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Gegen die Sprachlosigkeit: Sich mit Worten zur Wehr setzen
Das politische Kabarett ist keine Schönwettereinrichtung

Interview mit Dieter Hildebrandt am 17. Februar 2005 in Bonn

Sarah Casto und Silvia Poppen vom Gymnasium Ulricianum und Hagen Wittig vom Fachgymnasium der BBS II Aurich, betreut von ihren Deutschlehrern Gudrun Kihm und Helmut Ubben, interviewten den Kabarettisten Dieter Hildebrandt anlässlich der Vorstellung seines neu erschienenen Buches „Ausgebucht – Mit dem Bühnenbild im Koffer" im Pantheon-Theater in Bonn.

Gruppenfoto mit Dieter Hildebrandt, 26 k

Dieter Hildebrandt, Sarah Casto, Hagen Wittig und Silvia Poppen (v. l. n. r.)

In dem Interview zeigte sich der Meister der Satire und Ironie als offener Gesprächspartner, der die Fragen der OberstufenschülerInnen ernst nahm. Er sprach vor seinem Auftritt über sein Selbstverständnis als Kabarettist, den politischen und moralischen Auftrag von Kabarett und sparte auch nicht an Kritik an den kulturfeindlichen Fernsehverantwortlichen, die kritische Sendungen der seichten Tele-Alltagskost opfern.

Die Buchvorstellung empfanden nicht nur die SchülerInnen aus der ostfriesischen Provinz als ein Erlebnis der besonderen Art, sondern auch die 300 Gäste, die nicht genug von Hildebrandts geistreichen Kommentaren zu den Geschehnissen in Politik und Gesellschaft bekamen. Angekündigt als „Lesung" entpuppte sich der Abend in dem vollbesetzten Theater als kabarettistisches Event, pardon, Ereignis. Denn gewohnt sprachwitzig machte Hildebrandt natürlich auch die Denglisierung und Verballhornung der deutschen Sprache zum Gegenstand seiner bissigen Kritik. Er verwandelte sein Buch in eine lebendige Kabarettvorstellung.

„Ausgebucht" heißt der Titel des soeben erschienen Buches, in dem Dieter Hildebrandt seine Erfahrungen und Erkenntnisse während seiner vielen Reisen mit der Deutschen Bahn humoristisch pointiert verarbeitet. Ausgebucht sind seit Jahrzehnten auch seine Vorstellungen. Er kommentiert bedenkliche politische Entwicklungen wie zum Beispiel den Großen Lauschangriff, kritisiert die Medien- und Kulturpolitik, Sozial-, Wirtschafts- und Arbeitspolitik, geißelt die Korruption in all ihren Erscheinungsformen, weist mit dem mahnenden Finger auf die Absurditäten des modernen Lebens hin. So wird die Zeitgeistgesellschaft mit ihrer eher harmlosen Schwäche für Lebensberatung ebenso wenig verschont wie die vor allem Bahnreisende nervende Handy-Seuche.

Für die Auricher Gymnasiasten allerdings hatte Dieter Hildebrandt nur freundliche und anerkennende Worte übrig. Angesichts der beängstigenden Bildungsmisere in Deutschland gebe ihm das wache Interesse der Schülerinnen und Schüler aus Aurich Anlass zu Optimismus, so Hildebrandt.

Herr Hildebrandt, in Ihrem neuen Buch, einem autobiografischen Reisebuch, haben Sie immer Probleme mit der Pünktlichkeit der Deutschen Bahn. Kamen Sie wenigstens heute pünktlich mit der Bahn an?

Ich fuhr gestern mit dem Zug von Würzburg nach Köln und natürlich hatten wir Verspätung, 10 Minuten …

Satire lebt von der Übertreibung, die Ironie ist das Werkzeug des Kabarettisten. Sind Ihre Warnungen und Mahnungen wie z. B. vor dem staatlichen Lauschangriff nicht doch etwas übertrieben?

Nein, sie übertreiben leider nie. Die Dinge wachsen leider der Sache nach, sie bahnen sich an. Die Realität holt die Befürchtungen immer wieder ein. Was man heute noch verurteilt und nicht für möglich hält, ist schon seit längerer Zeit eine Tatsache. Die Überwachung der Bürger geschieht ja nur zu ihrer eigenen Sicherheit, wird also mit der Schutzverpflichtung des Staates begründet. Ich habe dem Innenminister mein Misstrauen in einem Brief ausgedrückt. Man muss sich mit Worten wehren.

Sie sind Kabarettist, also Satiriker und Moralist?

Satiriker ist kein Beruf. Das ist keine Berufsbezeichnung. Das Kabarett ist eine Kunstart innerhalb eines Berufes. Ich bin Schauspieler und schreibe satirisch. Mit meinen Texten verbinde ich beides und mache daraus politisches Kabarett, weil mich die Politik interessiert. Moralist ist man zwangsläufig, wenn man sich mit Politik beschäftigt. Besonders die links-liberale Politik hat die Verpflichtung, die Schwachen gegen die Starken zu verteidigen. Die Moral bei der Geschichte ist für Politiker nicht das Wichtigste. Das sehen wir an der Manipulation vieler Politiker durch rhetorische Zynismen.

Sie begleiteten als Zeitzeuge mit stets kritisch-wachsamem Blick die Entwicklungen der Bundesrepublik. Gibt es Personen der Zeitgeschichte, die Ihren satirischen Angriffen besonders ausgesetzt waren?

Ja, an mir sind im Laufe der Jahrzehnte viele vorübergegangen. Keinen würde ich als mein Opfer bezeichnen, aber es drängen sich Personen auf, die man als Material benutzen muss, um jemandem die Führung in der Geisteshaltung anzutragen. Gesinnung wird beschrieben von Leuten, die sie machen. Franz Josef Strauß war der Potenteste. Sein Nachfolger (Stoiber) interessiert mich nicht, und dessen Nachfolger (Söder) interessiert mich auch nicht. Es gibt einige Herausragende an Intelligenz oder dem Gegenteil, der Handlung oder Unhandlung und an Korruptionsbereitschaft. Man muss Namen nennen, das muss der Kabarettist machen. Er kann sich nicht in die Literatur verabschieden – er kann, aber das ist nicht seine Aufgabe.

Es gibt kaum einen Themenbereich aus Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, der ihrem kritischen Auge nicht ausgesetzt wäre. Aus welchen Quellen schöpfen Sie Ihre Ideen?

Aus der Aktualität. Aus der Kenntnis und der Nachfrage, woher dieses oder jenes Phänomen herkommt. Man muss vom Wort her der Sache näher kommen, man muss wissen, welchen Ursprung das Wort hat, ob das Wort denaturiert ist. Die kabarettistische Arbeit ist also auch eine linguistisch-wissenschaftliche Arbeit. Nur über das Wort, über die Hinterfragung eines Wortes nähert man sich der Satire. Außerdem sind fundierte Recherchen unabdingbar. Die Medien, hauptsächlich Radio und Fernsehen, liefern nur Hieroglyphen, also gedanklich stereotype Nachrichten, die es dann mit kritischem Blick und Einsicht satirisch zu verarbeiten gilt.

Wurden Sie schon einmal in den langen Jahren Ihres kabarettistischen Wirkens von einem „Opfer" Ihrer satirischen Attacken wegen Beleidigung vor Gericht verklagt?

Verleumdung von Personen ist eine Todsünde im Kabarett. Allerdings ist das Kabarett auch keine Schönwettereinrichtung. Ich musste mich noch nie einer Klage stellen, weil jeder weiß, dass ich sehr umfassend und tiefgründig recherchiere. Ich erinnere mich nur an einen Fall, als Franz-Josef Strauß gerichtlich gegen mich vorgehen wollte, weil ich den Skandal um den Bau des Main-Donau-Kanals aufs Korn genommen habe. Aber die haben damals ganz schnell zurückgezogen, ich habe selten eine so hilflose CSU gesehen …

Kennen Sie Tabus, Themen, die Sie nicht kabarettistisch verwerten würden?

Es gibt viele Dinge, die nicht zur Satire taugen. Katastrophen wie zum Beispiel die Ereignisse am 11. September 2001 in New York. Innerhalb der ersten acht Tage nach dem Anschlag kam gar kein Gedanke an Kabarett auf, das war zu schrecklich. Oder der Mord an Kennedy, das macht sprachlos. Und Kabarett darf nicht sprachlos sein.

Gibt es heutzutage guten Kabarettistennachwuchs in Ihrem Sinne oder handelt es sich in den so genannten satirischen Fernsehsendungen eher um Klamauk?

Früher stürzte sich das Radio auf das Kabarett, war immer auf der Suche nach neuen Kabarettisten, Radioleute sind da sehr wach. Die den Fernsehleuten übergeordnete Ebene dagegen liebt nicht das Kabarett. Das erkennt man an den radikalen Kürzungen der Kabarettprogramme, an deren Verdrängung in späte Nachtstunden hinein. Welcher Arbeitnehmer, der morgens früh aufstehen muss, hat schon die Zeit, spät in der Nacht noch eine gute kritische Sendung anzuschauen? Das ist eine Kampfansage an das Kabarett - man könnte vor Wut die Wand hochfahren.

Sehen Sie sich heute noch den „Scheibenwischer" an, der ja seit Jahrzehnte mit Ihrem Namen untrennbar verbunden ist?

Aber natürlich. Ich finde meine Kollegen Bruno Jonas, Matthias Richling und Georg Schramm einfach toll, sie sind sehr gute Kabarettisten.

Entspricht Harald Schmidt mit seiner Late-Night-Show Ihren Vorstellungen von politisch-kritischem Kabarett oder ist er eher ein selbstverliebter Gaukler?

Seinem Wesen nach ist er Kabarettist. Irgendwann einmal überholte er sich selbst und kam dann offenbar zu der Meinung, dass politisches Kabarett nicht sein Gebiet ist. Seine Late-Night-Show ist die reine Kopie der amerikanischen Shows. Zynismus ist flächendeckend. Damit packt er sie alle. Wir Kabarettisten sind etwas verlegen, wir möchten kein eigens für unsere Zwecke errichtetes Haus, wo unser Name drauf steht. Auch das ist eine Erfindung der Amerikaner.

Sprechen Sie mit Ihrem politischen Kabarett auch Jugendliche an, oder sind Ihre satirischen Einsichten nur für ein elitäres gebildetes Publikum bestimmt?

Ich habe mich damit abgefunden, dass junge Menschen von der Ironie des Kabaretts noch keinen Gebrauch machen (können), da der Wissenszusammenhang fehlt und ihr Sinn für Ironie noch nicht entwickelt ist. Erst später erfahren sie durch die Literatur, dass man durch Sprache in ein Abenteuer gelockt wird, an die Dinge herankommt und zu Erkenntnissen geführt wird. Wie in der „Harzreise" von Heinrich Heine: Am Anfang steht ein romantisches Bild und am Ende ein Ätsch …

Sie sprechen von einem Abenteuer, in das der Kabarettist sein Publikum durch die Sprache lockt. Es geht doch nicht nur um Sprache.

Die Sprache ist aber das Wichtigste, durch sie werden ja bekanntlich Inhalte transportiert. Die Spracharbeit ist die wunderschönste Arbeit in meinem Metier. Wortspiele bringen einen weiter. Manchmal geht es bis an die Grenze zum Kalauer, aber ich liebe sie.

Kann man den artistisch-virtuosen Umgang mit Sprache lernen oder ist die Sprachbegabung angeboren?

Ich habe mich im Germanistikstudium mit der Sprachwissenschaft beschäftigt. Aber mein inniges Verhältnis zur Sprache habe ich auch im Blut. Schon als Schüler war ich ein wenig berüchtigt. Es gibt unterschiedliche Schülertypen, die Prügler, die Primusse, also Vorzeigeschüler, und die Faulen und Blöden und dann solche Leute wie ich, die aus naiver Spielfreude ihre Schulzeit unverprügelt überstanden haben, die sich durch Worte wehren. Auch schon als Hitlerjunge war ich Mitglied in der „Spielschar“. Während andere exerzierten und marschierten, spielten wir als Laienspieler Theater.

Mischen Sie sich auch nach Ihrem Rückzug aus der Fernsehöffentlichkeit noch ein?

Ich mische mit und ich mische mich nach wie vor ein. Ich bin sogar mehr unterwegs als früher vor meiner Fernsehzeit, im Jahr trete ich an 140 bis 150 Abenden öffentlich auf, wie gestern, heute und morgen Abend auch hier in Bonn. Da begegne ich den Menschen von Auge zu Auge, ich sehe und erlebe ganz nahe die Reaktionen meines Publikums.

Ihr Buch „Ausgebucht“, das von dem Motiv des Reisens, das heißt Ihrer Reisen, lebt, endet mit dem Kapitel „Endstation“. Sie schreiben dort: „Die Endstation ist nahe. (…) Besonders, wenn man das Leben als Reise begreifen möchte.“ Spannen Sie damit den berühmten Bogen zur Lebensbetrachtung eines 78-Jährigen, der das nahende Lebensende vor Augen hat?

Ja, alles was ich geschrieben habe, hat mit meinem Leben zu tun. Das bedeutet allerdings nicht Resignation.

Sie sprachen vorhin davon, dass die Jugendlichen durch die Literatur lernen, den Dingen auf den Grund zu gehen, und den Sinn für Ironie und Satire über die Literatur, also über das geschriebene Wort, entwickeln. Welche Lektüre empfehlen Sie unseren Oberstufenschülern, damit sie lernen, die Zusammenhänge hinter der äußeren Fassade der Menschen, der Dinge und der Ereignisse zu verstehen?

Bei einer Empfehlung kann man ja nur aus dem Reservoir schöpfen, aus dem man selber geschöpft hat. Ich möchte kein Literaturranking angeben, aber die klassischen literarischen Werke wie den Don Quichote und den Simplizissimus sollte man schon gelesen haben, alleine um Krieg zu begreifen. Außerdem natürlich Theodor Fontane, Thomas und Heinrich Mann, Leonhard Frank, Oskar Maria Graf, Robert Neumann, Leon Feuchtwanger, Tilmann Spengler, Primo Levi, nicht zu vergessen die Bücher über die KZs von Imre Kertéz und Jorge Semprún und Jurek Becker. Sehr wichtig ist auch das Buch „Der Schwarm" von Frank Schätzing und selbstverständlich ist „Der Vorleser" von Bernhard Schlink ein Muss.

Seit Ihrem Ausscheiden aus dem „Scheibenwischer" ist zwar Ihre Fernsehpräsenz zurückgegangen, gleichwohl ist Ihre Popularität ungebrochen. Offenbar brauchen wir einen Dieter Hildebrandt, der uns auf den Grund der Dinge und Ereignisse hinweist. Wie ernst kann man Ihre eigene Ankündigung nehmen, dass Ihr gerade erschienenes Reisebuch „Ausgebucht" auch Ihr letztes sein wird? Denken Sie wirklich ans Aufhören?

Dem Fernsehen habe ich Lebewohl gesagt, weil man den Leuten irgendwann auch einmal Schonung gönnen muss. Und das Schrecklichste ist, zum Inventar des Fernsehens zu werden. Ich habe den Eindruck, dass manche Sendungen schon versteckte Nachrufsendungen sind. Ich will nicht mehr zum Material gehören, es ist jetzt Zeit. Allerdings kann man nie ganz aufhören, man kommt niemals ganz zur Ruhe. Den Hang sich zu ärgern verliert man nicht, das ist eine Frage des Temperaments. Und vielleicht ist es ja auch noch nicht mein letztes Buch! Es kann sein, dass ich gelogen habe, vielleicht schreibe ich doch noch was!

Das hoffen wir, denn wir brauchen Sie, Herr Hildebrandt! Vielen Dank für das Gespräch.

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