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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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Grußrede der niedersächsischen Kultusministerin
Elisabeth Heister-Neumann
zur Eröffnung der 19. Auricher Wissenschaftstage
am 30. Januar 2009

– Es gilt das gesprochene Wort –

Anrede,
ich begrüße Sie alle ganz herzlich zu den 19. Auricher Wissenschaftstagen.

Es wundert mich nicht, dass Sie so zahlreich erschienen sind, denn wann hat man schon die Gelegenheit, den Festvortrag eines Nobelpreisträgers zu hören? Zumal dieser auch noch aus dem Forschungszentrum Jülich kommt.

Umso erfreulicher ist es, dass es für die Elite der Wissenschaft zum guten Ton gehört, den Auricher Wissenschaftstagen die Ehre zu erweisen.

Fast ein Dutzend Nobelpreisträger kamen bisher und niemand weiß, wie viele zukünftige schon einmal hier waren, noch kommen werden oder heute unter uns sind.

Immerhin lud Günter Grass – als er noch nicht Nobelpreisträger war – Auricher Schülerinnen und Schüler zu einem inspirierenden, dreistündigen Gespräch in seinen Garten ein.

Die lebendige Atmosphäre eines solchen Gesprächs prägt beide Seiten: den wortgewaltigen Dichter, dem unversehens wesentliche Fragen gestellt werden, und die neugierigen jungen Menschen.

Die lebendige Mischung aus Erfahrung und Neugier ist ein wesentlicher Grund für die große Anziehungskraft der Auricher Wissenschaftstage.

Ein zweiter Grund ist die Auricher Gastfreundschaft, die tief durchatmen lässt, weil die Auricher Luft ja in doppeltem Wortsinn frisch und gehaltvoll ist.

Ein dritter Grund schließlich sind die Initiatoren der beiden beteiligten Auricher Schulen, der Berufsbildenden Schule II und des Ulricianums. Herr Antony, Herr Stracke und Herr Völckner pflegen seit nunmehr 19 Jahren enge Kontakte zu Universitäten und Forschungszentren in aller Welt – von Ostsibirien bis Boston. Und sie knüpfen unermüdlich neue.

Josef Antony und der Vorstandsvorsitzende des Forschungszentrums Jülich, Professor Treusch, initiierten 1989 unter der Überschrift „Wissenschaftler diskutieren mit Schülern“ eine kongeniale Zusammenarbeit.

Sie konnten die Dynamik ihrer Idee wohl zu Beginn nur vage erahnen oder erträumen. Sie wollten Schülerinnen und Schüler für Wissenschaft und Technik sensibilisieren. Sie wollten aufklären, informieren, neugierig machen, werben. Kein leichtes, aber ein eminent wichtiges Unterfangen.

Dementsprechend stand das Thema der ersten Wissenschaftstage 1990 unter dem Motto „Verantwortung in Wissenschaft und Technik“.

An dem Konzept, dass Wissenschaftler ihre Labore verlassen und in die Schulen gehen, dass sie das Gespräch mit Schülerinnen und Schülern suchen, dass sie ihre Arbeit einer interessierten Öffentlichkeit anschaulich darstellen und sich kritischen Fragen stellen, hat sich bis heute nichts geändert.

Die Auricher Wissenschaftstage binden aber nicht nur Wissenschaftler, sondern auch gezielt Unternehmer, Schriftsteller, Journalisten und Politiker in den kritischen Dialog mit ein und machen so deutlich, dass die Wissenschaften nicht isoliert arbeiten, sondern in einem komplexen Geflecht aus ökologischen, ökonomischen und politischen Bedingungen und Erwartungen verwoben sind.

Anrede,
der interdisziplinäre Impetus der Wissenschaftstage spiegelt auch das idealtypische Konzept von Schule wider. Schule bietet im Prinzip alle Wissenschaften, alle gesellschaftlichen Fähigkeiten und Kultur zur individuellen Handhabung an.

Dabei sollte kein Fach sein Wissen exklusiv setzen und die anderen Wissensgebiete ausklammern.

Auch wenn es in der Schule aus praktischen Gründen einen klaren Fächerkanon gibt, trennt die moderne Pädagogik Wissen nicht mehr strikt in Domänen, denn unser Gehirn ist komplex, und kein Phänomen kann nur für sich allein betrachtet werden.

Wenn wir es verstehen wollen, müssen wir es zwar sehr genau in den Blick nehmen, aber doch auch mit anderen vergleichen und in Beziehung setzen. Verstehen ist ein hochkomplexer Prozess, der immer auch mit einer Haltung einhergeht.

Wir sollten den Prozess des Verstehens deshalb – gerade in der Schule – nicht linear und damit verkürzt anlegen. Dieser Tatsache tragen die Auricher Wissenschaftstage in besonderer Weise Rechnung. Sie sind aber nicht nur dadurch für die Bildung junger Menschen vorbildlich.

Die Wissenschaftstage beschränken sich nicht auf eine Woche mit Vorträgen und intensiven Gesprächen im „Güterschuppen“, das Projekt ist längst viel umfassender geworden.
Im Rahmen eines Stipendiatenprogramms arbeiten Oberstufenschülerinnen und Oberstufenschüler mehrere Wochen in Forschungseinrichtungen.

Die Erfahrung konkreten, oft mühseligen wissenschaftlichen Arbeitens, das notwendig auf jede Inspiration folgt, desillusioniert die einen und stärkt die anderen. Es schärft in beiden Fällen jedoch ihren Blick dafür, welche Wege sie nach der Schule gehen könnten.

Für welche Ausbildung, welches Studium und welchen Beruf sie sich auch später entscheiden – ihnen stehen nach einem exklusiven Praktikum an der Spitze der naturwissenschaftlichen Forschung viele Türen offen.

Davon zeugen die zahlreichen Konzerne, Unternehmen, Universitäten und Forschungszentren, die sich an den Wissenschaftstagen beteiligen und auf der Homepage in glanzvoller Formation aufgeführt sind.

Das Stipendiatenprogramm zeigt in beeindruckender Weise, wie ein Team von Lehrkräften an zwei Schulen – in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft und den treuen und großzügigen mittelständischen und privaten Förderern – Lernen ganz konkret und nicht nur metaphorisch als Inspiration und Entdeckungsreise gestalten kann.

Die Wissenschaftstage führen immer wieder aufs Neue und immer wieder neu vor Augen, dass Lernen nicht einfach die Vermittlung von Wissen ist, sondern die Aufgabe, junge Menschen zu inspirieren und zu stärken.

Es gilt eben auch für die Schule das in der Weltliteratur oft gebrauchte Bild: Wer Menschen dazu bringen will, mit ihm die Welt zu umsegeln, soll mit ihnen nicht nur Baupläne für Schiffe studieren und Landkarten lesen.

Er sollte mit ihnen sprechen über das blaue Meer, die Weite des Ozeans und die guten Winde – und dann mit ihnen in See stechen.

Meine Damen und Herren,
solche Beispiele versteht man in Aurich gerne auch wörtlich. So fuhr eine Schülergruppe fünf Wochen an die Lena nach Ostsibirien, eine andere mit dem Forschungsschiff „Polarstern“ in die Antarktis, eine dritte mit der „Merian“ in den Nordatlantik, um die weltweite Zirkulation der ozeanischen Tiefenströmungen vor Grönland zu verfolgen, und eine vierte Gruppe war auf den Spuren des Golfstroms in der Karibik. Von solchen Forschungsreisen können die meisten Menschen nur träumen!

Die Auricher Wissenschaftstage haben für die Natur- und die Geisteswissenschaften, die Wirtschaft und die Kultur in Niedersachsen eine weit ausstrahlende Bühne geschaffen.

Die Akteure haben für die Schule in mehrfacher Hinsicht eine zukunftsweisende Arbeit geleistet, indem sie mit beeindruckender Konstanz und großer Begeisterung ein Konzept entfalten, das alle zentralen pädagogischen Aspekte bündelt, die wir an aktiven Schulen in besonderer Weise auszeichnen, als da sind

Die Landesregierung hätte die Auricher Wissenschaftstage nicht per Erlass verordnen können. Sie kann allerdings Raum für gute Ideen und innovative Projekte schaffen.

Mit der Entlassung der Schulen in die Eigenverantwortlichkeit ist genau dies beabsichtigt. Die Schulen sollen zur Eigeninitiative, zu Projekten und Initiativen angeregt werden. Darüber hinaus hat Niedersachsen den mathematisch-naturwissenschaftlich-technischen Unterricht gestärkt. Außerdem wurden in den letzten Jahren zur Förderung dieses sogenannten MINT-Unterrichts und mit Blick auf eine konzise, praxisorientierte Arbeit eine Reihe von Vorhaben initiiert bzw. unterstützt, die der Weiterentwicklung und Öffnung des Unterrichts dienen.

Und schließlich verfügt Niedersachsen mittlerweile über eine vielseitige und vom Land geförderte Labor-Landschaft.
Wir werden in der nächsten Zeit versuchen, diese Labore stärker miteinander zu vernetzen und weiter auszubauen.

Alle diese Vorhaben greifen den Wunsch von Professor Treusch auf, junge Menschen für Wissenschaft und Technik zu interessieren und auf diese Weise dem großen Mangel an Ingenieuren, Mathematikern und Physikern in unserem Land entgegenzuwirken.

Das besondere Verdienst der Auricher Wissenschaftstage besteht weniger darin, dass die Veranstalter einen Notstand früh erkannt haben, sondern darin, dass sie seit 19 Jahren höchst erfolgreich und ganz konkret etwas gegen ihn unternehmen.

Anrede,
vielleicht wird ja in zwanzig oder dreißig Jahren eine Stipendiatin, ein Stipendiat mit dem Nobelpreis ausgezeichnet. Dann darf sie oder er wieder in Aurich von der Arbeit berichten und im Anschluss mit den Veranstaltern ein Bierchen in der „Börse“ trinken gehen. Nur ein Wunschtraum?

Wer weiß … Ich habe ja bereits angedeutet, dass Wunschträume in Aurich mitunter Wirklichkeit werden!

[Das Manuskript ist auch als pdf-Datei verfügbar.]

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