstag frei, aber studieren statt an dem Donnerstag dann am Samstag. So war das am Anfang auch in Sankt Blasien, aber das wurde dann abgeschafft, weil das nicht in die normale Schul-Zivilisation hineingepasst hat. Aber das war auch nicht schlecht, da hatte man mitten in der Woche einen freien Tag, den Donnerstag. Da haben wir dann immer viel Sport gemacht. So das war in etwa der Tagesablauf.
Hilke Peters: Sie haben ja schon das Heimweh zu Ihren Eltern angesprochen – hat Sie das in Ihrem weiteren Leben geprägt, auch in Bezug auf Ihre eigenen Kinder?
Dr. Heiner Geißler: Ja, ganz sicher. Das hat schon eine Rolle gespielt, aber ich bin ja in meinem Elternhaus regelmäßig gewesen nur bis zu meinem 15, 16. Lebensjahr. Ich habe natürlich meine Mutter sehr gut gekannt, meinen Vater nicht so. Denn ich bin Jahrgang 1930 und der Vater war Mitglied der Zentrumspartei gewesen, Abgeordneter und von den Nationalsozialisten verfolgt worden.
Eine Familie mit 5 Kindern, da haben sie sich nicht so ran getraut, aber mein Vater ist auch kurze Zeit im KZ gewesen, einem Konzentrationslager auf dem Heuberg. Er war Geometer und Geologe, Beamter, im Vermessungsdienst tätig und die Position hat er auch behalten, aber wir haben uns nicht so verhalten, wie die Nationalsozialisten das gewollt haben. Wir haben nicht alle Veranstaltungen in der Hitlerjugend mitgemacht oder dem „Bund Deutscher Mädel“.
Ich will noch ein Beispiel erzählen: Wir sind bei der Fronleichnamsprozession mitgegangen. Die Hitlerjugend hat an Pfingsten Sternmärsche organisiert. Meine Mutter hat mir die Teilnahme verboten und dann kamen die an und fragten nach. Dann wurde gesagt, bei uns geht man Pfingsten in die Kirche und geht nicht weg zum Marschieren. Die Familie ist schon ein bisschen auf Konfrontation gegangen und deshalb sind wir oft versetzt worden. Also ich hab zum Beispiel versäumt, viele Klassentreffen zu besuchen, weil ich gar keine richtige Verbindung hatte. Ich war immer nur 2 Jahre in einer Schule oder 3 Jahre, und dann ging es wieder woanders hin. Das war so der Nachteil. Das hat auch dazu geführt, dass wir auch nach Hannover versetzt worden sind.
Ich habe eine sehr gute Beziehung zu meiner Mutter gehabt, bei meinem Vater war das leider nicht so leicht möglich, weil er hat sich später zur Wehrmacht gemeldet, um den Nazis zu entkommen. Er war noch Offizier vom 1. Weltkrieg. Und dann kam er in Kriegsgefangenschaft und ist erst 1949 zurückgekommen. Deswegen hatte ich zu meinem Vater nicht so ein intensives Verhältnis.
Aber ich habe mir immer sehr vorgenommen, ein guter Vater zu sein zu meinen 3 Söhnen, und das ist mir, glaube ich, auch gelungen.
Hilke Peters: Sie haben ja schon angesprochen, dass Sie in einer ganz anderen Zeit aufgewachsen sind als wir jetzt, und dann war der Schulalltag ja auch komplett anders. Welche Unterschiede nehmen Sie zwischen damals und heute wahr?
Dr. Heiner Geißler: Das sind natürlich gravierende Unterschiede. Ich bin im Krieg aufgewachsen in einer Diktatur, und dann die entscheidenden Jahre unmittelbar nach Ende des Krieges war ich im Jesuiten-Gymnasium in St. Blasien. Dann bin ich in den Jesuiten-Orden eingetreten und hatte dort ein Leben gehabt, das sich diametral unterschied vom normalen Leben. Insofern ist dieses Leben, das ich bis zu meinem 23. Lebensjahr gehabt habe, auch diametral unterschiedlich zu dem Leben, das Sie oder andere junge Leute heute haben.
Aber von der Zeit her, von der Geschichte her bin ich eben stark geprägt durch die Zeit des Nationalsozialismus und habe daraus natürlich auch Konsequenzen gezogen für meine spätere politische Arbeit.
Ich will jetzt nur einmal ein Beispiel bringen, was mich im Moment sehr berührt: Nach dem Krieg bis zum heutigen Tag war Europa ein ganz großes Thema. Das, was zu heutiger Zeit verständlich ist, dass die Europäer zusammengehören und dass die Zeit des Nationalstaates vorbei ist. Wir haben das Erasmus-Programm, also den Austausch von Schülerinnen und Schülern, Studentinnen und Studenten in ganz Europa. Das ist also eine ganz andere Welt, das habe ich damals nicht erlebt, sondern als ich damals zur Schule gegangen bin, als ich so alt war wie ihr, da haben die Deutschen und Franzosen noch aufeinander geschossen.
In meiner Heimat, in der Südpfalz, verläuft die Grenze zum Elsass und zu Lothringen, da war eine vollkommen andere Situation. Das war eine Völkerfeindschaft, das war Diktatur und heute leben wir, leben Sie, in einer freiheitlichen Demokratie in einer Atmosphäre auch der Völkerfreundschaft – bisher. Das wird jetzt leider wieder gefährdet. Da muss man ganz genau aufpassen und darf das nicht hochkommen lassen. Man muss Widerstand leisten gegenüber denjenigen, die den alten Nationalstaat wieder aufbauen wollen, der ja keine Zukunft hat.
Deswegen ist das, was die Briten gemacht haben, im Grunde genommen auch für das Land selber eine Katastrophe. Das wird nicht gut gehen. Die Jugend in England war absolut dafür, dass England, Großbritannien, in Europa bleibt. Dieser Ausstieg hat den jungen Leuten jetzt nicht gerade ihre Zukunft verbaut, aber doch erheblich erschwert. Also das sind entscheidende Unterschiede und ich bin froh, dass wir in den vergangenen 50, 60 Jahren in Deutschland oder ganz Europa die freiheitliche Demokratie haben aufbauen können, die ich als junger Mensch nie erlebt habe, sondern das Gegenteil.
Rijke Beiße: Sie haben ja schon erzählt, dass Sie in der Kriegszeit gelebt haben, hatten Sie jemals das Gefühl, in Gefahr zu sein?
Dr. Heiner Geißler: Können Sie etwas lauter sprechen? Sie müssen verstehen, ich bin 87 Jahre alt, ich fühle mich ganz fit, sonst fehlt mir gar nichts, aber das ist halt das Problem: Das Gehör lässt ein wenig nach, was im Grunde auch eine Erscheinung ist, die bei jungen Leuten eintritt durch Diskos, durch laute Musik. Das macht das Gehör natürlich kaputt oder vermindert die Gehörfähigkeit. Deshalb gibt es viele junge Leute, die auch auf Hörgeräte angewiesen sind. Also wundern Sie sich nicht, wenn ich mal nachfrage, dann hängt das eben damit zusammen.
Rijke Beiße: Ja, dann wiederhole ich meine Frage noch einmal. Also Sie haben ja schon erzählt, dass Sie in der Kriegszeit gelebt haben, und hatten Sie jemals das Gefühl, dass sie sich in Gefahr befunden haben?
Dr. Heiner Geißler: Ja, in Hannover sind wir ausgebombt worden, unten in der Bödekerstraße. Ich bin dann schon vorher zu meinen Großeltern gefahren, aber meine Mutter war noch in Hannover mit meinen Schwestern. Ich war als 14-Jähriger beim sogenannten Schanzen, mich haben sie als 14-Jährigen noch – sagen wir mal – zum Volkssturm geholt. Ich musste im Schwarzwald Schützengräben ausheben. Da waren die Alliierten, die Franzosen, die waren schon in Straßburg, im Elsass und oben in Sankt Peter oberhalb von Freiburg. Da haben wir die Schützengräben ausgehoben und dann hatten wir Angriffe, die sind dann über diese Schützengräben entlang geflogen von oben und haben da weit geschossen, da hätte ich auch ums Leben kommen können.
Die Front rückte immer näher, und ich hatte meiner Mutter versprochen, dass ich wieder nach Hause komme, weil mein Bruder ein halbes Jahr vorher im November 1944 in Lotringen gefallen war. Es hat meine Mutter sehr getroffen und berührt. Und weil ich dann der einzige Junge war unter drei Schwestern, da hat sie eben gesagt: „Du musst unbedingt wiederkommen“. Und dann bin ich geflüchtet. Ich bin einfach abgehauen, desertiert. Das war sehr gefährlich – nicht wegen der Franzosen oder der Amerikaner –, sondern wegen der SS. Die war im Hinterland und suchte natürlich nach solchen Deserteuren. Da gab es noch andere junge Leute, die abgehauen sind, und wenn sie die erwischt haben, dann wurden die halt sofort erschossen. Oder man hat sie nach Friedrichshafen gebracht zum Minenräumen. Diesem Risiko war ich auch ausgesetzt. Ich bin gerade noch in der letzten Minute nach Hause gekommen, und zwar am 19. April. Am 20. April sind die Franzosen dann in Spaichingen einmarschiert. Also ich habe – sagen wir mal – eine Lebensgefahr während des Krieges immer wieder erlebt.
Rijke Beiße: Und in welcher Situation haben Sie das Kriegsende erlebt?
Dr. Heiner Geißler: Ich war gerade nach Hause gekommen, in der Nacht und am anderen Tag sind die Franzosen einmarschiert. Sie sind aber nicht weit gekommen. In Spaichingen war keine Waffen-SS und auch kein Volkssturm, aber in der nächstgelegenen Gemeinde Balgheim. Da waren junge Leute, ich hab die noch gesehen, sie waren ein bisschen älter als ich und liefen am Morgen noch mit Panzerfäusten in Richtung Balgheim. Die Franzosen fuhren durch Spaichingen auf diese Ortschaft zu. Ich bin zu dem Haus gegangen, in dem wir wohnten, das war die alte Vogtei, das höchste Haus. Von da konnte man über die Stadt und natürlich auch weiter nach Osten blicken. Dann sind die Panzer die Straße nach Balgheim gefahren, und plötzlich haben die auf die Panzer geschossen. Dann sind ein, zwei, drei Panzer in die Luft geflogen, weil die SS oder der Volkssturm und die jungen Leute ihre Panzerfäuste abgefeuert haben. Die Panzer sind dann wieder umgedreht. Dann kamen die Jagdbomber und haben das Dorf Balgheim komplett zusammengebombt, was man ja auch verstehen kann, und haben die Waffen-SS, die Volkssturm-Leute und auch die jungen Leute entweder getötet oder gefangen genommen.
Das war jetzt mein Erlebnis vom Ende des Krieges, so wie es eben das Ende für mich und meine Familie gewesen ist. Der Krieg ging ja erst am 8. Mai zu Ende. Da weiß ich nicht mehr, was da los war und wie ich das erlebt habe. Da hat sich das fast schon längst wieder normalisiert. Jedenfalls waren wir froh.
Rijke Beiße: Und welche Bedeutung hatte die Religion und Philosophie für Sie als Jugendlicher?
Dr. Heiner Geißler: Für mein Leben? Die Religion hatte mein Leben schon als Jugendlicher bestimmt. Ich wollte ursprünglich Missionar werden. Das hing auch damit zusammen, dass es in unserer Familie bei meinen Großeltern an Literatur nur die Sammelbände Goethe, Schiller, Mörike usw. gab. Aber das hat mich natürlich nicht so interessiert als 12-,13-, 14-Jähriger. Aber es gab viele Heiligen-Legenden, die über die Taten und das Leben der Heiligen berichteten. Das hab ich gelesen und das hat mir durchaus gut gefallen.
Zu der Zeit, in der Martin Luther seine Bücher geschrieben und seine Theologie entwickelt hat, ca. 1520, waren die Jesuiten schon weit in Ostasien, was überhaupt das Problem damals war mit der Reformation: Die katholische Kirche war eine Weltkirche. Kaiser Karl V. sagte: „Bei mir, in meinem Reich, geht die Sonne nicht unter.“ Die waren in Südamerika und in Asien. Sie haben sich gedacht: Was soll der Professor in Wittenberg da im Norden von Europa? Sie haben sich gar nicht um ihn gekümmert, was ein großer Fehler war. Aber ich habe eben von diesen Leuten viel gelesen, von Franz Xavier, dem Mitbegründer des Jesuitenordens, der auf einer einsamen Insel vor der Chinesischen Küste 1534 gestorben war. Er war auf den Molukken und in Bombay in Indien. Das sind alles Stätten, die nachher auch – „leider“ muss man sagen – Kolonien geworden sind. Sie reisen mit Segelschiffen dorthin unter großen Entbehrungen. Sie haben sich für ihren Glauben eingesetzt und den Menschen geholfen in den armen Verhältnissen und ihnen Handwerksmöglichkeiten aufgezeigt.
Also was die da gemacht haben, das hat mir immer gefallen. Als junger Mensch will man ja immer wieder auch was Neues machen, etwas Großes, man will die Welt verändern und verbessern. Und ich wollte Missionar werden, ich wollte Priester werden. Und weil ich bei den Jesuiten in der Schule war, die mir besonders imponiert haben, bin ich auch gleich in den Jesuitenorden eingetreten und war 4 Jahre Mitglied des Jesuitenordens. Das hat mein Leben dann natürlich sehr geprägt.
Jule Galonska: Wie Sie ja nun schon selber gesagt haben, wollten Sie gerne Priester werden. Das haben Sie dann aber ja doch nicht gemacht haben, da Sie – wie Sie selber gesagt haben – einen Teil der Gelübde nicht einhalten konnten oder wollten. Uns würde interessieren, wie Sie dann von dem Wunsch, Priester zu werden, zur Politik gekommen sind, weil es ja eigentlich schon etwas ziemlich Unterschiedliches ist.
Dr. Heiner Geißler: Ja, das ist richtig, ich hab bei den Jesuiten aufgehört. Man muss zwei Jahre lang das Noviziat machen und dann beginnt erst das Studium der Philosophie. Bei den Jesuiten ist es eine sehr lange Ausbildung, bevor sie zum Priester geweiht werden: die längste Ausbildung in den katholischen Orden. Nach zwei Jahren Noviziat muss man Gelübde ablegen: Armut, Keuschheit und Gehorsam.
Mit 23 Jahren habe ich festgestellt: Ich kann zwei davon nicht so gut halten, es war nicht die Armut. Und dann habe ich die Konsequenz gezogen und bin ausgetreten, was mich im Übrigen dazu bringt – auch jetzt im Reformationsjahr –, der katholischen Kirche immer wieder zu sagen: Ihr müsst endlich den Zölibat abschaffen, dass die Priester nicht heiraten dürfen. Denn das war ja, was Luther verändert hat. Gott sei Dank.
Andreas Scheepker: Ich bin auch verheiratet.
Dr. Heiner Geißler: Das ist ja auch natürlich, es gehört zum Menschsein, dass Frauen und Männer eben zusammengehören. Das ist eine künstliche Geschichte, was die katholische Kirche hier gemacht hat. Das ist reines Kirchenrecht. Es hat mit dem Evangelium überhaupt nichts zu tun und bringt auch viel Unglück über die Menschen. Pfarrer oder Priester zu sein ist auch ein ideeller Beruf. Jetzt bin ich irgendwie vom Thema abgekommen, nicht?
Andreas Scheepker: Eigentlich nicht. Das war ja sozusagen die Frage nach dem Grund, warum Sie diesen Weg nicht eingeschlagen haben.
Dr. Heiner Geißler: Genau. Ich war schon der Auffassung, dass ich etwas gestalten sollte, sagen wir mal: die Lebensbedingungen der Menschen verbessern sollte. Ich hab das ja auch erlebt, zu Hause in meiner Umgebung, und hab schon gewusst, dass es in Deutschland noch viel zu tun gab. Dann habe ich angefangen mit dem Studium in Tübingen und hab mich dann politisch engagiert. Mein Vater, der schon einen großen Einfluss auf mich hatte, der hat zu mir immer gesagt (…): „Du musst unbedingt politisch tätig werden, damit das nie mehr passiert.“ Das sage ich auch heute noch immer wieder, denn die Weimarer Republik ist nicht zugrunde gegangen, weil es zu viele Nazis oder Kommunisten gegeben hatte, sondern zu wenig engagierte Demokraten. Wie das, was wir heute auch wieder erleben, dass viele sagen: Ja, wir sind frustriert, politikverdrossen und was da nicht alles immer wieder erzählt wird. Mein Vater hat zu mir gesagt: Das darf nie mehr passieren, deshalb musst du dich politisch engagieren.
Und in die CDU bin ich eingetreten wegen Europa. Die CDU war die Europa-Partei, denn wir jungen Leute wollten keinen Nationalstaat mehr. Die SPD hatte damals noch die Wiedervereinigung in den Mittelpunkt gestellt, von Europa wollten die nicht viel wissen. Deshalb ist Gustav Heinemann, der ja CDU-Bundesinnenminister 1949 geworden ist mit Konrad Adenauer, dann 1951 aus der CDU ausgetreten und hat eine eigene Partei gegründet, die sich nachher mit der SPD verbündet hat, nämlich die „Gesamtdeutsche Volkspartei“. Die Sozialdemokraten hatten ein berechtigtes Ziel: das erste politische Ziel war für sie die deutsche Einheit. Während die CDU gesagt hat, die deutsche Einheit können wir nicht erzwingen, da steht die rote Armee dagegen. Aber Europa ist entscheidend, und die deutsche Einheit bekommen wir nur, wenn die anderen europäischen Länder, die Länder der westlichen Welt, auf unserer Seite stehen und uns zur deutschen Einheit unterstützen. Das war die Philosophie von Konrad Adenauer. Das hat uns überzeugt, und deswegen bin ich politisch tätig geworden. Das war zu meinem Wunsch, Missionar oder Priester zu werden, eine echte Alternative. Es war ungefähr dasselbe, dass man eben die Welt oder die Bedingungen, unter denen die Menschen zu leben haben, verbessern will.
Jule Galonska: Sie waren dann als Politiker dafür bekannt, dass Sie ihren eigenen Kopf hatten. Um nochmal auf Ihre Kindheit zurück zu kommen: Waren Sie denn auch schon als Kind immer so, dass Sie immer ihren eigenen Kopf oder Ihren eigenen Willen hatten, oder waren Sie damals noch eher angepasst?
Dr. Heiner Geißler: Nein gut, also angepasst war ich sicher, das hat ja der Krieg auch so mitgebracht. Die Mutter war da, der Vater war weg. Also da hat man fest zusammengehalten. Da hat man der Mutter, die sowieso schon genug Sorgen hatte, nicht noch zusätzlich Schwierigkeiten gemacht. Aber natürlich über die Stränge geschlagen habe ich schon, das, was junge Leute halt jetzt auch machen, und ich war nicht so veranlagt, mich zu ducken, also alles mit mir machen zu lassen.
Ich hab mich auch zur Wehr gesetzt. Es gab ja bei den Nationalsozialisten das Jungvolk, das waren die Jungs so im Alter von 9 bis 14 Jahren. Das weiß ich noch. 1941 haben die in Hannover eine große Veranstaltung gemacht, eine Jul-Feier. Das war wie bei den alten Germanen, (…) und da waren alle zusammen, so ein paar hundert junge Leute, 12-Jährige, 13-Jährige. Und dann ist doch der Fähnleinführer, der war zwei Jahre älter als ich, aufgestanden und hat dann gesagt, nachdem wir alle militärischen Lieder gesungen hatten, „wer katholisch ist: aufstehen“. Ja, da bin ich halt aufgestanden, und es war brüllendes Gelächter. Ich hab mich dann umgedreht und hab gemerkt, ich steh da allein, jedenfalls ist da keiner aufgestanden. Gut, dann habe ich mich wieder hingesetzt, und dann ging es weiter.
Aber der Fähnleinführer, der ging bei mir in dieselbe Schule, in der alten Celler Straße, und der wohnte auch in der Bödekerstraße. Ich hab ihn abgepasst am anderen Tag und ihn verprügelt. Der hat mir nie mehr irgendwelche Schwierigkeiten gemacht. Solche Sachen habe ich natürlich auch getan.
Oder wenn man Scharlach hatte, dann wurde man sofort in die Quarantäne genommen, das war ja eine ansteckende Krankheit. Ich kam ins Nordstadt-Krankenhaus, und ich hab das nicht akzeptiert. Ich wollte zu Hause sein. Ich hatte ein isoliertes Zimmer. Vor diesem isolierten Zimmer befand sich an der Hauswand ein Vorsprung und in der Mitte war ein Blitzableiter angebracht. Ich bin dann in den zweiten Stock, da hab ich mich herausgehangelt zu dem Blitzableiter und an dem Blitzableiter bin ich dann heruntergeklettert, dann durch den Park durch und über die Mauer vom Nordstadt-Krankenhaus. Dann bin ich 4 km durch Hannover gelaufen. (…) Nach einem halben Tag hat man mich wieder abgeholt – mit großem Lärm von mir.
Ich hab das später nochmal gemacht: mir den Schlitten auf den Kopf gehauen in der Eilenriede und kam dann auch ins Krankenhaus. Morgens in der Früh bin ich an der Rezeption auf dem Bauch vorbei geschlichen und ab nach Hause – und diesmal durfte ich auch zu Hause bleiben. Also solche Sachen habe ich auch gemacht damals. Ich habe meiner Mutter neben der Situation also keine Schwierigkeiten gemacht – mit Ausnahme von solchen Sachen, worüber sie sich aber eher gefreut hat, dass ich halt so war.
Jule Galonska: Abschließend zu ihrer Kindheit oder Jugend – was, würden Sie sagen, ist ein schönes Ereignis gewesen, an das Sie sich gerne zurückerinnern oder in das Sie sich gerne zurückversetzten würden?
Dr. Heiner Geißler: Gut, da gibt es viele schöne Erlebnisse, aber etwas vom Schönsten, was ich erlebt habe, das hängt nun natürlich wieder mit dem Krieg zusammen. Ich war bei meinen Großeltern in den Ferien, und man konnte nicht telefonieren. Das war nicht möglich. Wir hatten kein Telefon. Es hatte ja nicht jede Familie ein Telefon. Wir haben dann durch die Nachrichten gehört, dass Hannover durch Bombenangriffe sehr zerstört worden war. Meine Mutter hatte aber noch in Hannover gewohnt. Ich hatte so schreckliche Angst, dass die Mutter tot ist, und hab es dann natürlich nicht erfahren. Es hat vier, fünf Tage gedauert, bis wir einen Brief erhielten, dass sie am Leben ist. Und das war etwas, das ich nie vergessen werde. Ich bin in diesen Tagen nach dem Bombenangriff zweimal am Tag runtergelaufen zum Postamt am Bahnhof und habe gefragt, ob ein Brief angekommen ist. Es kam keiner, es kam keiner. Es war etwas ganz Fürchterliches für mich. Und dann kam trotzdem dieser Brief. Also das ist etwas, woran ich mich sehr erinnern muss.
Ich hatte auch als junger Mensch viele schöne Erlebnisse beim Bergsteigen. Ich bin nachher auch sehr gerne in die Berge gegangen und habe schwierige Touren gemacht. Angefangen so mit 18, 19 Jahren von Sankt Blasien aus. Ein weiteres schönes Erlebnis war, nachdem ich geflüchtet und desertiert war, dass ich noch nach Hause gekommen bin. Das habe ich auch nie vergessen. Also solche Erlebnisse habe ich als junger Mensch gehabt.
Aber ich hatte auch schlechte Erlebnisse. November 1944, ich war in Spaichingen und habe Billard gespielt. Und ich habe zum Fenster rausgeguckt und habe meinen Vater gesehen. Er war zufälligerweise auf Urlaub. Er kam vom Rathaus und ich habe gesehen, dass irgendwas vorgefallen ist. Er sah ganz anders aus, ganz verändert. Eine Stunde später kam ich nach Hause. Man hatte ihm im Rathaus gesagt, dass mein Bruder gefallen war. Das habe ich meinem Vater durch das Fenster angesehen.
Dann habe ich noch etwas ganz Fürchterliches erlebt. Deshalb waren Rechtradikale und Nazis mein ganzes Leben hindurch für mich kompromissunfähig, bis zum heutigen Tag will ich mit diesen Leuten nichts zu tun haben. Das Konzentrationslager Schönberg bei Barlingen hatte eine Dependenz zu dem in Spaichingen, wo wir wohnten. Sie mussten arbeiten und dort eine Lagerhalle bauen, und das im Winter 1944/45. Entschuldigung, dass ich das Ihnen so erzähle.
Ich weiß jetzt nicht, was in dem Konzentrationslager vorgefallen ist. Jedenfalls ist etwas in dem Konzentrationslager vorgefallen, da war wahnsinnige Unruhe, vielleicht hat einer irgendeinen Apfel geklaut. Und dann haben die die drei Leute an Weihnachten bei -8, -9 Grad – damals war es wirklich noch kalt – nackt an einen Pfahl gebunden und mit Wasser übergossen. Die Schreie der Leute haben wir zwei bis drei Stunden in der Stadt hören müssen. Das ist auch etwas, was mich bis auf den heutigen Tag erschüttert, und ein Beweis dafür, wozu Menschen fähig sind, wenn sie von einer Ideologie verdorben sind.
Das ist auch heute noch so, ob das jetzt die Islamisten sind oder andere Psychopathen, die dann solche Verbrechen begehen und Leute foltern und quälen. Das ist überhaupt etwas, wogegen ich immer gekämpft habe, gegen die Folter – ich bin Mitglied im Beirat des Kuratoriums „Überleben – Stiftung für Folteropfer“ in Berlin. Sowas findet ja immer noch statt, während wir hier sitzen, werden Tausende von Menschen gefoltert, und das sind ganz schlimme Vorgänge.
In vielen Ländern gibt es offizielle Foltermethoden, darunter allein in Syrien 36. Dies war mit ein Grund, warum viele gegen das Assad-Regime in Opposition gegangen sind und eine Revolution machen wollten. Dann haben plötzlich die Islamisten sich mit diesen Rebellen verbündet. Und die Islamisten haben selbst die schlimmsten Folterungen begangen, deshalb ist das alles so schwierig und durcheinander.
In Syrien, auf der einen Seite das Assad-Regime und auf der anderen Seite haben wir die Rebellen, und die Rebellen sind teilweise echte Demokraten. Und dann gibt es wieder Islamisten, die aber auch gegen Assad sind. Und der Assad wird unterstützt von den Schiiten, also dem Iran. Die Rebellen sind zum Teil Sunniten und die werden finanziert und unterstützt von Saudi-Arabien. Deswegen ist das fast ein unlösbares Problem, das wir in Syrien haben, weil da Mächte und Kräfte vorhanden sind, die gegensätzlich sind und die – ich sag mal – ihre Ideologien auf dem Gebiet von Syrien austoben und gegeneinander um die Herrschaft im Nahen Osten kämpfen.
Das habe ich Ihnen jetzt erzählt, weil Sie gefragt haben nach einem schlimmen Erlebnis. Ich bin bei der Folter gelandet, aber das war eben ein schlimmes Erlebnis mit den KZ-Häftlingen, die dort erfroren sind. Und deren Schreie, die höre ich heute noch.
Lea Ella Woick: Wie haben Sie die Nacht des Mauerfalls erlebt? Wie war für Sie der Mauerfall persönlich?
Dr. Heiner Geißler: (lacht) Ein großer Sprung. Ich war zu einem Vortrag in der Schweiz und hab‘s im Radio gehört. Ich war Bundestagsabgeordneter und bin dann sofort ins Parlament und dann nach Berlin. Das war natürlich auch ein großartiges Erlebnis, womit man schon gerechnet hat, aber erst seit ein paar Wochen und Monaten. Bis Anfang 1989 ist man davon ausgegangen, politisch, dass es ziemlich lange dauern wird, bis die Einheit wiederhergestellt sein könnte.
Wobei man Folgendes sehen muss: Die Deutsche Einheit kam vor allem zustande durch einen Menschen, vielleicht zwei: aber nicht Helmut Kohl. Das war Gorbatschow. Ohne Gorbatschow wäre die Deutsche Einheit nie zustande gekommen, aber der Gorbatschow hat ja mit Glasnost und Perestroika selber (…) die Öffnung und die Liberalisierung betrieben.
Und der hat gesehen, dass es auf die Dauer nicht haltbar ist, dass Deutschland geteilt ist, dass Europa geteilt ist. Also Gorbatschow, aber auch der alte Bush, George Bush, der amerikanische Präsident zur damaligen Zeit, der Deutschland auch unterstützt hat bei dem Bestreben, zur Einheit zu kommen. (…)
Lea Ella Woick: Sie haben ja gerade schon Helmut Kohl erwähnt, wir gehen jetzt mal ein bisschen in Richtung Politik: Wie würden Sie die Beziehung zwischen Ihnen und Helmut Kohl beschreiben?
Dr. Heiner Geißler: Ja, ich habe gar keine Beziehung zu ihm. Ich habe keine Beziehung mehr und kann sie deswegen auch nicht beschreiben.
Lea Ella Woick: Okay. Trennen Sie persönlich Politik und Religion voneinander? Also sagen Sie, da ist eine klare Trennung, oder kann man das vereinen?
Dr. Heiner Geißler: Das kann man nicht so vereinen, wie der Islam es macht. Im Islam ist Staat und Religion eine Einheit. Um es etwas deutlicher zu sagen, die Gesetze der Religion sind auch gleichzeitig die Gesetze des Staates. Das ist die Scharia und das ist völlig verkehrt. Die Moralvorstellungen einer Religion kann man nicht für alle Menschen in einem Staat verpflichtend machen, weil in einem Staat, der demokratisch sein will, es eben unterschiedliche Glaubensrichtungen geben kann, und da kann nicht eine Glaubensrichtung bestimmen. Also meine religiösen Vorstellungen müssen vom Staat auch durchgesetzt werden. Dass man die Scharia wörtlich nimmt und Dieben die Hand abgehauen wird, Ehebrecherinnen gesteinigt werden und solche Sachen, das kommt natürlich überhaupt nicht infrage.
Aber natürlich hat die Religion etwas mit Politik zu tun, wenigstens nach meiner Meinung. Christlich demokratische Union nennt sich meine Partei, christlich demokratische Union. Es wäre ein Fehler, wollte man deswegen das Evangelium eins zu eins umsetzen in die Politik. Das Evangelium kann nicht einzelne Anweisungen geben für die Politik. Aber das Evangelium gibt uns ein Bild vom Menschen, und dieses Bild vom Menschen unterscheidet sich eben von den Menschenbildern anderer Philosophien, Theologien und Ideologien.
Marx, der hat einmal gesagt, der Mensch, wie er geht und steht, sei nicht der eigentliche Mensch, sondern er müsse das richtige gesellschaftliche Bewusstsein haben. Die Nazis haben gesagt, er müsse der richtigen Rasse angehören, um ein richtiger Mensch zu sein. Die Nationalisten sagen, er müsse zum richtigen Volk gehören, am besten natürlich zum deutschen Volk, sonst könne man die Häuser anzünden, die Unterkünfte zerstören und die Leute mit Baseball-Schlägern totschlagen oder durch eine Glastür jagen, wo sie dann verbluten, weil es eben keine Deutschen sind. Oder Fundamentalisten sagen, der Mensch muss die richtige Religion haben, sonst wird er ausgepeitscht, wie in Saudi-Arabien oder wie bei uns vor 400 Jahren auf dem Scheiterhaufen verbrannt.
Und wieder andere Fundamentalisten sagen, der Mensch darf ja nicht das falsche Geschlecht haben, darf ja keine Frau sein. Sonst ist er von vornherein ein Mensch zweiter Klasse. Das ist die wohl am weitesten verbreitete negative Kategorisierung eines Menschen: die Diskriminierung der Frauen. Weltweit die größte Menschenrechtsverletzung, die es gibt. Drei Milliarden Menschen auf dieser Welt sind Frauen. Es gibt keinen Bevölkerungsteil, der mehr diskriminiert und entrechtet wird. Man darf doch nicht von unseren Verhältnissen hier ausgehen, obwohl das hier auch noch nicht ganz in Ordnung ist. Aber in alten islamischen Ländern, im Hinduismus hat die Frau wirklich viel weniger Rechte als Männer und sind Freiwild auch für die Männer, sie werden nicht geschützt vom Staat. Also was mit den Frauen passiert auf dieser Erde, ist eine absolute Katastrophe.
Und jetzt kommt das Grässliche zum Tragen: Diese falschen Menschenbilder waren die Ursachen für die schlimmsten Verbrechen, die die Menschen begangen haben. Wenn jemand zu einer falschen Kategorie gehörte, da wurden er liquidiert, vergast, zu Tode gefoltert, gesteinigt oder sonst wie ums Leben gebracht.
Und deswegen ist die Frage nach dem richtigen Menschenbild die richtige Frage, die richtige politische Frage: Welches Menschenbild haben wir für unsere Politik? Und dieses Menschenbild, das bekommen wir vom Evangelium. Der Mensch ist in seiner Würde unantastbar, und zwar unabhängig davon, wo er geboren ist, welche Hautfarbe er hat, zu welcher Nation er gehört, ob er Mann oder Frau ist, wobei gerade das Letztere in der katholischen Kirche immer noch nicht so ganz hundertprozentig funktioniert. Darüber haben wir vorhin schon geredet.
Aber dieses Menschenbild, das muss die Grundlage der Politik sein, und die Erkenntnis, dass der Mensch ein Sozialwesen ist, dass der Mensch auf andere Menschen angewiesen ist. Keiner von uns, auch nicht der stärkste Neoliberale, hat sich nach seiner Geburt selber gefüttert. Er war zum Überleben auf die Mitwirkung anderer Leute angewiesen – so will ich es mal ausdrücken. Das ist bis auf den heutigen Tag so. Das heißt, wir haben auch die Pflicht, denen zu helfen, die in Not sind.
Das ist ein Ergebnis auch zum Beispiel in der Geschichte des Samariters, wo der Priester vorbeiläuft, auch der Levit (Tempeldiener) und beide den ausgeraubten Mann da an der Straße liegen lassen. Und dann kommt der Mann aus Samaria und versorgt den Verletzten medizinisch, bringt ihn in ein Hotel und gibt dem Wirt sogar noch Geld. Und jetzt fragt Jesus den Pharisäer, der ihn gefragt hat, „Wer ist denn der Nächste?“: Wer von den Dreien war der Nächste für den Überfallenen? Wir denken ja immer, der Überfallene ist unser Nächster. Jesus hat was anderes gemeint: Dass wir, alle miteinander, die Nächsten sind für diejenigen, die in Not sind.
So, und deswegen gibt es den Sozialstaat. Es gibt in Deutschland nicht den reinen Kapitalismus, sondern es gibt die soziale Marktwirtschaft, was immer eine Herausforderung ist. Wo auch immer noch nicht alles vollendet ist, aber wo man eben klarmacht, dass es keine überflüssigen Menschen gibt, sondern dass alle Menschen zu diesem Gemeinwesen gehören und dass wir sie nicht im Stich lassen, auch wenn sie krank sind, wenn sie alt sind, wenn sie behindert sind.
Da würde ich sagen, das ist der Einfluss der christlichen Religion auf die Politik; und das ist auch gut so. Dass sie im Grunde ein ethisches Fundament hat, und deswegen geht es den Deutschen auch besser, wesentlich besser, als vergleichbaren Demokratien. Weil wir keine willkürliche Politik haben, sondern die Gesetze auf einem ethischen Fundament beruhen. In unserer Verfassung, im Grundgesetz ist ja der erste Artikel, das gibt es sonst auf der ganzen Welt nicht, ein Artikel, der sich mit dem Menschen befasst: „Die menschliche Würde ist unantastbar.“
Und dieser Artikel ist unmittelbar geltendes Recht und der kann auch nicht mehr geändert werden, weil, was viele gar nicht wissen, im Artikel 79 Absatz 3 steht, dass keine irgendwie geartete Mehrheit im Bundestag oder im Bundesrat diesen Artikel 1 abschaffen kann. Den kann man nicht mit hundertprozentiger Mehrheit beseitigen. Also das ist, sagen wir mal, insoweit ein religiöses Fundament, das wir in der Bundesrepublik haben. Da werden wir auf dieses Menschenbild nicht reduziert, sondern richtig definiert.
Martina Poets: Gab es vielleicht auch jemals Entscheidungen, die Sie treffen mussten, in der Politik, gegen diese moralischen Grundsätze, also gegen Ihre christliche Überzeugung? Weil Sie vielleicht unter Druck gesetzt wurden oder aus einer Notwendigkeit heraus?
Dr. Heiner Geißler: Also, ich selber habe an keiner Entscheidung mitgewirkt gegen dieses Menschenbild, aber ich habe nicht immer mich einsetzen können, um zukünftige Gesetze besser zu machen. Das ist ja ein langsamer Aufbau gewesen.
Am Anfang hat man was tun müssen für die Kriegsopfer, da ist die Kriegsopferversorgung gekommen. Und deswegen waren gleichzeitig noch immer die Familien benachteiligt. Dann kam die Familienpolitik, dann hat man zudem irgendetwas für die alten Leute machen müssen, die Rentenversicherung, die Krankenversicherung, die Sozialhilfe, weil es Menschen gibt, die keine Versicherungen haben und auch keine Arbeit, das Arbeitsrecht, die Arbeitslosenversicherung. Das ging immer so schrittweise voran, und da kann man natürlich auch sagen: „Ihr hättet ja auch ein bisschen schneller machen können.“ Das ist auch richtig. Aber das war in den zurückliegenden sechzig Jahren eben nicht auf einmal zu machen, das muss man auch sagen.
Ich habe auch schon gegen die eigene Fraktion gestimmt. Zum Beispiel bei der Ausländergesetzgebung habe ich gegen meine Partei gestimmt und der SPD zugestimmt.
Oder beim Einwanderungsgesetz und bei der doppelten Staatsbürgerschaft habe ich meiner Partei widersprochen, und die CDU hat bis jetzt auch nie einen Antrag eingebracht, die doppelte Staatsbürgerschaft abzuschaffen. Aber jetzt kommen die auf die Idee, möglicherweise jetzt was dagegen zu tun. Also gegen dieses Menschenbild habe ich nie gestimmt, aber ich hätte natürlich vielleicht auch öfter mal noch schnellere Initiative ergreifen können, das ist schon wahr.
Martina Poets: Gab es aus Ihrer heutigen Sicht heraus vielleicht auch Fehlurteile, die Sie oder wo Sie eine Situation falsch eingeschätzt haben und daraus vielleicht ein Fehlurteil getroffen haben?
Dr. Heiner Geißler: Naja, bei einer Entscheidung habe ich die Auswirkungen nicht so ganz übersehen. Es gab ja immer die Debatte bei der Sozialhilfe: „Wer soll es eigentlich machen?“ Also, dass wir kranke Menschen nicht am Straßenrand sterben lassen können, so wie es heute noch in vielen Ländern der Fall ist, wenn sie krank sind, das war allgemeine Überzeugung. Wenn die Leute krank sind, dann sterben die halt, ohne dass ihnen geholfen wird. So war das in Amerika vor Barack Obama und seiner Gesundheitsreform.
Martina Poets: Obamacare.
Dr. Heiner Geißler: Ja. Millionen von Amerikaner bekamen erstmals eine Krankenversicherung, und jetzt wollen die Idioten das wieder abschaffen.
Bei uns ging es aber nun darum, wer soll es nun eigentlich machen? Es gab mehrere Möglichkeiten: Die Krankenversorgung, so ist eigentlich die richtige Auffassung, muss ja nicht unbedingt vom Staat gemacht werden, sondern das können auch Private machen, deswegen haben wir ja private Ärzte. Das ist aber auch wieder etwas fragwürdig, denn ohne gesetzliche Regelungen macht halt jeder Arzt das, was er mag, und der eine macht es halt gut und der andere halt nicht so gut, was wieder zu Lasten der Patienten geht.
Also wir sagen mal: die Konzeption der CDU war, dass die Krankenversorgung eine öffentliche Aufgabe ist. Das ist was anderes als eine staatliche Aufgabe, das ist das, was die Gesundheitsämter machen. Aber eine öffentliche Aufgabe, die auch von Privaten oder von freigemeinnützigen Einrichtungen erfüllt werden kann, also zum Beispiel von den Kirchen, ohne dass allerding dadurch die Krankenversorgung zu einer Privatangelegenheit wird. Das ist sie aber nicht, weswegen alle Ärzte Mitglieder einer Kassenärztlichen Vereinigung sind.
Die Krankenversorgung, die Krankenpflege ist lange Jahre hindurch fast ausschließlich getragen worden von der Caritas, von der Diakonie, vom Roten Kreuz, vom Samariterbund, also von freigemeinnützigen, man kann sagen kirchlichen Organisationen.
Jetzt kamen die Liberalen, und die haben gesagt, dieses Privileg bei der Sozialhilfe, bei der ambulanten Krankenpflege und Altenpflege zum Beispiel durch kirchliche Organisationen ist nicht in Ordnung. Wir brauchen auch private Pflegeinstitute. Das ist in den 90er-Jahren von den Liberalen, die zu diesem Zeitpunkt mit der CDU in einer Koalition waren, so verlangt worden, und nach einigen Debatten, das muss ich sagen, hab ich dem auch zugestimmt und hab eben erst später feststellen müssen, dass es ein Fehler war. Es war ein Fehler. Die Privatisierung der Krankenpflege und Altenpflege ist ein Fehler gewesen, unter dem wir heute noch zu leiden haben. So etwas zum Beispiel ist mir auch passiert.
Andreas Scheepker: 1982 der Wechsel sozusagen von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl, in der Zeit machte ich Abitur, ist angekündigt worden als „die Wende“. Würden Sie jetzt, im Abstand von so vielen Jahren, sagen, dass es diese Wende wirklich gab? Hat sie unsere Gesellschaft verändert? Geistig, moralisch. Würden Sie das heute auch noch so sagen?
Dr. Heiner Geißler: Also ich würde nicht sagen, es sei eine geistig-moralische Wende gewesen, aber dass gar nichts passiert wäre, kann man auch nicht sagen. Denn damals war ja auch eine ganz entscheidende Frage, die auch in der evangelischen Kirche und in der katholischen Kirche, auch in Jugendorganisationen eine große Rolle gespielt hat, nämlich die Frage der NATO, der Nachrüstung. Die SPD hatte noch unter der Kanzlerschaft von Helmut Schmidt beschlossen, bei dieser Nachrüstung nicht mitzumachen.
Was war das, Nachrüstung? Es gab ja die Atomraketen, und da gab es Raketen auf beiden Seiten, im Osten und im Westen, mit einer unterschiedlichen Reichweite. Das ist ganz interessant. Die Amerikaner und die Russen hatten beide Langstreckenraketen. Die konnten also von, sagen wir mal, Moskau aus nach Chicago schießen und dort eine Atombombe zur Explosion bringen. Die Amerikaner hatten auch Langstreckenraketen und konnten von San Francisco aus Moskau angreifen. Dadurch war klar, die Langstreckenraketen kommen nie zum Einsatz, weil die eine oder andere Seite sofort mit einem Gegenschlag geantwortet hätte.
Dann gab es Kurzstreckenraketen mit einer Reichweite von ein paar hundert Kilometern. Die hatten die Engländer und die Franzosen. Da waren wir (die Deutschen) froh, dass die nie losgegangen sind. Die hätten möglicherweise nicht in Warschau oder in Moskau getroffen, sondern wären in Hamburg oder sonst wo runtergegangen. Wir haben also den Kurzstreckenraketen nicht getraut.
Nun hatten die Russen, die Sowjets aber einen Vorteil. Die hatten nämlich so genannte Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 3.000, 4.000 Kilometern, und die konnten von Smolensk aus Hamburg oder Paris angreifen. Solche Raketen hatte die NATO nicht. Wir hatten keine Mittelstreckenraketen. Das war eine Gefahr durch das dadurch entstandene Ungleichgewicht. Hätten die Russen ihre Mittelstreckenraketen eingesetzt und damit Hamburg, Bonn oder Paris angegriffen, dann hätten wir nicht antworten können mit Mittelstreckenraketen gegen Moskau und Smolensk. Wir hätten also, um diese Mittelstreckenraketen abwehren zu können, den Amerikanern zumuten müssen, mit Langstreckenraketen Europa zu verteidigen. Dies hätte zur Folge gehabt, dass möglicherweise die Sowjets mit Langstreckenraketen die USA angegriffen hätten.
Deswegen haben wir gesagt – der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt hat das gesagt -, um dieses Dilemma zu beseitigen, braucht die NATO auch Mittelstreckenraketen. Das waren die sogenannten Pershings. Um diesen Beschluss ist damals gestritten worden in der Friedensbewegung. Sollen wir nachrüsten?
Es war also ein gewisser Nachrüstungsbeschluss im Gespräch, der zum Inhalt hatte, dass die NATO 1978 den Sowjets gesagt hat, wir geben euch Zeit bis Ende 1983, eure Mittelstreckenraketen abzubauen. Solange rüsten wir nicht auf. Das haben die dann auch tatsächlich getan. Das heißt, bis Ende 1983 sind die Mittelstreckenraketen der Sowjets abgebaut worden, und deswegen war eine Nachrüstung nicht erforderlich, aber das war eben 1980, 81, 82, als die CDU an die Regierung kam, noch nicht klar. Und dies würde ich also schon zur geistig-moralischen Wende rechnen, dass die CDU gegen schwerste Widerstände im Inneren Deutschlands – große Teile der evangelischen Kirche, teilweise auch der katholischen Kirche, der Gewerkschaften, der anderen politischen Parteien waren gegen die Nachrüstung – als einzige Partei das Richtige getan hat. Was auch später zugegeben worden ist. Das war sicher eine Wende. Das heißt, wir haben die NATO gestützt und auch gerettet: das wichtigste Bündnis, das wir in der Weltgeschichte und in der Nachkriegszeit gehabt haben.
Unter Helmut Schmidt hatten wir die größte Wirtschaftskrise seit der Währungsreform, und diese Krise ist auch überwunden worden durch eine ganze Reihe von Gesetzen. Ich war damals Bundesminister für Jugend, Familie und Gesundheit. Wir haben damals eine moderne Frauengesetzgebung in Gang gesetzt, das Erziehungsgeld, welches heute weiterentwickelt worden ist, der Kündigungsschutz für berufstätige Frauen, die ein Kind bekommen, und denen nicht mehr gekündigt werden konnte. Wenn sie beim Kind geblieben sind, drei Jahre, dann musste der Unternehmer eine Ersatzkraft einstellen. Oder auch die Anerkennung von Erziehungsjahren in der Rentenversicherung. Das sind zum Beispiel drei ganz wichtige Gesetze gewesen, dass man gesagt hat, die Arbeit in der Familie, egal wer sie ausübt, ob Mann oder Frau, ist mindestens genauso wichtig wie die Arbeit mit Maschinen. Es sind noch viele andere Gesetze erlassen worden, also es gab schon eine wichtige Weiterentwicklung, man kann jetzt auch sagen: Wende. Es ist vieles nach vorne gekommen, und vor allem waren wir in den 80er-Jahren wirtschaftlich so stark geworden, dass wir die Wiedervereinigung finanzieren konnten. Das war schon eine wichtige Voraussetzung.
Es haben ja damals alle gesagt, das müssen wir den Deutschen erst mal nachmachen. Das waren ja völlig unterschiedliche Wirtschaftssysteme, die da von heute auf morgen zusammengekommen sind. Finanziell haben wir das zwar verkraftet, aber wir haben es politisch, wirtschaftspolitisch falsch gemacht und die „Treuhand“ eingesetzt. Anstatt die maroden Betriebe in der ehemaligen DDR zu sanieren und weiterzuführen, so wie das Ludwig Erhard mit den demontierten Betrieben im Ruhegebiet gemacht hatte, die auch völlig kaputt waren, hat man dieses Industriegebiet in der DDR praktisch beseitigt. Das wurde privatisiert, filetiert kann man sagen, dereguliert mit der Folge von zwei Millionen Arbeitslosen. Als Folge dieses schweren wirtschaftspolitischen Fehlers, der erst langsam, langsam abgebaut wird, erhalten die Nachfolgeorganisationen der SED 25, 30 Prozent Zustimmung in den neuen Bundesländern.
Die Löhne in der DDR sind immer noch ein bisschen niedriger als in Westdeutschland, und das alles ist die Folge von politischen Fehlentscheidungen. Das muss man auch sagen. Aber bis 1989, das war ja Ihre Frage, Übergang von Helmut Schmidt zu Helmut Kohl, sind die Voraussetzungen dafür geschaffen worden, dass wir marktwirtschaftlich überleben konnten.
Andreas Scheepker: Wenn ich das noch weiterführen darf: Sie würden sagen, wenn Sie noch einmal jung wären, würden Sie anders entscheiden als Erika Steinbach, Sie würden heute auch wieder in die CDU eintreten?
Dr. Heiner Geißler: Ja, natürlich!
Andreas Scheepker: Entsetzt Sie so ein Statement? Wenn so eine gestandene Politikerin, die ja auch nicht mehr blutjung ist, sich öffentlich so mittteilt, schockiert Sie das? Oder sehen Sie das gelassen? Das hat in der Öffentlichkeit ja eine enorme Signalwirkung gehabt.
Dr. Heiner Geißler: Also, das hat mich weiter nicht erschüttert, weil ich das gewusst habe. Erika Steinbach hatte schon seit Jahren nicht mehr in die CDU gepasst. Das hat sie ja ausdrücklich so gesagt, dass sie wegen der Flüchtlingspolitik aus der Partei austritt. Sie hat ja auch gegen die Oder-Neiße-Grenze gestimmt, der Folge des verlorenen Krieges der Nazis. Die Russen haben ihre Grenze nach Westen geschoben, und dafür haben die Polen dann Teile von Deutschland bekommen, Schlesien und Teile von Pommern. Das kann man für falsch halten, das ist richtig, aber das kann man nicht wieder zurückdrehen.
Das ist eben die Folge, wenn ein Land wie Deutschland unter der ideologisch katastrophalen Führung der Nazis mit der ganzen Welt einen Krieg anfängt. 50 Millionen Menschen sind ums Leben gekommen als Folge dieser Kriegserklärung Deutschlands damals an Polen und Frankreich. 50 Millionen, davon 20 Millionen sowjetische Bürger. Wenn von so einem Land eine solche Katastrophe ausgeht, dann muss auch irgendwo die Rechnung gezahlt werden. Und der Krieg, den die Deutschen angefangen haben unter der Naziführung, ist eben verloren. Das war dann die Konsequenz, dass wir diese Gebiete verloren haben.
Erika Steinbach wollte das auch immer wieder rückgängig machen. Das war völlig unmöglich. Wir haben eine ganz andere Philosophie. Deswegen sind wir ja gegen den Putin gewesen und der Krim. Natürlich ist die Krim eher russisch als ukrainisch, das ist wahr. Aber als eine Folge der Nachkriegsentwicklung hat nicht Gorbatschow, sondern das hat Chruschtschow schon gemacht, die Krim der Ukraine zugeordnet.
Wir haben gesagt, Kriege sind früher immer dadurch entstanden, dass es Grenzauseinandersetzungen gegeben hat. Elsass, Lothringen und so weiter und so fort. Und dann auch im Verhältnis zu Polen und Oberschlesien. Das muss ein Ende haben, das war auch eine Erkenntnis aus 1945, etwas, was heute ganz wichtig ist. Aber wir haben gesagt, wir verschieben oder verändern die Grenzen nicht mehr. Das hat man in Europa vereinbart. Wir verändern die Grenzen nicht mehr, sondern wir machen die Grenzen überflüssig.
Wir schaffen die Grenzen ab, so dass die Grenzen keine Bedeutung mehr haben. Und deswegen kann man heute bei mir von Zuhause von Wörth nach Neulauterburg ins Elsass fahren, ohne dass überall ein Polizist steht oder ein Zollbeamter. Das ist die Freizügigkeit in Europa, die jetzt leider Gottes wieder modifiziert wird wegen der Flüchtlingsauseinandersetzung. Aber das war die Idee, keine Grenzen mehr verschieben, und das hätte eben auch für den Putin gegolten, der die Krim praktisch besetzt hat. Die Grenzen nicht mehr zu verschieben, sondern zu überwinden ist natürlich die viel bessere Philosophie.
Martina Poets: Sehen Sie diese Idee in Gefahr heutzutage aufgrund der aktuellen politischen, terroristischen Bedrohung?
Dr. Heiner Geißler: Die Gefahr ist da, und durch Neonationalisten wie Le Pen und AfD leider Gottes wieder zu einem Thema geworden. Dass Grenzen keine Bedeutung mehr haben sollen, das war eigentlich Allgemeingut. Durch die Flüchtlingsfrage kommt von bestimmten politischen Richtungen her wieder die Forderung: Wir müssen wieder die Grenzen sichern, leider Gottes auch von der CSU. Und es ist auch wieder zu einem Thema geworden, dass man Grenzkontrollen einführen muss heute, in einem begrenzten Umfang, eben als Folge dieser globalen Flüchtlingsbewegung. Leider Gottes, muss ich sagen.
Was man im Grundsatz nicht verändern darf: die Grenzkontrollen, die jetzt eingeführt werden, sind alle zeitlich begrenzt. Die gelten mal für ein Vierteljahr oder auch für einen Monat länger, auch in Österreich, also bei den EU-Staaten. Also im Prinzip gilt es nach wie vor, aber es ist im Moment ein Thema, das ist richtig.
Und deswegen kommt es drauf an, dass man das Problem der Flüchtlinge richtig löst. Das kann man nicht dadurch, dass man wieder Grenzen aufbaut und Zäune errichtet oder Mauern baut, sondern man muss die Ursachen beseitigen für diese 60 Millionen Flüchtlinge. Das ist eine ganz entscheidende Frage, und das kann man auch, wenn man nur will, und dann eben eine Konzeption machen, wenn alle mitmachen.
Die Flüchtlinge zum Beispiel, die wir 2015 bekommen haben, die nachher schwer angegriffen worden sind, wie sind die entstanden? Es sind im Wesentlichen Flüchtlinge aus Syrien gewesen, zwei Millionen in den Flüchtlingslagern in Jordanien, eine Million in der Türkei. 1,5 Millionen im Libanon. Und die UNO hatte für diese Flüchtlingslager Hilfe beschlossen. Pro Familie 5 Dollar. Die UNO konnte das nach einer bestimmten Zeit nicht mehr bezahlen. Warum? Weil die übrigen Völker und Länder, einschließlich Saudi-Arabien und Iran, nicht wir Deutschen, aber auch andere europäische Länder, ihre Verpflichtung für die Flüchtlingshilfe der UNO gegenüber nicht mehr erfüllt haben. Dann wurden diese Sätze halbiert, zum Schluss auf einen Drittel gesenkt. Davon konnten die Leute in den Flüchtlingslagern in Jordanien und in der Türkei nicht mehr leben. Sie sind verhungert, und keine Schulen für die Kinder konnten finanziert werden. Und dann sind die ersten losgezogen und sind nach Europa über die Balkanroute. Das muss man sehen.
Wenn wir von Anfang an in der Lage gewesen wären, den Menschen in den Flüchtlingslagern ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen, ihren Kindern die Schulen zu ermöglichen und dafür zu sorgen, dass sie was zu essen haben, auch einen Job zu vermitteln, dann wäre diese ganze Flüchtlingssituation nicht entstanden.
Was die Flüchtlinge aus Afrika betrifft. Afrika ist der reichste Kontinent der Erde. Da gibt es alles: Gold, Silber, Mangan, Kupfer, Uran, seltene Erden. Es gibt nichts, was es dort nicht gibt. Und diese Schätze gehören eigentlich den Menschen, die dort wohnen, aber sie werden ausgebeutet von zehn internationalen Konzernen, darunter zwei chinesische, die mit ihren Geschäften die Profite machen, und die Leute haben nichts davon. Oder nur sehr wenige haben etwas davon, nämlich die Oligarchen, diejenigen, die korrupte Regierungen bilden.
Deswegen muss man die wirtschaftlichen Probleme in Afrika lösen. Auch die Europäer müssen sich daran halten. Im Senegal sind die Gemüsemärkte bestückt mit bis zu 80% holländischen Tomaten und holländischen Gurken und wir machen mit diesen Exporten die Existenzgrundlagen vieler Afrikaner kaputt. Das muss ein Ende haben. Wir können was für die Ursachen dieser Flüchtlingsbewegung. Kein Mensch verlässt gerne und freiwillig seine Heimat. Das können wir beenden.
Aber wir brauchen ein Konzept. Wir brauchen den politischen Willen, den wir in Deutschland haben bei den politischen Parteien, die Mehrheit zumindest mit CDU, SPD, den Grünen. Aber die anderen müssen eben noch dafür gewonnen werden. Das ist die jetzige Situation. Den Flüchtlingen ist ja auch mehr geholfen, wenn man dafür sorgt, dass sie dort, wo sie ihre Heimat haben, auch eine sichere Existenz haben. Das sollte das Ziel der Politik sein. Und wir haben bereits Fortschritte gemacht. Das ist gar keine Frage.
Simon Bohlen: Mich würde dann einmal interessieren, was Sie von Donald Trump halten, und wie Sie die Zukunft der USA sehen?
Dr. Heiner Geißler: Also auch ich muss mich ein bisschen zügeln, denn wenn es um diesen amerikanischen Präsidenten geht, der auch keine Mehrheit gehabt hat in den USA, denn 2,8 Millionen mehr haben Hillary Clinton gewählt. Das Mehrheitswahlrecht ist nun mal so, und das muss man als Demokrat auch akzeptieren. Es ist einer Präsident geworden, der lügt, der betrügt, der keine Steuern bezahlt, der gegen Ausländer hetzt, der Frauen diskriminiert, um ein paar Beispiele zu bringen, also eigentlich eine Katastrophe. Da hat Meryl Streep völlig recht, die bei der Verleihung des Golden Globe eine Rede gehalten und gesagt hat, wenn man prominent genug ist, dann kann man Frauen unter den Rock greifen und man muss keine Steuern bezahlen. Dann gibt es natürlich Zehntausende von Leuten, die sagen, wenn der das sagt, dann machen wir das auch. Das ist die eigentliche Gefahr: das falsche Vorbild.
Da gibt es zweierlei zu sagen. Erstens einmal, es gibt entweder heute oder gestern in der FAZ die Besprechung eines sehr guten Buches einer Soziologin über die soziale und ökonomische Situation der Trump-Wähler in Louisiana, Alabama, hauptsächlich in den Südstaaten, wo sehr viele Trump-Wähler gelebt haben und immer noch leben. Es stellt sich tatsächlich eben auch als Folge der Globalisierung heraus, dass immer mehr Menschen ihren Arbeitsplatz verloren haben und sich ausgeschlossen fühlen, abgehängt sind von der übrigen Entwicklung, vor allem der Leute an der Ostküste, der mittlere Westen und der Süden nicht mehr mitgenommen werden von den positiven Effekten der Globalisierung.
Andreas Scheepker: Sehr geehrter Herr Dr. Heiner Geißler, wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch, und wir bedanken uns, dass Sie sich so viel Zeit für uns genommen haben.
Dr. Heiner Geißler: Gern.