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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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Prof. John-Dylan Haynes im Gespräch mit Ulricianern
– 18. Februar 2011 –

Alessandra Schumacher, Simone Heyen, Wiebke Weber, Jannis Heilemann, Leon Hansen und Henning de Vries, sechs Schülerinnen und Schüler aus vier Jahrgangsstufen am Gymnasium Ulricianum, einzig verbunden durch ihr Interesse am Fach Philosophie, haben sich kurzfristig und spontan zusammengefunden, um Prof. Haynes zu interviewen, kurz bevor dieser dann mit seinem Vortrag die diesjährigen Wissenschaftstage eröffnet.

So ist es gute Tradition bei den Auricher Wissenschaftstagen: Streight formulierte Fragen, Ergebnis knallharter Recherche zu Leben und Werk, die Erwartung, Antworten zu erhalten, die spannend sind, manchmal auch ein bisschen zu kompliziert, um von Lehrern und Schülern gleich verstanden zu werden …
Doch diesmal ist es irgendwie anders. Schon nach kurzer Zeit fliegen die vorformulierten Fragen in die Ecke und es entwickelt sich ein offenes und nachdenkliches Gespräch über Gott und die Welt, Wissenschaft und Verantwortung, Geist und Materie.
Der sympathische Neurophysiker, der mit seinen 40 Jahren auf eine beachtliche Karriere zurückblicken kann, nimmt sich Zeit und zeigt sich seinerseits interessiert am (Schul-) Leben seiner Gesprächspartner.

Wie die Welt ins Bewusstsein gelangt, ist die Frage, die ihn seit frühester Kindheit umtreibt. In Berlin erforscht der Wissenschaftler die Zusammenhänge zwischen Gedanken und Hirnaktivität. Dass wir derartiges „Gedankenlesen“ auch ein bisschen gruselig finden, kann er nachvollziehen, unsere Fragen in Bezug auf seine Einstellung zum Zusammenspiel von Wissenschaft und Verantwortung beantwortet er nachdenklich, verweist auf Diskussionen der deutschen Ethikkommission, an denen er teilnimmt, aber auch auf die Chance, die seine Forschungen bieten. Die Heilung von neuronalen Erkrankungen, die Möglichkeit, Prothesen und Rollstühle mittels Gedankenkraft zu steuern, die Verbesserung von so genannten Lügendetektoren, die Verdächtigen zukünftig die Möglichkeit geben, ihre Unschuld zu beweisen und anderes mehr. Wir merken ihm an, dass es ihm ernst ist mit seiner Verantwortung.
Aber er ist auch begeistert. Die technischen Verfahren, Hirnaktivitäten zu messen, werden stetig verbessert. Die Erfolge überraschen selbst ihn und sein Team. So ist es an den Hirnaktivitäten einer Testperson ablesbar, ob sie in Räumen, die ihr virtuell präsentiert werden, schon einmal war. Ebenso faszinierend ist, dass es inzwischen messbar ist, ob sich eine Person für Option A oder B entscheiden wird – und zwar schon zehn Sekunden, bevor sie sich ihrer Entscheidung bewusst wird. Wer entscheidet also wirklich?

Das hier in Auszügen vorliegende Gespräch wurde von Sebastian Berger aufgezeichnet, von Leon Hansen verschriftet und von Kerstin Niemeyer so bearbeitet, dass das Wesentliche bleibt.

Man muss ja auch Mensch bleiben!

Protokoll eines Gesprächs

Niemeyer:
Professor Haynes, wir begrüßen Sie ganz herzlich hier in Aurich und danken Ihnen dafür, dass Sie sich spontan bereit erklärt haben, dieses Gespräch mit uns zu führen. Diese Schülerinnen und Schüler, die Sie jetzt hier vor sich sehen, verbindet ihr Interesse an Philosophie. Seit 2007 wird dieses Fach an unserer Schule unterrichtet und Sie erleben hier Schüler aus vier verschiedenen Jahrgangsstufen von Klasse 10 bis 13.


Foto vom Gespräch mit Prof. Haynes, 25 k

Prof. Haynes, Alessandra Schumacher und Henning de Vries (v. l.)

Henning:
Erstmal eine Frage zu Ihrer Biographie, Sie sind ja einerseits Hirnforscher, also Neurophysiker, und andererseits haben Sie auch mit Psychologie zu tun. Wo ist da der Zusammenhang?

Haynes:
Die Frage kann man verschieden beantworten, also zum einen kann man die Frage stellen: Warum habe ich das eine studiert und nicht das andere, und die Antwort darauf ist folgende: Das, was mich am meisten interessiert hat, war der Zusammenhang zwischen Gehirn und Geist, die Grundlage des Denkens, Fühlens, Erlebens usw. und das konnte man damals gar nicht studieren. Psychologie war sehr auf Verhalten ausgerichtet. Die Hirnforschung war sehr stark auf das Verhalten einzelner Nervenzellen ausgerichtet. Es war also nicht so, dass man jetzt so viele Studiengänge gehabt hat, die das Verhalten des Gehirns betrachtet haben. Wenn man jetzt verstehen will, wie diese komplexen Denkleistungen im Gehirn realisiert werden, muss man auch verstehen, wie das ganze Gehirn daran beteiligt ist, und dafür hatte man damals gar keine Forschungsmethoden, die waren eigentlich gerade erst so im Aufkommen. Dann gab es da so eine ganze Reihe von Fächern, die ich hätte studieren wollen oder können. Dazu zählten Biologie, Systemtheorie, künstliche Intelligenz – das konnte man damals in Osnabrück studieren –, Psychologie, Philosophie. Das war so eine ganze Reihe, so ein ganzes Spektrum an Themen, die quasi alle um die Hirnforschung herum gruppiert waren. Man konnte halt nicht nur eine Sache machen, man musste sich für eins entscheiden und man konnte die ganzen andern nicht mitstudieren. Die Hirnforschung war damals noch nicht so ein etabliertes Studienfach.

Jetzt die andere Frage, ob jetzt die Erforschung von körperlichen Prozessen und von geistigen Prozessen etwas fundamental Unterschiedliches ist: Da würde ich sagen, wir haben immer den Eindruck, dass das so ist, und wir erhalten diese Daten auch auf sehr unterschiedliche Art und Weise, nämlich einmal durch das Verhalten des Organismus, das ist das, was die Psychologie sich anschaut, Verhalten, Erleben usw. und dann auf der anderen Seite den Körper, aber in der Hirnforschung wird natürlich jeder inzwischen davon ausgehen, dass das einfach nur zwei Seiten derselben Medaille sind, das heißt Ausdruck desselben Prozesses ist, und dass man einfach nur verschiedene Komplexitätsstufen untersucht, auf denen sich die Materie organisieren kann.
Wenn Sie mir jetzt eine Frage stellen, ist das ein Prozess, der in Ihrem Gehirn abläuft. Früher war man eher dualistisch orientiert, da hat man gedacht, Körper und Geist können unabhängig sein, eine gewisse Unabhängigkeit voneinander haben. Inzwischen glaubt das kein ernstzunehmender Hirnforscher mehr.

Jannis:
Sie haben Ihre Forschung auf Experimenten von Benjamin Libet, die schon in den 80er-Jahrendurchgeführt wurden, aufgebaut und dabei herausgefunden, dass der Mensch vorbewusst noch wesentlich schneller entscheidet, als Libet es damals schon herausgefunden hatte. Daraus wurde geschlossen, dass der Mensch berechenbar ist, dass man im Voraus schon wissen kann, was der Mensch als nächstes tun wird.
Im Umkehrschluss gedacht, könnte man eine Maschine auch unberechenbarer machen, so wie einen Menschen? Wäre es unter diesem Gesichtspunkt möglich, eine freier agierende künstliche Intelligenz zu erschaffen?

Haynes:
Das sind viele Fragen auf einmal: Was bedeuten diese Libet-Experimente?
Und was ist der Zusammenhang zwischen künstlicher Intelligenz und dem Libet-Experiment? Also zunächst einmal, was die Libet-Experimente bedeutend macht, ist die Erkenntnis, dass man Entscheidungen vorhersagen kann, bevor eine Person glaubt, sie selber zu fällen. Also ich hab das Gefühl, jetzt fälle ich meine Entscheidung, und davor stand es irgendwie noch nicht fest, wie ich mich entscheiden würde, und das Gehirn hat das Entscheiden losgetreten. Man hat ja eigentlich die gegenteilige Intuition. Das Gefühl, was man immer hat, ist Folgendes: Ich sitze da und denke und dann überlege ich mir, ich mache jetzt etwas, ich hebe jetzt die rechte Hand und dann passiert etwas mit meinen Körper und mein Körper macht das dann, dass diese Hand sich hebt.

Man denkt, es fängt an mit dem Gedanken und dann bewegt sich der Körper. Das Libet-Experiment sagt, dass vor dem Gedanken, zu dem Zeitpunkt, wo man das Gefühl hat, dass die Entscheidung noch frei ist, davor etwas im Gehirn passiert, was eigentlich die Ursache für alles ist. Das heißt zu dem Zeitpunkt, wo ich geglaubt habe, dass ich die Entscheidung fälle und es noch gar nicht feststand, wie ich mich entscheiden würde, dass da bereits das Gehirn die Entscheidung quasi schon „vorgefällt“ hatte, was jetzt gleich passieren wird. Das ist das, was das Libet-Experiment bedeutet. Also ganz extrem formuliert könnte man sagen, dass der Zeitpunkt, wo ich das Gefühl habe, jetzt bin ich frei, eine Illusion ist, weil die Entscheidung schon gefallen ist, aber mein Bewusstsein daran nicht beteiligt gewesen ist. Dass ich nicht bewusst darüber nachgedacht habe.

Jetzt der Link zur künstlichen Intelligenz. Der Link zur künstlichen Intelligenz ist da, wo sie sagten, man könne vielleicht eine Maschine unvorhersehbarer machen. Man würde erst mal einen Computer viel besser vorhersagen können als einen Menschen und der Grund, dass man einen Computer besser vorhersehen kann, ist, dass man die Zustände des Computers, die für sein Verhalten relevant sind, besser messen kann.
Man weiß also: Das ist das Programm, das kann man auslesen, kann man sich runterladen vom Computer, man kann schauen, wie es der Computer genau programmiert usw. Also wenn das passiert, dann mache ich das. Also der Computer ist viel berechenbarer als der Mensch. Und insofern ist die Vorhersage des Computers eigentlich keine große Leistung. Man würde jetzt auch nicht versuchen künstliche Intelligenz bzw. den Computer unvorhersehbarer zu machen. Eine Vorhersagbarkeit ist eigentlich immer etwas Gutes, weil das bedeutet, dass man etwas verstanden hat.


Foto vom Gespräch mit Prof. Haynes, 20 k

Sebastian Berger, Leon Hansen und Prof. Haynes (v. l.)

Leon:
Wenn man eine Entscheidung schon unbewusst vorher getroffen hat, macht es dann überhaupt noch Sinn, bewusst darüber nachzudenken? Weil die Entscheidung ja eigentlich schon feststeht.

Haynes:
Das ist die spannende Frage, warum ist das Bewusstsein überhaupt an den Entscheidungen beteiligt? Und dazu gibt es verschiedene Meinungen und ich glaube, dass es bis heute auch nur Meinungen sein können, weil es dazu eigentlich gar keine richtig guten wissenschaftlichen Daten gibt. Also es gibt eine ganze Menge von Entscheidungen, die wir tagtäglich fällen oder die gefällt werden, ganz ohne dass wir bewusst darüber nachdenken. Zum Beispiel Entscheidungen wie, warum haben Sie sich jetzt so herum hingesetzt und nicht andersrum. Es gibt viele Kleinigkeiten in unseren Alltagsleben, wo wir gar nicht bewusst drüber nachdenken. Irgendwie strukturieren wir uns den Tag auf eine bestimmte Art und Weise, aber wir denken jetzt nicht bewusst drüber nach über jede Kleinigkeit, damit wären wir auch hoffnungslos überfordert, wenn wir über jede Kleinigkeit unseres Handelns planerisch nachdenken. Das heißt, das Bewusstsein ist immer daran beteiligt, wenn etwas richtig kompliziert wird.
Studiere ich zum Beispiel jetzt in Hannover oder in Berlin? Das wäre jetzt eine mögliche Frage, die man sich stellen könnte. Und da ist das Bewusstsein dann schon beteiligt. Es ist nicht so, dass man dann auf einmal merkt, dass man in Hannover ist, und man weiß gar nicht, wie man dahin gekommen ist.

Je komplexer die Entscheidungen werden, desto mehr ist das Bewusstsein daran beteiligt. Das bedeutet wahrscheinlich, dass das Bewusstsein etwas mit der Integration von vielen Bereichen zu tun hat. Wenn ganz viele Gehirninstanzen an etwas beteiligt sind, also wenn eine Entscheidung besonders komplex ist und die Erinnerung eine Rolle spielt, die Zukunftsplanung eine Rolle spielt, die Bewertung eine Rolle spielt und viele, viele Dinge eine Rolle spielen, dann ist anscheinend das gesamte Gehirn beteiligt.

Henning:
Das heißt also, das Bewusstsein ist im Grunde genommen eine evolutionäre Ausprägung, die dem Gehirn dazu dient, in besonderen Gefahrensituationen, in der dann Entscheidungen notwendig sind, relativ bewusst zu entscheidenden. Im Grunde ist das Bewusstsein evolutionär entstanden?

Haynes:
Wir wissen es nicht. Wir wissen es deswegen nicht, weil wir nicht wissen, was Tiere erleben und fühlen. Wir glauben immer, dass wir es wissen, aber das sind Übertragungen von uns selbst auf andere Menschen und dann auf Tiere.
Ich weiß, dass ich selber in bestimmten Situationen auf eine bestimmte Art und Weise reagiere, Empfindungen habe, Erlebnisse habe. Deshalb glaube ich, dass meine Mitmenschen, wenn sie in einer ähnlichen Situation sind, ähnliche Verhaltensweisen zeigen, zum Beispiel bei Schmerz zusammenzuzucken. Dass sie ähnliche Empfindungen haben. Und dann glaubt man auch, dass Tiere ähnliche Empfindungen haben, aber wir wissen es nicht und es wird auch sehr schwer sein, das überhaupt irgendwann zu wissen. Wir können uns nicht in die Vorstellungswelt, in die Gedankenwelt eines Tieres hineinversetzen. Wir wissen auch nicht, was ein Tier denkt. Wir müssen damit schon vorsichtig umgehen. Wir können nicht sagen, wir wissen es nicht, also denken sie nicht. Aber wir wissen auch, dieses Denken kann nicht besonders komplex sein, weil wir einfach sehen, dass ihre Verhaltensweisen relativ stereotyp sind im Vergleich zum Menschen. Wenn man diese Frage wirklich genau beantworten möchte, müsste man Dinge wissen, die man einfach zurzeit nicht weiß. Da würde ich einfach sagen, wir wissen es nicht.
Viele Leute werden Ihnen wüste Spekulationen erzählen, wozu man das Bewusstsein evolutionär braucht. Ich sage, dazu können wir gar nichts sagen.


Foto vom Gespräch mit Prof. Haynes, 27 k

Alessandra Schumacher, Henning de Vries, Jannis Heilemann und Wiebke Weber (v. l.)

Wiebke:
Heißt Hirnforschung für Sie nur Kopfhirn- oder auch Bauchhirnforschung?
Ich habe gelesen, dass herausgefunden wurde, dass sich an den Gedärmen so richtig viele Neuronen befinden, ungefähr so viele wie in bestimmten Gehirnbereichen. Und ich meine, ebenfalls gelesen zu haben, dass dieser Bereich die Hormone steuert, größtenteils sogar. Dann müsste das doch etwas mit Intuition zu tun haben, dachte ich. Beschäftigen Sie sich mit solchen Fragen? Sehen Sie da Zusammenhänge, zwischen Intuition und Unterbewusstsein?

Haynes:
Auf jeden Fall gibt es Zusammenhänge zwischen Intuition und Unterbewusstsein. Das ist dann schon eine zweite Frage. Was man häufig mit Intuition meint, ist, dass man gefühlsmäßig einen Eindruck hat, was richtig und was falsch ist, in einer bestimmten Situation, ohne dass man genau erklären kann, warum man das eine oder das andere richtig oder falsch findet. Und da spielen sicherlich unbewusste Verarbeitungsmechanismen eine Rolle, wie übrigens bei allen Dingen, die wir tun.

Wir sind uns also des Steuerns der Neuronen in unserem Gehirn nicht bewusst. Es gibt so viele Hintergrundroutinen, die wie Computerprogramme in diesem Hintergrund ablaufen in unserem Gehirn, derer wir uns nicht bewusst sind. Wir kriegen das alles gar nicht mit. Wir sehen sowieso nur einen kleinen Prozentsatz von dem, was in unserem Gehirn passiert, und zwar das, was unser Erleben betrifft.

Also Intuition ist ein extremes Beispiel dafür, dass unsere Leistung, nämlich richtig und falsch unterscheiden zu können, auseinander fällt mit der Fähigkeit, das bewusst zu durchdringen und genau zu verstehen, warum das eine oder das andere richtig ist. Also unser Gehirn hat anscheinend eine Fähigkeit, solche Leistung zu vollführen und häufig drücken die sich in Form von Gefühlen aus. Das heißt also, ich hab nicht nur Wissen darüber, das ist richtig oder falsch, ich hab auch noch ein Gefühl, das ist richtig oder falsch. Das ist das, was man als Bauchgefühl bezeichnet. Irgendwie hat man intuitiv das Gefühl, dass eine Sache stimmig ist, dass sie sich gut anfühlt und die andere nicht. Natürlich kommt man dann zu der Frage, was passiert überhaupt im Gehirn und was passiert im Körper bei bestimmten Gefühlen und da gibt es eine ganz althergebrachte Theorie, wie Gefühle erklärt werden. Und das ist, dass Gefühle letztendlich nichts anderes sind als das Bemerken der körperlichen Auswirkungen von bestimmten Gedanken. Das heißt, ich merke einfach, dass ich nervös werde. Ich merke, dass ich irgendwie erregt werde oder sonst was und diese ganzen körperlichen Symptome sind dann das, was man als Gefühl bezeichnet. Das ist die so genannte James-Lange-Theorie der Gefühle und diese Theorie ist natürlich nicht unbedingt haltbar.

Ich glaube, es gibt mehr an den Gefühlen als nur die körperlichen Symptome. Dann ist das aber auch so, dass dieses Gefühl, dass der Bauch mitentscheidet, also der Bauch hat keine Intelligenz. Das autonome Nervensystem hat natürlich, wenn man es als „Intelligenz“ bezeichnen würde, eine bestimmte Schaltkreisfunktion, die bestimmte Dinge in unseren Körper reguliert, aber das autonome Nervensystem weiß zum Beispiel nicht, was in der Außenwelt passiert. Das autonome Nervensystem weiß nicht, was ich denke. Die Schnittstelle zwischen dem autonomen Nervensystem und dem Gehirn ist sehr klein. Das heißt, es ist gar nicht möglich, dass das Gehirn und das autonome Nervensystem so viele Daten austauschen. Deswegen ist das eher so, dass das, was man mit auch Bauchgefühl meint, nicht so sehr was mit dem autonomen Nervensystem zu tun hat, es hat was mit Gefühlen zu tun, die spielen dabei eine Rolle und diese Gefühle, die haben etwas mit Hirnaktivität zu tun. Man weiß das auch ziemlich genau, wo im Gehirn und wie im Gehirn bestimmte Gefühle codiert sind. Wir haben dazu auch ein bisschen Forschung gemacht.

Wiebke:
Meinen Sie denn, da kommt etwas sozusagen zuerst? Also meinen Sie, zuerst schüttet der Bauch die Hormone aus, oder meinen Sie, das passiert zuerst im Gehirn?

Haynes:
Also, Hormone werden an vielen Stellen im Körper ausgeschüttet und auch im Gehirn und da muss man dann schauen, um welche Gefühle handelt es sich, um welche Hormone und so weiter und so fort …
Wenn überhaupt, handelt es sich da in der Regel um Kreislaufprozesse, man denkt etwas und dann entsteht ein Gefühl und für dieses Gefühl werden dann Hormone ausgeschüttet und dann denkt man wieder was anderes und danach denkt man „Oh, meine Güte, ich reagiere da ja ganz schön emotional darauf“ oder so etwas. Also, das sind immer Kreislaufprozesse, sodass man nicht sagen könnte, das eine kommt zuerst. Das ist wahrscheinlich schwer auseinander zu halten. Das ist so ein „Henne-oder-Ei-Problem“.

Wiebke:
Ich habe noch eine andere Frage: Glauben Sie, dass Gene und Erlebnisse das Einzige sind, was den Charakter am Ende bestimmt?

Haynes:

Was könnte denn noch dazukommen? Es kommt drauf an, was man mit Erlebnissen meint. Wenn man mit Erlebnissen einfach nur meint, was ich von meiner Außenwelt wahrnehme, dann ist sicherlich mehr im Spiel, aber die Gene geben natürlich eine gewisse Veranlagung und diese Veranlagung erlaubt einem sich in bestimmten Umwelten auf eine bestimmte Art und Weise zu entwickeln. Das ist also immer eine Anlage-Umwelt-Interaktion, was einen Menschen entwickelt, und wenn man mit Umwelt die Erlebnisse meint, dann ist das richtig, aber das sind dann mehr Sachen als nur die Erlebnisse, weil die Erlebnisse natürlich nur einen sehr kleinen Teil unserer Umwelt-Interaktion ausmachen. Also, mir kann ja auch einen Ziegelstein auf den Kopf fallen. Das wird dann auch zu einem Erlebnis, aber das Erlebnis, das ich dann habe, dass es wehtut, ist nicht das Problem, sondern dass mein Kopf möglicherweise dann irgendwie einen Schaden davonträgt oder mein Gehirn einen Schaden davonträgt.


Foto vom Gespräch mit Prof. Haynes, 23 k

Prof. Haynes und Simone Heyen

Simone:
In einem 3Sat-Beitrag über Sie und Ihre Forschung wird dargestellt, dass Sie Tatorte von Verbrechen virtualisieren und dann bei Messung der Gehirnaktivitäten von verdächtigten Testpersonen feststellen können, ob diese die gezeigten Räume bereits kennen. Dass dadurch etwa eine deutliche Verbesserung von Lügendetektoren denkbar wird.
Wenn das funktioniert, und es wird gesagt, Sie wären selbst überrascht, wie gut das funktioniert hat – wir fanden es, mal nebenbei gesagt, auch ein bisschen gruselig, was sie da machen – halten Sie es für denkbar, dass durch Messung von Hirnaktivitäten beweisbar wird, dass das Gehirn Orte, die man in früheren Leben besucht haben will, nachweisbar wiedererkennt? Und damit auch die Annahme, dass es frühere Leben einer Person wirklich gegeben hat?

Haynes:
Also, das ist eine sehr kreative Frage, aber ich würde sagen, dass man da sicherlich nichts finden wird.

Jannis:
In diversen Artikeln, die über Sie und Ihre Hirnforschung berichten, ist ein so genanntes „Gedankenlexikon“ aufgetaucht, das Sie versuchten zu erstellen, wenn auch eine vollständige Ausgabe noch sehr, sehr lange auf sich warten lassen werde. Wenn dieses „Gedankenlexikon“ fertig sei, sei dadurch die Entwicklung eines Gedanken lesenden Apparates möglich.

Haynes:

Das ist eine Zuspitzung, um veranschaulichen zu können, was da nötig wäre. Wir bauen jetzt nicht wirklich an so einem „Gedankenlexikon“. Das ist eher so eine Art Gedankenexperiment.
Unsere Forschung besteht nicht darin, dass Leute zu uns kommen und wir systematisch so ein Lexikon durchmessen, wo wir quasi wie in einem Lexikon quasi zu jedem Eintrag das Hirnaktivitätsbild haben.
Heute Abend bei dem Vortrag wird das vielleicht auch ein bisschen deutlicher, was zurzeit die Möglichkeiten, aber auch wo die Grenzen unserer Forschung sind und warum man jetzt über diese Sachen spricht. Dieses „Gedankenlexikon“ ist etwas, was man sich aber vorstellen muss, es gibt so viele Gedanken, wie müsste es denn aussehen, wenn man alle denkbaren Gedanken auslesen wollte. Dann müsste man so etwas haben wie ein „Gedankenlexikon“.

Henning:
Im Zuge dessen ist vielleicht dann ja auch die Frage nach den technologischen Möglichkeiten dieser Forschung interessant, weil es ja auch medizinische Zwecke gibt, die man dadurch erreichen könnten, wie zum Beispiel eine Armprothese kontrollierbar zu machen für Leute, die ihren Arm verloren haben. Wo liegen denn die technologischen Gewinne, die man mit Ihrer Forschung machen kann?

Simone:
Und was wird in Zukunft möglich sein? Vielleicht ist das nicht heute, aber in 50 Jahren machbar, dass man Menschen eine Art Chip einsetzt und wenn diese dann durch so eine Art Gedanken lesenden Bogen gehen, können Sie das alles lesen, was diese Menschen denken. Diesen Vergleich, Gedanken lesen und Sprache lesen, den bringen Sie ja auch selbst in Interviews.

Haynes:
Ja, es gibt eine ganze Reihe von Anwendungen, die sich daraus ergeben. Es gibt immer einerseits die detaillierte Forschungsebene, wo man sich wirklich mit Details beschäftigt, und dann gibt es quasi die Vogelperspektive, die man in Bezug auf dieses ganze Forschungsgebiet einnimmt.

Aus der Vogelperspektive muss man sagen, praktische, technische Anwendungen von diesen Verfahren gibt es noch nicht. Theoretisch viele. Es gibt viele Situationen, in denen wir möglicherweise davon profitieren würden, die Gedanken auswählen zu können und die Wünsche und Absichten usw. auslesen zu können. Nehmen wir mal an, jemand, also das ist das beste Beispiel, hat eine Prothese und möchte diese Prothese steuern können, und zwar indem sie denkt, „Arm, bitte beweg dich nach oben“ und „Arm, beweg dich nach unten“. Und dazu muss man dann Gehirnaktivitäten auslesen und müsste damit quasi dann die Prothese steuern.
Das ist ein Beispiel einer Anwendung. Eine andere Anwendung kann sein: Kann man an einem Wachkomapatienten feststellen, ob da noch bestimmte Erlebnisse vorhanden sind, teilt diese Person noch etwas mit? Diese Frage könnte man dann möglicherweise beantworten.

Das ist alles Grundlagenforschung. Es ist ja nicht so, dass man heute einen Patienten zum Kernspintomographen bringen kann und diese Frage beantworten kann, aber es ist eine mögliche zukünftige Anwendung. Darüber hinaus gibt es dann verschiedene andere Anwendungen. Man könnte zum Beispiel so, wie man heute einen Fernsehapparat oder ein Spiel mit einer Fernbedienung steuert, einen technischen Apparat mit dem Gehirn steuern. Da gibt es auch Wettbewerbe usw. Das gibt es also auch schon.
Und dann haben wir natürlich alle möglichen Lügendetektoren, auch Vorhersagen von Kaufentscheidungen.

Das sind alles Sachen, bei denen man sich fragen muss, ob die ethisch in Ordnung sind. Dann muss man auch gleichzeitig über Ethik sprechen. Aber viele dieser Anwendungen stecken noch in den Kinderschuhen. Das ist ja so, dass man das „proof of principle“ macht, dass man zeigt, dass so etwas prinzipiell möglich ist, aber man kann nicht sagen, dass man heute bereits so einen Lügendetektor bauen kann. Es gibt zwar Firmen, die diese Dienstleistung anbieten, aber die ist wirklich noch sehr fragwürdig.

Wiebke:
Es ist zwar etwas utopisch, aber denken Sie, wenn man es schaffen würde, dass die Menschen so eine Art Gerät schaffen würden, das immer wüsste, was der andere denkt, dass dies dann die Menschen unglücklich machen würde, weil die sich nicht richtig vertrauen könnten, dass der andere dieses Gerät benutzt, um sie zu berechnen?

Haynes:
Das ist eine Superfrage. Muss ich ganz ehrlich sagen. Es gibt da Bücher, die darüber geschrieben wurden und zwar gibt es eins einem deutschen Autor, ich vergesse seinen Namen immer, das Buch heißt „Du sollst nicht lügen“ [Jürgen Schmieder: Du sollst nicht lügen. Von einem, der auszog, ehrlich zu sein, München 2010] und dann gibt es einen Amerikaner, dessen Namen habe ich auch vergessen, der hat ein ganzes Programm entwickelt, das nennt sich „Radical Honesty“ [Brad Blanton: Radical Honesty. How to Transform Your Life by Telling the Truth, neubearbeitete Auflage 2005]. Er stellt da dann die Frage: Kann man sich vorstellen, in einer Welt zu leben, in der alle Leute immer ehrlich sind?

Unsere erster Reflex ist zu sagen: „Auf gar keinen Fall“, meine Freundin kommt mit einem neuen Kleid und ich finde es aber nicht so toll und muss jetzt auch nicht sagen, es ist ganz toll usw. Also eine kleine Notlüge, damit sie sich besser fühlt. Das könnte ich dann nicht mehr machen. Andererseits ist es nämlich auch so, dass, immer wenn ich dann sage: „Das sieht super aus“, kann sie sich nie ganz sicher sein, und muss darüber nachdenken, ob ich das jetzt nur sage, weil ich einfach nur nett sein möchte.

Also die radikale Ehrlichkeit als Denkmodell ist etwas, was man nicht ganz vom Tisch wischen sollte, finde ich. Das sind ja alles Gedankenexperimente. Es ist der nicht so, dass man jetzt sagt: In 50 Jahren werden die Leute alle mit Kappen herumlaufen, wo draufsteht Lüge, Lüge, Wahrheit, Lüge, Wahrheit, Wahrheit, Wahrheit oder so etwas. Das glaube ich nicht, dass das passieren wird, aber als Denkmodell kann man sich fragen, wie wäre es denn, wenn es so wäre, und ich glaube, das wäre gar nicht so problematisch. Vielleicht würde das unser Leben einfacher machen.

Wiebke:
Heißt das denn, dass es nicht wichtig wäre, dass die Menschen sich auch so vertrauen können?

Haynes:
Super, noch besser, noch besser. Ich will jetzt auch nicht sagen „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, aber nehmen wir doch einmal das Beispiel Avatare im Internet. Man könnte jetzt sagen, jeder kann als Avatar etwas nehmen, was seiner Lebensperson in etwa entspricht, aber gleichzeitig kann die Person auch was ganz anderes sein. Alter Mensch kann jung sein, junger Mensch kann alt sein, Mann kann Frau sein, Frau kann Mann sein usw. und so fort. Es gibt die vielfältigsten Unwahrheiten, die da möglich sind. Und da kann man sich dann auch fragen, möchte man eigentlich, dass man nicht weiß, wer dahinter steckt, oder möchte man dann doch wissen, wer die Person ist, die dahinter steckt. Das „Ja, das soll man ruhig dürfen“ ist ein bisschen zu einfach. Manchmal ist es auch ganz gut, dass man bestimmte Dinge weiß, aber wir als Forscher können ja nur, wenn wir bestimmte technische Möglichkeiten sehen, eine Diskussion anregen über diese Möglichkeiten. Wir können jetzt nicht entscheiden, das ist gut oder das ist schlecht für die Gesellschaft.

Wiebke:
Glauben Sie, dass die Wissenschaft die Moral ersetzen kann? Wenn die Menschen nicht die Moral hätten, dass sie von sich aus ehrlich sind, dann nützt ja eigentlich keine Maschine etwas, die sagt, dass alle lügen.

Haynes:
Die Wissenschaft, die Moral ersetzen kann. Ob man mit wissenschaftlichen Methoden moralisches Verhalten herbeiführen kann, erzwingen kann?
Es ist natürlich auch schön, wenn man jemandem vertrauen kann und dieses Vertrauen gerechtfertigt ist, also sich hinterher als gerechtfertigt herausstellt, aber es gibt natürlich auch Fälle, in denen Vertrauen missbraucht wird, und in diesen Fällen sagt man dann immer: Das hätte ich das aber gerne gewusst. Das ist auch schwierig. Hinterher kann man dann immer sagen, in dem Fall hätte ich ja gerne gewusst, dass ich da übers Ohr gehauen wurde, aber in dem andern Fall, wo ich zu Recht vertraut habe, wäre ich lieber nicht vorher informiert worden. Das ist schwierig. Wir haben ganz viel Intuition, was diese Sachen angeht, und diese Intuition hat etwas mit dem zu tun, was wir gewohnt sind. Doch man darf sich nicht nur durch das einengen lassen, was man gewohnt ist. Man muss auch nachdenken, ob es möglicherweise anders sein könnte.

Wissenschaft und Moral ist natürlich auch in jedem Fall so, das ist die normative Täuschung. Das heißt, dass man glaubt, aus einer sachlichen Beschreibung der Welt ableiten zu können, was richtig und was falsch ist. Und diesen Fehlschluss macht man immer wieder, aber es gibt letztlich keinen Weg, von einer Wissenschaft zu einer Bewertung dieser Wissenschaft zu gehen. Das ist nur noch mal ein unabhängiger Prozess.

Ich rede sehr viel über die ethischen Konsequenzen und habe auch im deutschen Ethikrat etwas darüber erzählt und erzähle auch eigentlich gegenüber den Journalisten immer wieder über diese ethischen Dimensionen unserer Forschung, aber ich meine letztendlich, die Diskussionen kann von uns angetreten werden, aber es sind nicht unsere Bewertungen, die da eine Rolle spielen. Das ist eine Bewertung von jedermann, die da eine Rolle spielt. Wir können jetzt nicht die Top ethische Instanz für unser eigenes Forschungsgebiet sein. Dann würde man den Bock zum Gärtner machen.

Jannis:
Es wurde vorhin schon eingeworfen, dass tierische Denkvorgänge viel einfacher sind, warum bauen Sie Ihre Technologie nicht auf die Gedanken und Gedankengänge von Tieren auf, die ja viel einfacher zu messen wären. Zum Beispiel indem man einem Hund zwei Näpfe voller Essen hinstellt und misst, welchen Napf er letztendlich dann nimmt. Das wäre doch sehr viel einfacher und dann könnte man Menschen, die nachweislich viel komplizierter sind, später dann anfangen.

Haynes:
Das Problem beim Tier ist, dass man nie weiß, was das Tier denkt, weil ich mich mit dem Tier nicht unterhalten kann. Wenn ich jetzt einem Tier zwei Näpfe hinstelle und es nimmt den einen, weiß ich nie, ob das Tier gedacht hat: „Oh, da ist ja ein Napf mit leckerem Futter, da gehe ich mal hin und den esse ich mal, den anderen mag ich ja gar nicht“, oder ob das Tier einfach gar nicht drüber nachdenkt, sondern reflexhaft zu dem einen hingeht. Ob das etwas mit bewussten Erlebnissen zu tun hat? Deshalb untersuchen wir halt keine Tiere, aber es gibt sehr, sehr viele Hirnforscher, die Tiere untersuchen, und die ethischen Dimensionen kann man auch diskutieren. Ich finde diese Forschung in der Regel gerechtfertigt, aber man muss natürlich auch sehen, da werden natürlich auch Elektroden in gesunde Tiere eingebracht. Also diese Forschungen bedeutet auch, wissen zu wollen, was die Nervenzellen machen, und in der Regel bedeutet das auch, sich diese Gehirnzellen anschauen zu wollen.

Wir machen Forschung am Menschen mit so genannten nicht-invasiven Verfahren, das heißt Verfahren, die für den Menschen vollkommen unschädlich sind. Das ist ganz wichtig, diese Unterteilung, aber ich bin der Meinung, dass man diese andere Tierforschung auch begründen kann und sie auch rechtfertigen kann. Wenn ich Verhaltensforscher bin, reicht es mir, den Hund zu untersuchen, ob er den Napf frisst oder nicht. Wenn man wissen will, was das mit dem Gehirn zu tun hat, muss ich mir das Gehirn anschauen. Wenn ich wissen will, wie das Herz funktioniert oder der Verdauungstrakt, muss ich mir das Herz oder den Verdauungstrakt angucken. Das muss man sich auch klarmachen, das bedeutet dann, das Tier aufzuschneiden und da rein zu gucken. Das klingt jetzt martialisch, aber man muss sich das veranschaulichen, was das bedeutet.

Henning:
Jetzt haben sie ja begründet, warum sie den Menschen erforschen.

Haynes:
Ich kann Ihnen genau sagen, warum ich den Menschen erforsche. Weil mich der Mensch interessiert.

Henning:
Ist das nicht eine Selbstironie, weil Sie die Entscheidung im Grunde ja nicht direkt getroffen haben, sondern chemische Prozesse haben selbst entschieden, dass sie sich selbst erforschen. Das ist ja eine gewisse Ironie.

Haynes:
Ich weiß gar nicht, ob das wirklich so ironisch ist. Warum ist das ironisch?

Henning:
Weil das ja eine Selbstreflexion über chemische Prozesse ist.

Haynes:
Ein Musikstück ist ja auch mehr als eine Schallwelle, ein Musikstück ist eine komplexe Organisationsform von Schallwellen. Man kann es sich jetzt so vorstellen: Ich mache eine CD an und es kommen Schallwellen raus, aber es ist nicht einfach nur die Schallwelle oder eine einzelne Schallwelle, die einzelne Frequenz, sondern das gesamte Spektrum, das gesamte Zusammenspiel von verschiedenen Frequenzen macht das Musikstück aus. Genauso ist das auch beim menschlichen Geist. Das gesamte Zusammenspiel aller Funktionen macht den menschlichen Geist aus und so ist das auch beim Gehirn. Die gesamte Konfiguration aller Teile des Gehirns, das ist das, was den Menschen ausmacht. Das ist das, was den Menschen erlaubt zu gehen, zu sprechen, Aufgaben zu lösen, zu rechnen, Gedichte zu schreiben usw. Das ist eher etwas, was man sich so vorstellen muss, es findet im Medium physikalisch-chemisch-biologischer Prozesse statt, aber es sind nicht einfach nur physikalische, biologische, chemische Prozesse.
Ich kann nicht die ganzen Nervenzellen nehmen und einfach, was weiß ich, auf den Tisch tun und dann habe ich ein denkendes Wesen, sondern die ganze Veranstaltung, die Konfiguration ist das, wo das Entscheidende drinsteckt. Deswegen ist es nicht physikalisch, chemisch, sondern es ist eine bestimmte Organisationsform, die im Medium physikalischer, chemischer Prozesse stattfindet und möglicherweise genauso gut in Silizium stattfinden könnte.

Henning:
Aber es ist halt nur interessant, dass diese Organisationsform sich im Grunde selbst wieder erforscht.

Haynes:
Ja, aber das ist ja auch so!
Wir müssen einfach lernen, dass unsere Gedanken Teil der Welt sind. Wir leben immer mit diesem Dualismus. Wir haben immer das Gefühl, unsere Gedanken sind etwas, was unabhängig vom Körper in irgendeiner unbennenbaren zweiten Substanz, wie man es auch immer nennen möchte, existiert, und unsere Gedanken sind Teil unseres Körpers, wenn sie Teil dieser Welt sind, sie nehmen am Geschehen dieser Welt teil und damit ist es natürlich so, dass, wenn ein Mensch über sich selbst nachdenkt, dass dann Materie über Materie nachdenkt.

Leon:
Ich habe noch eine Frage in Bezug auf die Berechenbarkeit des Menschen: Wenn das jetzt wirklich nur Materie ist, die über andere Materie nachdenkt, also ein ganz einfacher physikalischer Prozess, na ja, nicht wirklich einfach, aber halt ein physikalischer Prozess.

Haynes:
Ein sehr komplexer physikalischer Prozess!

Leon:
Aber wenn da gar nicht so etwas wie Zufall oder so etwas reinspielen würde, dann ist ja eigentlich jede Entscheidung, die wir treffen, schon vorher bestimmt. Das heißt, es würde so etwas wie ein Schicksal geben, weil jedes Teilchen sich immer genau so bewegt oder man halt immer genau das denkt, was man gleich denken würde – egal was man tut.

Haynes:
Also man muss bei Zufall und bei Determinismus zwei Sachen unterscheiden und das ist so genannter absoluter Zufall und perspektivischer Zufall.
Perspektivischer Zufall bedeutet, dass etwas für mich zufällig aussieht, weil ich nicht erkennen kann, welche verborgenen Mechanismen da in etwas stattfinden. Zum Beispiel mögen vielleicht bei einem Erdbeben die Wellen, die ich da beobachte, mit einem Seismographen aussehen wie Zufall, aber letzten Endes kann ich das genau zurückführen auf bestimmte Überlagerungen von bestimmten Brüchen, von Erdkrustenteilen, die auf eine bestimmte Art und Weise schwingen. Dann kann ich das genau rekonstruieren. Das heißt, für mich ist das quasi Zufall. Es sieht aus wie Zufall, es ist aber nicht zufällig. Es steckt ein deterministischer Prozess dahinter, was vorhersagbar ist oder im Prinzip wenigstens vorhersagbar ist. Also ich kann es nicht vorhersagen, aber im Prinzip, bei genauer Kenntnis der Erdkruste und ihrer ganzen Eigenschaften, könnte man das vorhersagen. Das ist perspektivischer Zufall. Ich kann es nicht erkennen und es sieht für mich aus wie Zufall. Absoluter Zufall, das ist jetzt eine Interpretation, absoluter Zufall bedeutet, selbst wenn man die Materie in ihre kleinsten Bausteine zerlegen würde und man würde sich angucken, welche Eigenschaften die haben, das dann immer noch Zufall da drinsteckt. Also dass der Zufall dann nicht was mit der verminderten Auflösung zu tun hat, sondern dass der Zufall zu tun hat damit, dass prinzipiell die Welt so gebaut ist, dass Zufall darin eine Rolle spielt und zum Beispiel ein radioaktiver Zerfall, würde man sagen, ist wahrscheinlich so ein absoluter Zufall.

Wenn wir jetzt sagen, wie sind jetzt Menschen vorhersagbar, dann haben wir dabei gleich diese beiden Dinge mit drin. Wir haben auf der einen Seite das Problem, dass wir den Zustand des Gehirns, um ihn vorherzusagen, nicht perfekt messen können. Wir können nicht genau wissen, wo alle Atome des Gehirns zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade sind. Das ist unmöglich. Wir haben ja auch möglicherweise absoluten Zufall da drin oder sehr wahrscheinlich, je nachdem welche Auslegung von Quantenprozessen man bevorzugt, aber da könnte man auch sagen: Also dieser Determinismus, den wir da beobachten, auf einer ganz feinen Auflösungsstufe, kommt dann dadurch wieder Zufall in die Welt rein, obwohl die Welt sehr stark vorhersagbar ist. Also, ich weiß, dass Aurich sich da befindet, wo ich es erwarte. Ich habe jetzt nicht erwartet, dass es mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit noch da ist, sondern ich habe mich schon ziemlich genau darauf verlassen, als ich in Berlin heute morgen losgefahren bin, dass Aurich am Ende dieser beiden Bahnstrecken liegt. Da ist schon eine sehr starke Vorhersagbarkeit gegeben.

Leon:
Warum ist radioaktiver Zerfallen denn unberechenbar? Man kann bei radioaktivem Zerfall doch auch immer sagen, wann es jetzt wie weit zerfallen ist.

Haynes:
Man kann statistische Aussagen machen. Man kann jetzt sagen, ich habe jetzt 1.000 Atome und die Halbwertszeit ist, was weiß ich, ein Jahr. Dann weiß ich, dass nach einem Jahr die Hälfte der radioaktiven Zerfälle passiert ist. Ich weiß aber nicht, wann der einzelne passiert. Deswegen ist es, was den einzelnen angeht, absoluter Zufall, aber ich kann die Population beschreiben. Ich kann quasi sagen, ich kann jetzt über den Mittelwert Aussagen treffen. Ich bin ja selbst kein Physiker, auf einmal, in ganz feiner Auflösung spielt der Zufall eine Rolle, aber das mittelt sich auch schnell raus und dann sind die Sachen stark vorhersagbar und bei der Vorhersage sind beide Sachen wichtig. Da wird dann der perspektivische Zufall eine Rolle spielen und der absolute Zufall wird eine Rolle spielen.

Leon:
Das bedeutet, der absolute Zufall könnte auch ein perspektivischer Zufall sein, weil wir ja jetzt nicht genau sehen können, was da passiert.

Haynes:
Diese Begriffe sind nicht hart definiert, aber was man darunter verstehen könnte, unter perspektivischem Zufall, wäre entweder alles, was ich nicht verstehen kann, was wie Zufall aussieht, oder alles, was nur nach Zufall aussieht, aber nicht wirklich Zufall ist. Sozusagen alles, was zufällig aussieht, aber nicht absoluter Zufall ist.

Niemeyer:
Wird in der Psychologie das, was gemessen wird, verfälscht durch das Messverfahren, so wie das in der Physik auch manchmal vorkommt?

Haynes:
Absolut. Das ist ein Problem der ganzen Psychologie, dass wir in der Psychologie nicht feststellen können, was eine Person denkt, ohne die Person zu fragen, und damit, durch diese Messung, wenn man so will, stören wir die Person, die Gedankenprozesse einer Person. Es ist im Gegenteil so, dass die Hirnforschung, die nicht invasive Hirnforschung mit Kernspintomographen, eigentlich zumindest die Gehirnprozesse untersuchen kann, ohne den Menschen jetzt stark zu stören, wenn ich jetzt einfach nur das Gehirn messe, während eine Person eine Aufgabe rechnet, dann habe ich zumindest die Hirnaktivität, ohne dass ich die Person jetzt gestört habe, aber ich müsste jetzt mit der Personen interagieren, um festzustellen, wie weit sie ist mit ihrer Lösung, was sie jetzt gerade gedacht hat usw. Das ist so eins der methodischen Grundprobleme der Psychologie. Das macht sehr viel aus und zwar für die gesamte Psychologie.

Niemeyer:
Sie sagen das so unbeschwert. Wir haben gedacht, das wäre ein ganz großer Stolperstein.

Haynes:
Das ist ein Riesenstolperstein. Absolut. Das ist eines der Grundprobleme, womit sich die Psychologie herumschlagen muss.

Jannis:
Wir hatten im Philosophieunterricht folgendes Gedankenexperiment: Stellen Sie sich vor, Sie haben einen Unfall und es stellt sich heraus, dass nur eines von beiden zu retten ist, entweder Ihr Gehirn, das in einen anderen Körper verpflanzt wird, oder Ihr Körper, der ein anderes Gehirn bekommt. Was würden Sie tun?

Haynes:
Also das ist eine sehr, sehr, superinteressante Frage. Die Frage ist nur: Wer ist das Ich, das da spricht? Wenn Sie jetzt sagen, ich würde mein Gehirn oder meinen Körper nehmen, dann wären Sie ja nicht mehr dieselbe Person, wenn Sie nach dieser Transplantation nicht mehr Ihr Gehirn haben. Sie wären auch nicht mehr ganz die gleiche Person, wenn Sie Ihren Körper nicht mehr haben. Aber ich würde auf jeden Fall natürlich das Gehirn nehmen. Nicht den Körper. Sonst sind Sie jemand anders in einem anderen Körper.

Simone:
Die Frage, die dahinter steht, ist: Wie definieren Sie Ich-Identität?

Haynes:
Auf jeden Fall würde ich sie über Prozesse definieren, die im Gehirn stattfinden und nicht im Körper. Meine ganzen Erinnerungen sind ja im Gehirn gespeichert, nicht im Körper. Ich wäre dann ja sozusagen jemand anders mit anderen Erinnerungen und einer vollkommen anderen Identität, Wahrnehmung, Assoziation usw. Aber sagen wir es mal so, es ist ja beides ein starker Eingriff.

Leon:
Die Gene sind dann doch andere. Würde das irgendwelche Einwirkungen auf den Charakter desjenigen haben, wenn er dann einen anderen Körper hat?

Haynes:
Da müssen Sie mal einen Mediziner fragen. Wahrscheinlich gibt es dann irgendwelche Abstoßungsreaktionen oder sonst etwas. Ich bin ja kein Mediziner.

Niemeyer:
Der Körper regeneriert sich ja selbst. Es stirbt etwas ab und Anderes, Neues kommt und ersetzt das Abgestorbene. Könnte das sein, dass der Körper, der fremde Körper, in dem jetzt mein Gehirn ist, dass der so mittelfristig das, was mein Gehirn ist, mein Ich ist, frisst, etwa durch Regeneration? Darüber haben wir nachgedacht.

Haynes:
Das glaube ich nicht. Die Struktur des Gehirns ist ja entscheidend. Es ist dann nicht die Substanz in dem Sinne, sondern es ist ja die Struktur, die entscheidend ist, und das umzuprogrammieren ist fast unmöglich.

Leon:
Geht diese Struktur verloren, wenn man stirbt, oder bleibt sie erhalten?

Haynes:
Gehen Sie mal auf dem Friedhof und nehmen Sie eine Schaufel mit. Es gibt Zersetzungsprozesse, und auch wenn Sie einbalsamiert sind, bleibt zwar ein Teil der Struktur erhalten, aber überwiegend geht sie eigentlich auch verloren.

Leon:
Das heißt, wenn man Gedanken lesen könnte irgendwann, könnte man, wenn jemand kurz vorher gestorben ist, dann noch erkennen, was der wusste?

Haynes:
Wahrscheinlich ja. Werden wahrscheinlich in der Regel keine schönen Gedanken sein.

Kennen Sie den Film „Minority Report“? Da geht es genau darum, dass bestimmte Medien in der Lage dazu sind, bestimmte Verbrechen vorherzusagen. Jemand hat die Absicht, ein Verbrechen zu begehen, ein Medium, also Parapsychologie ist das dann, Telepathie, also Fiktion. Diese Person kann dann vorhergesagt werden, man greift dann ein und in flagranti, kurz vor der Ausführung der Tat, wird die Person dann gestoppt und das ist natürlich etwas, das für solche Science Fiction möglicherweise aus Gehirnaktivität auch zu machen ist, aber das ist alles Science Fiction.

Niemeyer:
Es gibt ja in den USA Informatiker, die forschen auch in dem Bereich, in dem Sie forschen, aber von einer anderen Ecke kommend. Wie Hans Moravec zum Beispiel, der diese Idee hat von einer postbiologischen Welt, in der menschliche Geist befreit werden kann aus dem Gehirn, aus dem menschlichen Körper überhaupt, in Roboter mit künstlicher Intelligenz. Und dann gibt es eine Weiterentwicklung, die ja geradezu unvorstellbar ist für uns Menschen mit sich selbst vervollkommnenden künstlichen Intelligenzen, wie immer man sich das vorstellen mag. Beschäftigen Sie sich mit so etwas auch oder ist das für Sie wirklich nur Science Fiction?

Haynes:
Man diskutiert wirklich mit solchen Leuten, aber das ist natürlich schon Science Fiction. Also, jetzt nach und nach jede einzelne Nervenzelle im Gehirn zu ersetzen durch eine kleine Siliziumsimulation. Da kann man sich dann fragen, kann man das Gehirn wirklich einfach so in Silizium übersetzen, aber man weiß es halt nicht. Verhält es sich hinterher immer noch genauso? Aber auch wenn man seinen Job richtig gemacht, ob da dann noch eine denkende Person drin ist, weiß man nicht. Das ist schwierig.

Niemeyer:
Aber Sie diskutieren mit solchen Leuten, die solche Ideen haben?

Haynes:
Wenn man auf solche Konferenzen kommt, ja. In der Regel ist das doch ziemlich weit auseinander. Es bleibt dann so bei, ich sag mal, über einem Glas Wein, dann eine Spekulationen, aber solche Fragen sind total spannend. Aber eher dann im Gespräch mit Philosophen. Spannende Fragen.

Wiebke:
Glauben Sie, dass, wenn man stirbt, man ab da kein Bewusstsein und kein Ich mehr hat?

Haynes:
Ja, das glaube ich. Und zwar glaube ich das deswegen, weil in allem, was wir beobachten können, die Erlebnisse und die Hirnaktivitäten eins zu eins gekoppelt sind, und wenn die Hirnaktivität zusammenbricht, wüsste ich jetzt kein Indiz dafür, dass es irgendwie noch weitergehen sollte.
Wenn es weitergehen würde, dann würde sich dieses Etwas uns auch nicht mitteilen können. Insofern ist das schwierig, aber es sind natürlich Dinge, bei denen man immer vorsichtig sein muss, weil das bei vielen Menschen sehr gefühlsbeladene Themen berührt, aber Sie sind an Philosophie interessiert, deshalb können wir das ja alles besprechen.

Niemeyer:
Professor Haynes, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Haynes:
Ja, gerne! Das war jetzt sicherlich für mich der allerinteressanteste Teil des Abends, da bin ich mir ganz sicher.

Niemeyer:
Für uns auch.

Foto vom Gespräch mit Prof. Haynes, 23 k

Auch nach Ende des Interviews konnten die …

Foto vom Gespräch mit Prof. Haynes, 21 k

… Gesprächsteilnehmer nicht voneinander lassen. :-)

Wiebke:
Vielleicht sind wir dieses Etwas, von dem Sie eben sprachen. Denken Sie, dass das möglich wäre? Oder dass es uns irgendwann einmal wieder gibt?

Haynes:
Sagen wir das mal so: Die Wissenschaft kann nichts darüber aussagen, ob dann, wenn die Materie des Gehirns aufhört, diese komplexe Struktur zu verfolgen, diese bleibt, was sie vorher war. Ob sie sich irgendwie ablöst und irgendwo anders weiter existiert. Darüber kann die Wissenschaft nichts aussagen. Als Wissenschaftler würde man sagen: Das ist nicht sehr wahrscheinlich, weil es dafür keinen Beleg gibt, es gibt auch nicht den kleinsten Hinweis dafür, dass es so wäre, aber denkbar ist alles. Bei solchen emotionsgeladenen Themen ist es ja manchmal auch erlaubt, einfach zu denken, was man will, womit man sich am wohlsten fühlt. Man muss sich auch nicht dazu zwingen, alles allzu wissenschaftlich zu sehen.

Man muss ja auch noch ein Mensch bleiben.

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