Um 7:30 Uhr Ortszeit, sieben Zeitzonen weiter östlich als Deutschland erreichten wir Irkutsk, eine Stadt mit 640.000 Einwohnern in der Nähe des Baikalsees. Sie wurde 1661 gegründet und gilt als die schönste Stadt Sibiriens. Hier verproviantierten wir uns auch mit Kwas, einem für Russland typischen Getränk aus Wasser, Hefe, Zwieback und Zucker. Es schmeckt wie eine Mischung aus Malzbier und Sherry.
Gegen Mittag gelangen wir zum südwestlichen Ufer des Baikalsees. Er ist einer der ältesten und größten Seen der Erde und mit 1.635 Metern das tiefste Süßwasserbecken weltweit. In den Baikalsee passt die Wassermenge der Ostsee zweimal hinein. 336 Flüssen speisen ihn und er hat nur einen Abfluss. Allein um das Südwestufer zu passieren brauchen wir mit dem Zug mehrere Stunden.
Der Baikalsee ist einer der ältesten und größten Seen der Welt
An der Haltestelle des Fischerortes Sludjanka versuchen wir, geräucherten Fisch zu kaufen, was sich aufgrund des Überangebots allerdings schwieriger gestaltet als erwartet. Schon beim Aussteigen werden wir von einer Schar Frauen umlagert, die alle versuchen, uns ihren Fisch zu verkaufen. Schließlich erstehen wir zwei Exemplare – eine Zug-Mahlzeit für uns und eine Katze, die sich von dem köstlichen Fisch äußerst angezogen fühlt. Wir jedenfalls sind froh über die kulinarische Abwechslung, die in den letzten Tagen nur aus Brot und Tütensuppen bestand. Schon bereuen wir, nur zwei Fische gekauft zu haben. Herr Stracke nutzt die Chance beim nächsten Zug-Halt und kauft nochmal vier Fische.
Dies ließ sich selbst Herr Freudenberg nicht entgehen und brach für dieses Mahl seinen Schönheitsschlaf ab. Herr Völckner verschwand mit seinen beiden Fischen in seinem Abteil und wurde längere Zeit nicht mehr gesehen.
Nachdem wir den Baikalsee verlassen haben, verändert sich die Landschaft spürbar: Die Transsibirische Eisenbahn fährt beständig bergauf und wir erreichen Hochebenen, die von imposanten Gebirgsketten eingerahmt werden. Dies macht sich auch klimatisch bemerkbar: Auf die angenehmen Temperaturen am Baikalsee folgt eine drückende Hitze, die durch das kontinentale Klima hervorgerufen wird. Wir schwitzen erheblich und unsere Gespräche kreisen bald nur noch um kalte Duschen und kalte Getränke.
Bei dem köstlichen Fisch und dem leckeren Kwas, das an Malzbier erinnert, lässt es sich gut arbeiten
Apropos Duschen: Der Versuch, in der Transsibirischen Eisenbahn zu duschen, kommt einem Abenteurer gleich. Das Problem ist: Es gibt in fast allen Zügen keine Duschen. Und die wenigen Duschen, die es gibt, sind nur in unseren Wunschvorstellungen Duschen. „Dusche" heißt eine ein Quadratmeter kleine Toilette mit einem Waschbecken. Das zusätzliche Handicap: Um aus dem Wasserhahn am Waschbecken Wasser zu bekommen, muss man einen kleinen Stift dauerhaft drücken. Ökologisch sinnvoll macht es jeden Wasch-Versuch zur Tour de Force: man hat halt immer nur eine Hand zur Verfügung, die andere drückt für das Wasser. Ein Schlauch, geschweige denn ein Brausekopf, ist ebenfalls nicht vorhanden, was uns jedoch nicht vom Duschen abhält.
Kurzerhand bauen wir uns unsere „Dusche" selbst – mit einer getunten 2-Liter Flasche, in deren Deckel wir viele kleine Löcher bohren. Der Dusch-Ablauf gestaltet sich dann folgendermaßen: Vor der Tür wartet einer unserer Mitschüler und nimmt die Kleidung entgegen (damit wir diese nicht versehentlich auch noch unter Wasser setzen). Und an den Füßen tragen wir Plastiktüten, die wir oben mit Gummibändern verschließen. Dies schützt uns vor dem äußerst unhygienischen Boden.
Gesäubert und abgekühlt können wir nun wieder die vorbeiziehende Landschaft bewundern. Besonders Birken und Lärchen fallen auf, die in Wäldern oder vereinzelt in der Waldsteppe stehen. Dabei werden die Bestände maßgeblich von der Lage beeinflusst: Manche Hänge sind vollkommen baumlos, während andere von dichtem Wald bedeckt sind. Die Flüsse sind auffällig flach und klar. Vielfach sehen wir Goldwäscher in den Flüssen ihr Glück versuchen.
Pünktliche Ankunft in Neryungri. Dort wird im Tagebergbau Steinkohle gefördert
Am frühen Nachmittag erreichen wir die Großstadt Ulan-Ude, das im 17. Jahrhundert gegründete Zentrum Ostsibiriens. Wir haben noch genügend Zeit, um den Bahnhof zu erkunden. An schnell aufgebauten privaten Verkaufsstände werden unterschiedlich gefüllte Piroggen, Eier und Gemüse verkauft. Diese Form des privaten Verkaufes war in der Sowjetunion längere Zeit untersagt.
Neben den Russen sehen wir nun vermehrt Menschen mongolischer Abstammung. In Ulan-Ude fällt die starke Vermüllung auf, und das selbst in dieser spärlich besiedelten Region. Stark verschmutzt ist auch die Selenga, ein Fluss, der in den Baikalsee mündete. Viele leerstehende und verfallene Fabriken an der Bahnlinie trüben das Bild. Gründe: Veraltete Technik, fehlende Investitionen und der schwache regionale Markt – typische Übergangsprobleme auf dem Weg von der Plan- zur Marktwirtschaft.
Außerhalb der Städte begegneten wir fast nur Dörfern, die durch Schotterwege miteinander verbunden sind, da Asphalt die extremen Temperaturunterschiede nicht übersteht.
Am Schluss erleben wir eine kleine Sensation: Mit einer Pünktlichkeit, von der die Deutsche Bahn nur träumen kann, rollt die Transsibirische Eisenbahn nach über 8.000 Kilometern auf die Minute genau am Mittwoch, den 14.07.2004 – nach Moskauer Ortszeit versteht sich – in Neryungri ein, unsere Endstation im Aldan-Hochland. Nur noch 800 km Schotterpiste trennen uns jetzt von unserem Zielort Jakutsk.