Bernd Busemann
bei der Eröffnungsveranstaltung (Foto: Treblin)
Sehr geehrte Damen und Herren,
wenn ein Kultusminister die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Auricher Wissenschaftstage begrüßt – was seit ihrem Beginn zum ersten Mal der Fall ist –, dann muss er sein erstes Wort an die Schülerinnen und Schüler richten. Denn um sie geht es doch hier in erster Linie. Ihnen gilt letztlich auch meine Arbeit.
Begrüßen möchte ich deshalb zunächst Anna Eggers und Sven Neudeck – stellvertretend für die 100 Stipendiatinnen und Stipendiaten der beiden Schulen. Sie haben in diesem Jahr an archäologischen Ausgrabungen in Nitra in der Slowakei teilgenommen – eine Erfahrung, von der sie hier ja noch berichten werden.
Als nächstes gilt mein Gruß den Lehrerinnen und Lehrern, die sich mit außergewöhnlichem Engagement für die Wissenschaftstage einsetzen – stellvertretend für sie nenne ich das Organisationsteam: Herrn Antony, Herrn Stracke und Herrn Völckner.
Meine Damen und Herren aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft! Ohne Sie wäre diese Veranstaltung nicht denkbar! Aber ich bin sicher, Sie werden es verzeihen, dass Sie erst jetzt vorkommen. Seien Sie herzlich begrüßt in dieser Stadt. Inmitten der typisch ostfriesischen Landschaft hat sie einen ganz besonderen Charme, der Sie gefangen nehmen wird. Hier liegen Altes und Neues direkt nebeneinander. Sie bemüht sich ganz besonders um ihre Heranwachsenden.
Frau Bürgermeisterin Griesel, die ich an dieser Stelle auch gern begrüße, hat da mit ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eine gute Idee entwickelt: Die Kinder- und Jugendarbeit soll zu den Kindern und Jugendlichen nach Hause gehen, statt zu warten, bis sie kommen. Man verspricht sich davon, dass ihre Bereitschaft, sich zu beteiligen und zu engagieren, größer wird. Ich glaube, dass das gelingen kann und wünsche Ihrem Vorhaben viel Erfolg.
Auch hier trifft das gern gebrauchte Bild: „It takes a village to raise a child“. Es steht für die gemeinsame Verantwortung der Gesellschaft für die Bildung und Erziehung der heranwachsenden Generation. Sie alle, die Sie die Kultur des Dialogs zwischen Natur- und Geisteswissenschaften in die Schulen tragen, sind sich dieser Verantwortung bewusst. Sie begleiten junge Menschen in eine für sie neue Welt und geben ihnen den Schlüssel in die Hand, sie sich zu erobern. Aurich ist zum Mittelpunkt eines Netzes von Universitäten, Instituten und Forschungszentren geworden, das sich über die ganze Republik spannt und über die Grenzen hinaus in der Schweiz, in Sibirien und der Slowakei seine Fixpunkte hat.
Damit haben Sie in Aurich eine nachahmenswerte Institution geschaffen, die weit über die Region hinaus Bedeutung gewonnen hat. Nicht umsonst ist es so schwer, an Karten zu kommen – da hatte ich heute Glück. Wissenschaftler stellen hier ihre verschiedenen Disziplinen vor – aus den Naturwissenschaften, aus Philosophie, Psychologie und Kunstgeschichte, aus der Wirtschaftswissenschaft und der Mathematik und dies wird eingerahmt durch Einblicke in die Literatur. Wer könnte dem widerstehen, wenn er die Neugier noch nicht verloren hat?
Aber die Auricher Wissenschaftstage sind ja immer nur ein vorläufiger Schlusspunkt der Aktivitäten eines Jahres. Es ist nicht überall selbstverständlich, dass eine berufsbildende Schule und ein Gymnasium ein gemeinsames Profil entwickeln. Sie arbeiten über einen langen Zeitraum intensiv zusammen an einem Ziel: ihren Schülerinnen und Schülern die bestmögliche Förderung ihrer Interessen zu bieten – die eigene reflektierte Erfahrung. Was wiederum bestätigt, dass Bildung Sich-Bilden meint.
Bildung findet doch immer dann statt, wenn sich das Individuum einer Schwierigkeit stellt – auch, wenn diese eben nicht überwunden wird. Gerade das Erleben und Akzeptieren solcher Grenzen bildet. Schule kann – wenn sie sich aus ihrer Insel herauswagt – dazu ein Übungsfeld sein. Jenseits aller formalen Bildungsgänge und außerhalb von Schule gibt es zahlreiche andere Lernorte: Orte, an denen Schülerinnen und Schüler Erfahrungswissen gewinnen; Orte, an dem sich ihre Talente und Grundeinstellungen herausbilden – kurz an denen ihre Persönlichkeit gebildet wird. Die Institutionen, die den Auricher Schülerinnen und Schülern Praktika anbieten, sind solche Lernorte. Sie können um so wirksamer werden, je intensiver Lehrerinnen und Lehrer teilhaben an diesem Lernen, wie es in Ihrem Konzept vorgesehen ist. Das muss auch für sie spannend sein. Sie begegnen nicht nur neuen Erkenntnissen, sondern erleben auch ihre Schülerinnen und Schüler auf neue Weise.
Wir alle haben erfahren, wie weit die Wege vom Staunen zum Verstehen und Wissen schließlich zum Können sind. Aber der erste Schritt ist das Staunen über zunächst unbegreifliche Phänomene. Ihm muss Raum gegeben werden, damit die Neugier auf Neues entstehen kann. Das macht dann die Anstrengung des Verstehen-Lernens leichter und hilft, mit der Enttäuschung über Irrwege umzugehen. Denn wenn auch die Lösung das Ziel ist, darf doch der Fehler nicht diskriminiert werden. Er ist eine Chance im Lernprozess.
Aber es geht nicht nur um Wissen und Können, wenn die jungen Menschen in den verschiedenen Institutionen tätig sind. Die Stipendiatinnen und Stipendiaten erfahren, dass sie mit nützlicher Arbeit zu einer Sache beitragen. Das schärft den Blick für das Wesentliche. Den Wissenschaftler-Teams zugeordnet lernen sie, sich in Arbeitsprozesse einzufügen, ihre Interessen mit denen anderer abzugleichen und Verantwortung zu übernehmen. Teamarbeit ist ein Mannschaftsspiel – angewiesen auf das Engagement der Einzelnen auf dem Weg zu einem gemeinsamen Ziel. Erfolge und Misserfolge sind dann nicht mehr nur individuelle, sondern gemeinsame. Auf dem Spielfeld Schule sieht es manchmal noch so aus, als gäbe es entgegengesetzte Interessen verschiedener Mannschaften. Aber Schülerinnen und Schüler werden immer nur gemeinsam mit ihren Lehrerinnen und Lehrern das Ziel erreichen. Und sie sind dafür auch nicht alleine verantwortlich. Den Geist der Teamarbeit werden die Stipendiaten mit in die Schule nehmen. Und er wird ansteckend wirken.
Das Praktikum ist eben etwas anderes als Schule. Getrennt von ihren gewohnten Bezügen müssen sie ihr Leben selbst regeln. Da sage noch einer, unsere Jugend sei nicht genügend flexibel und wolle die Verantwortung für ihr Tun nicht übernehmen.
Meine Damen und Herren, Sie werden in den nächsten Wochen viele Facetten von Wissenschaft erleben. Die Naturwissenschaft ist ja nicht nur in Niedersachen immer noch kein Hit auf der Wunschliste unserer Schülerinnen und Schüler. Diese Distanz ist nicht aufzuheben durch ein bloßes Mehr vom Gleichen – mehr Unterrichtsstunden meine ich. Aber aus diesem Mehr kann eine neue Chance zum Verstehen wissenschaftlicher Prinzipien erwachsen. Deshalb ist es wichtig, gerade den naturwissenschaftlichen Unterricht zu stärken. Und wenn uns dazu Menschen ihre Kompetenzen anbieten, die keine Lehrerinnen und Lehrer sind, sollten wir uns darüber freuen. Sie bringen einen anderen Geist in die Schulen. Und ich bin zuversichtlich, dass es den Schülerinnen und Schülern gut tut, die Welt mit ihrer spannenden Vielfalt in die Schule zu holen. Und das gilt natürlich gleichermaßen für die Geistes- wie die Naturwissenschaften.
Aber auch das zeigen die Auricher Bemühungen: Die alltäglichen Veränderungen unserer Lebenswelt nehmen wir in der Regel hin, ohne sie zu hinterfragen. Wir akzeptieren das Morgen als kaum noch vorhersehbar und richten uns mit oft nur scheinbar hilfreichen Strukturen in der Undurchschaubarkeit ein. Die Frage nach dem Warum?, Woher? und Wohin? überlassen wir den Wissenschaften. Und wir haben uns daran gewöhnt, vor allem ihre Sprache – und oft auch ihre Warnungen – als unverständlich abzutun. Dieser Verständnislosigkeit entgegenzuwirken, ist ein Anliegen des Auricher Projekts. Hier wird zwischen und mit den verschiedenen Disziplinen gesprochen.
Unsere Schulen sind ja längst keine Inseln mehr – auch wenn mancher den Verlust des Schonraums bedauern mag. Sie haben oft schon ihre Türen weit geöffnet und sich den Anforderungen von draußen gestellt. Darin will ich sie bestärken. Wenn sie dann noch für ihre guten Konzepte solche Förderer finden wie hier in Aurich, können Stadt und Landkreis stolz sein auf ihre Schulen. Nicht zuletzt ist ja auch die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses ein Standortfaktor, der nicht zu unterschätzen ist. Im letzten Jahr haben 42 % der Oberstufenschülerinnen und -schüler in Aurich die Leistungskurse Chemie und Physik gewählt. Eine weitere großartige Bestätigung des Konzeptes ist es auch, dass die Mädchen von den 100 Stipendiatenplätzen 60 % einnehmen!
Zwei Anlässe, meine Damen und Herren, bieten mir die diesjährigen Wissenschaftstage, den Wert geschichtlicher Erfahrung anzusprechen. Das wird einmal Ihr Vortrag sein, verehrtes Ehepaar Jens. Ihre Betrachtung des Lebens von Katja Mann als Ehefrau des großen Schriftstellers ist auch ein gelebtes Spiegelbild der jüngeren deutschen Geschichte.
Aber lassen Sie mich noch einmal auf unsere jungen Archäologen zu sprechen kommen. Hat es sie unberührt gelassen, so tief in die Geschichte der Menschheit vorzustoßen? Haben sie nicht nur neue Kompetenzen erworben, sondern auch gespürt, was es heißt, dass wir einer auf den Schultern des anderen stehen? Und dass das Wissen über Vergangenes hilft, die Strukturen von heute zu entschlüsseln? Weit hergeholt? Weil die Menschen der Bronzezeit Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung ihre Produkte hergestellt haben? Ich bin zuversichtlich, dass das Ausgraben dieser Zeitzeugnisse Spuren nicht nur an ihren Händen hinterlassen hat.
Vielleicht sind sie und ihre Kolleginnen und Kollegen, die ihre Praktika in Labors oder auch in der Zeitungsredaktion verbracht haben, zu Fragestellern statt zu Antwortgebern geworden. Das wären dann Spuren, die sich hoffentlich nicht abwaschen lassen.