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Auricher Wissenschaftstage –
Forum einer dritten Kultur

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Marion Gräfin Dönhoff und Dr. Thomas Assheuer
im Gespräch mit Auricher Schülern (II)

Wenn man sich Europa ansieht in den letzten 70 bis 80 Jahren, dann kann man mit Sicherheit sagen, dass sowohl das wirtschaftliche als auch das kulturelle Zentrum sich nach Westen verschoben hat, einfach auch durch die Teilung Europas. Jetzt haben wir zwar die Wiedervereinigung, aber das Zentrum hat sich noch nicht wieder nach Osten verlagert, wenn man das so sagen kann. Sehen Sie eine Chance, dass die ursprüngliche Mitte Europas ihren kulturellen und wirtschaftlichen Einfluss in absehbarer Zeit zurückgewinnt?

Gräfin Dönhoff: Ich hoffe sehr. Natürlich ist das Zusammenwachsen unheimlich schwierig. Das haben wir uns eigentlich so nicht vorgestellt. Wir meinten, wenn die Mauer weg ist und alle diese Bestimmungen, dann wird alles wieder wie früher. Aber das ist natürlich nicht so.

Das wird sicherlich auch noch eine Zeit dauern, sicher noch ein bis zwei Generationen, bis in Ostdeutschland demokratisches Verständnis wieder da ist. Ich meine, man kann sich ja nicht vorstellen, dass eine Gesellschaft sich von einem Tag auf den anderen völlig umkrempelt vom sozialistischen System zum demokratischen System.

Gräfin Dönhoff: Wissen Sie, ich habe schon als junger Mensch immer gedacht, wenn ich vom Osten, von Ostpreußen, wo ich aufwuchs, nach Westen zu Verwandten fuhr, völlig andere Welt. Also die östliche Welt ist dieses preußische, etwas karger und asketisch, protestantisch, ländlich und im Westen industriell, städtisch, katholisch zum großen Teil. Also es waren eigentlich immer zwei Welten, und das auf allen Schichten, egal ob oben, unten oder in der Mitte. Und dazu nun vierzig Jahre Zugehörigkeit zu verschiedenen Allianzen, mit all den Schreckensbildern, die immer jeder vom anderen malte. Wir hatten in diesem Raum immer unsere kleine politische Konferenz und am 9. November '89 war die Mauer ja nun weg, und wir saßen hier, diskutierten kolossal, war ja nun sehr aufregend. Da kam Helmut Schmidt herein, der immer, wenn er hier ist, zu den Konferenzen kommt, und wie er so ist, sagt er gar nicht „Guten Morgen“, schmeißt sein Zeug auf den Tisch und sagt: „Jetzt muss der Kanzler eine Blut, Schweiß und Tränen Rede halten!“ Gemeint war die Winston Churchill Rede 1940. Helmut Schmidt meinte, dass wir den Gürtel enger schnallen müssen. Wenn Kohl das gemacht hätte, würde die Welt sehr anders aussehen. Und dann habe ich ihn gefragt: „Helmut, wie lange dauert denn das eigentlich, bis das ganze wieder zusammenwächst?“ Da sagte er: „Also wirtschaftlich, würde ich sagen, 10 bis 15 Jahre, psychologisch zwei Generationen.“ Und da dachte ich noch, da übertreibt er, aber er hat vollkommen Recht.

Dr. Assheuer: Eher untertrieben.

Gräfin Dönhoff: Es ist schlimmer geworden. Das Katastrophale für beide Seiten war, dass man die Währung einfach 1 zu 1 getauscht hat. Daraus resultieren sehr viele der Leiden, die wir heute kennen. Es gibt Fachleute, die meinen, 1 zu 4 hätte der Realität entsprochen. Die finanzielle Basis des Ganzen stimmte nicht. Das hat sehr viel ausgemacht, gar kein Zweifel.

Gab es in Ostdeutschland spezielle Qualitäten, die durch die Wiedervereinigung und das Übergewicht des Westens jetzt verschwunden sind?

Gräfin Dönhoff: Ich habe mal geschrieben – ich weiß nicht, ob ich es erfunden habe, aber es ist hier sehr angebracht –, dass Deutschland der Westen des Ostens und der Osten des Westens ist, und das ist es immer gewesen und wird es natürlich immer bleiben.

Dr. Assheuer: Das ist eine gute Formulierung, es leuchtet einem sofort ein. Aber ich will gerne noch mal an die Frage anschließen. Gibt es etwas in der Lebensform und in dem Lebensverständnis, was jetzt vom Westen überformt wird, etwas, was verloren geht, und zwar etwas, das nicht mit der DDR zusammenhängt? Gibt es etwas, was unweigerlich und unwiderruflich verlorengeht und wofür es im Westen keinen Ersatz gibt, also zum Beispiel Freundschaften?

Gräfin Dönhoff: Das ist natürlich so, dass die Ablenkungen jetzt da sind und Möglichkeiten zu denken, mein Ansehen hängt ab von Geld, vom Auto, das ich fahre. Das fiel ja eigentlich alles weg, darum war man viel konzentrierter auf Freundschaft, auf Kultur. Ich war neulich mal wieder in Polen und fand, dass unser Unwesen da jetzt auch anfängt.

Dr. Assheuer: Das hat ja Günter Grass gestern in seiner kleinen Rede in Polen auch gesagt. Ich weiß nicht genau, wo es war, ich glaube in Danzig, und da hat er genau dasselbe gesagt wie Die.

Gräfin Dönhoff: Ja, da gibt es keinen Zweifel, das ist ganz traurig.

Sie haben in einem Ihrer Bücher geschrieben, dass Marx, Einstein und Freud die Welt verändert haben. Warum gerade diese Menschen?

Gräfin Dönhoff: Ich denke, gerade diese drei haben die Welt verändert. Es gab doch über 150 Jahre keine Partei, die nicht entweder pro oder contra Marx war. Das hat sich heute geändert, aber das hat ja schon an seiner Vorstellung von der Gesellschaft gelegen. Er bekämpfte zwar den Kapitalismus, hat ihm aber sehr geholfen, indem er diese furchtbare Elendswirtschaft gebrandmarkt hat. Bei Einstein ist es klar, warum …

Dr. Assheuer: Und Freud hat dem Menschen klar gemacht, dass er nicht Herr im Hause seines Unterbewusstseins ist, das war schon ein Göttersturz mit größten Folgen, und dass es einen Teil in uns gibt, den wir nicht kontrollieren können und auf den wir keinen Einfluss haben.

Gräfin Dönhoff: Sie haben das Wort „Göttersturz" auf Freud gemünzt. Ich denke an das, was Sie gerade sagten. Religion ohne die Gewissheit, dass es eine höhere Macht gibt, lässt die Arroganz der Menschen ins Ungemessene wachsen.

Dr. Assheuer: Ich würde gerne noch mal etwas zur Religion und zur Unverfügbarkeit sagen. Was im Moment beunruhigend ist, ist die Genforschung, d. h. ihr Anspruch, den Mensch neu erfinden zu können, ihren Zugang zum genetischen Code zu nutzen, um in die Wesenssubstanz selbst einzudringen. Es ist im Moment noch utopisch, aber man rechnet, dass man in 100 Jahren wie aus dem Bilderbuch einen Menschen komponieren kann. Und das fundamental Neue daran ist, dass alle Religionen bislang davon ausgegangen sind, dass es einen Keim im Menschen gibt, der Schöpfung ist, über den kein Dritter zu bestimmen hat, also nicht die Gesellschaft. Und in dem Moment, wo man diesen Kern, ob man das jetzt das Unverfügbare nennt oder wie auch immer, manipulieren kann, fällt auch unsere Vorstellung von der Gleichheit aller Menschen vor Gott in sich zusammen. Dann sind nämlich nicht mehr alle gleich, sondern einige haben über andere bereits entschieden und verfügt. Und das finde ich fundamental neu, was jetzt im Moment sich abspielt. Damit fällt unsere Vorstellung von Schöpfung in sich zusammen.

Gräfin Dönhoff: Jaja, das würde ich auch so sehen.

Dr. Assheuer: Und die Verantwortlichkeiten würden auf verhängnisvolle Art neu sortiert werden. Dann werden nämlich die Kinder die Eltern dafür verantwortlich machen, dass sie grüne und nicht blaue Augen haben. Bislang kann man dafür nur den Zufall verantwortlich machen und damit wird ein Schuldverhältnis schon mit der ersten Stunde in die Welt kommen. Die Eltern werden sich immer fragen lassen müssen, warum sie so und nicht anders entschieden haben. Die Natur konnte man dafür nicht verantwortlich machen, da musste man die Tatsachen akzeptieren. Denken Sie doch mal an die Diskussion in den letzten Jahren. Die Naturwissenschaftler haben immer gesagt: „Wir werden niemals in die Keimbahn eingreifen, das ist unvorstellbar, wir können auch nicht klonen. Unvorstellbar kompliziert!“ Und innerhalb weniger Jahre ist das alles gemacht worden.

Gräfin Dönhoff: Sie hatten, als wir das Schreiben betrachteten, in dem wir um dieses Treffen gebeten wurden, eine Frage.

Dr. Assheuer: Ja, was heißt „Dritte Kultur" ?

Die Wissenschaftstage versuchen, eine Symbiose zwischen der naturwissenschaftlichen und der geisteswissenschaftlichen Kultur herzustellen. Man lädt Geisteswissenschaftler und Naturwissenschaftler ein, man lädt Wissenschaftler ein, die sich dazwischen bewegen. Man versucht, das „Auseinanderdriften" der beiden Wissenschaften, das man beobachtet hat, zu verhindern. Was man auch erreichen will, ist, dass Naturwissenschaftler sich bei ihrer Forschung wieder auf ethische Werte besinnen.

Gräfin Dönhoff: Ich glaube nicht, dass das möglich ist. Wenn er wirklich forscht …

Dr. Assheuer: … dann forscht er.

Man versucht eben, den Dialog zwischen Naturwissenschaftlern und Geisteswissenschaftlern anzuregen.

Dr. Assheuer: Eine Bemerkung möchte ich zur Vorstellung von der Dritten Kultur machen. Das ist ja etwas, was die Naturwissenschaftler lauter fordern als die Geisteswissenschaftler, und dagegen ist eigentlich nichts zu sagen. Nur was Geisteswissenschaftler fürchten, ist die „Naturalisierung" von moralischen Fragen, und das kann man in den Life-Style-Magazinen schon gut studieren. Da werden alle Lebenskrisen und Lebensfragen zurückgeführt auf biologische Determinismen. Da ist z. B. ein Vorstellungsgespräch zwischen Sekretärin und Chef und es geht nur darum, dass in der Natur ein Mensch innerhalb von drei Sekunden gescannt wird. Es gibt nur noch biologische Erklärungen, auch für moralische Konflikte, und es stört mich dabei die Vorstellung, dass Biologen alles erklären können. So, das musste ich einfach mal loswerden

Da habe ich neulich einen ganz interessanten Bericht gesehen über den ersten Eindruck eines Menschen, „impression management" genannt, glaube ich. Wie man z. B bei einem Vorstellungsgespräch eingreifen kann und wie man sich auch entfremden kann dadurch, dass man sich so präsentiert, wie man gar nicht ist.

Dr. Assheuer: Aber wie ist man?

Ja, aber ich meine, dass man schon manipulieren kann.

Glauben Sie, dass Kultur durch die Globalisierung vereinheitlicht wird?

Gräfin Dönhoff: Ja, das ist eine gute Frage. Ich habe früher, ehe das Wort Globalisierung da war, immer gedacht, wenn ich mal die Grenzen verwische, dann wird das Bedürfnis nach Vertrautem, Heimischem, das heißt nach Sprache, Religion oder was auch immer, stärker werden. Also das sind konkurrierende Kurven. Früher war es in Deutschland so, wenn der Vater bei Krupp war, war der Sohn da auch. Das war eine tolle Sache, da war man sehr froh, danach strebte man, sein ganzes Leben lang. Ja, und heute arbeiten die Krupp-Leute drei Monate in Südamerika, dann werden sie nach Polen geschickt. Es ist ein ganz anderes Leben. Es ist noch nicht so richtig zu sehen, glaube ich, aber ich würde denken, rein gefühlsmäßig, dass mit der Globalisierung auch die Stärkung des Nationalen in vernünftigem Maße einhergehen wird, weil man eben doch ein bisschen verloren ist im großen Netz. Was meinen Sie?

Dr. Assheuer: Ja, zumindest die Region wird auf Globalisierung antworten. Das muss nicht unbedingt die Nation sein. Ich sehe es an Nordrhein-Westfalen, da hat man oft mit den niederländischen Grenznachbarn mehr zu tun als mit den ostwestfälischen.

Gräfin Dönhoff: Ja, die Reaktionen der nationalen Regierungen sind sehr verschieden.

Dr. Assheuer: Ja, aber es ist ganz schwer, da haben Sie Recht, es ist ganz schwer vorherzusagen.

Gräfin Dönhoff: Was denkt ihr denn über die Maßnahmen, die die 14 Staaten, also die EU, Österreich gegenüber ergriffen haben? Ich weiß gar nicht, wo sie das Recht dazu hernehmen wollen, von außen den Wählern zu sagen, du darfst den wählen, aber den nicht! Heute lese ich, dass Belgien gesagt hat, eh die FPÖ nicht raus ist aus der Regierung, würden sie die Sanktionen nicht aufheben. Das ist doch wahnsinnig. Man kann doch nicht einem Nachbarland diktieren, was sie tun dürfen, wer regieren darf und wer wen wählen muss. Abgesehen davon, halte ich das für eine große politische Dummheit, denn es stärkt natürlich die Extremisten.

Ja, aber auch durch wirtschaftliche Sanktionen werden Extremisten gestärkt. Wenn ein Land wirtschaftlich nicht gerade gut steht, dann gibt es Wählerwanderungen zu den Extremisten, und das ist die Gefahr dabei.

Also, ich muss auch sagen, ich habe zu dem Zeitpunkt nicht ganz verstanden, warum sich das Ausland so stark da eingemischt hat. Das Volk hat gewählt, es war eine gerechte Wahl und sie werden ihren Grund gehabt haben, dass sie Herrn Haider gewählt haben. Da kann man nicht aus dem Ausland sagen: „Wie konntet ihr nur! Woher habt ihr euch das Recht genommen, diesen Mann zu wählen?“ Es war deren Recht und sie haben so entschieden. Es war eine demokratische Wahl, da haben wir überhaupt kein Recht, uns irgendwo einzumischen.

Gräfin Dönhoff: Nein, so ist es wohl. Wenn irgendwelche tollen Sachen vorgefallen wären, wenn diese Partei darauf gedrängt hätte, dass eine Maßnahme ergriffen wird wie die Wiedereinführung des Hakenkreuzes oder so etwas, dann hätte man vielleicht einen Anlass gehabt.

Dr. Assheuer: Aber es ging ja von europäischen Konservativen aus, besonders von Chirac, weil Chirac der Meinung war, dass es ein Sündenfall sei, wenn die bürgerlichen Konservativen mit den Rechtsradikalen zusammen gehen. Das darf nicht sein. Er selbst hat das vermieden und deswegen auch viele Wahlkreise verloren. Nun war er natürlich erzürnt darüber, dass Schüssel es macht. Ich würde auch sagen, es ist kein Zeichen von Demokratieverständnis, wenn man den Wähler im Nachhinein verschaukelt. Aber ich glaube, es war ein symbolischer Akt gegen die Koalition der Konservativen mit Haider. Dass dieses inzwischen kontraproduktiv ist, da haben Sie völlig Recht.

Das waren vielleicht die falschen Mittel für den richtigen Zweck.

Dr. Assheuer: Ich bin nicht der Meinung, aber das sind sie ja auch nicht, dass Europa hätte schweigen sollen zu der ersten Regierungsbeteiligung von Haider. Es musste ein Zeichen gesetzt werden. Aber das war, wie sich nun zeigt, das falsche Zeichen.

Gräfin Dönhoff: Ja, jemand hätte eine sehr erleuchtende philosophische Rede halten müssen.

Dr. Assheuer: Aber keine Sanktionen aussprechen. Ich meine, das ist doch bizarr, dass eine Koalition, bevor sie überhaupt ins Amt gelassen wird, schriftlich bezeugen muss, dass sie die Demokratie wahren wird.

Gräfin Dönhoff: Ich finde, dass es heute viele Dinge gibt, wo es schwerfällt sich zu entscheiden. Also zum Beispiel die Frage Kosovo. Da bringt ein Teil des Landes einen anderen Teil der Leute um, auf grausamste Weise, und man hat das Gefühl: Da kann man doch nicht zugucken, man muss doch irgendetwas machen, aber darf man eigentlich? Und nachher kommt raus, dass der Sich-Einmischende mindestens ebensoviel Schaden stiftete mit seinen Bomben. Ich finde, es gibt so ein paar Sachen, wo man sich wirklich fragt, wie man sich entscheiden soll.

Das ist, glaube ich, nur noch eine Herzensentscheidung. Das kann man schwer abwägen.

Gräfin Dönhoff: Nein, man kann keine Regeln aufstellen, da ist jeder Fall für sich zu betrachten.

War es denn früher einfacher zu entscheiden?

Gräfin Dönhoff: Ja, denn es gab nur das Staatsrecht, Souveränität musste geachtet werden, und die Frage des Menschenrechtes gab es eigentlich nicht, nur die des Völkerrechtes. Und auch bei den Menschenrechten in unserem Sinne ist man ja nur berechtigt einzugreifen, wenn die UN zustimmt. Bei der Nato ist das schon viel schwieriger. Früher stellte sich diese Frage jedenfalls gar nicht.

Ich glaube, was Österreich angeht, berührt die jetzige Situation auch das Problem der Aufgabe der nationalen Souveränität in einem vereinigten Europa. Die Staaten der europäischen Union scheuen sich ja immer noch davor, Teil einer wirklichen europäischen Föderation zu werden. Meiner Einschätzung nach traut man sich nicht wirklich, diesen letzten Schritt zu gehen. Und in dieser Föderation hätte es dieses Recht einzugreifen gegeben. Das ist jetzt ein so großes Problem oder ein so großer Streitpunkt, weil man sich ein Recht herausgenommen hat, das man vielleicht erst in Zukunft hat.

Dr. Assheuer: Wenn es eine legitime europäische Regierung gäbe, dann könnte sie legitimerweise intervenieren.

Gräfin Dönhoff, Herr Dr. Assheuer, wir danken Ihnen für das Gespräch.

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